Sozialgericht Osnabrück
v. 22.05.2017, Az.: S 32 SB 563/15
Neuermittlung des Grades der Behinderung (GdB) unter Berücksichtigung der verschiedenen aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen (hier: Sehminderung)
Bibliographie
- Gericht
- SG Osnabrück
- Datum
- 22.05.2017
- Aktenzeichen
- S 32 SB 563/15
- Entscheidungsform
- Gerichtsbescheid
- Referenz
- WKRS 2017, 39534
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
- § 69 Abs. 1 S. 1, 5 SGB IX
Tenor:
- 1.
Die Klage wird abgewiesen.
- 2.
Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung seines Grades der Behinderung (GdB) von 70 auf 40 ab dem 02.05.2014 sowie den Wegfall der Merkzeichen G, B und RF ebenfalls ab dem 02.05.2014. Bei dem 1997 geborenen Kläger wurde mit Bescheid vom 15.06.2010 ab dem 22.04.2010 ein GdB von 70 sowie das Vorliegen der Merkzeichen G, B und RF festgestellt. Die Entscheidung stützte sich auf folgende Funktionsbeeinträchtigung: Sehminderung beidseits. Im Juni 2013 forderte der Beklagte einen Befundbericht des den Kläger behandelnden Augenarztes Dr. B. an. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 19.08.2013 bemaß Dr. C. den GdB mit 20. es sei eine Besserung des Seevermögens von 0,1 beidseits auf 0,6 beidseits belegt. Auf Nachfrage teilte die Familie des Klägers mit, dass der Kläger die 10. Klasse der Hauptschule besuche und voraussichtlich nächstes Jahr den Realschulabschluss mache. Eine Operation sei nicht erfolgt und auch nicht geplant. Mit Schreiben vom 19.09.2013 hörte der Beklagte den Kläger zu dem beabsichtigten Erlass eines Herabsetzungsbescheides an. Dem augenärztlichen Bericht zufolge habe sich die Sehbehinderung beidseits wesentlich gebessert. Der GdB solle für die Zukunft auf 20 herabgesetzt werden, die Merkzeichen G, B und RF sollten entzogen werden. Aufgrund telefonisch vorgetragener Einwände des Klägers forderte der Beklagte weitere Unterlagen über die augenärztlichen Untersuchungen des Klägers an. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 27.11.2013 führte Dr. D. aus, dass die orientierende Gesichtsfelduntersuchung vom Juni 2013 keine wesentliche Einengung zeige. Es bleibe daher bei dem GdB von 20. Mit Anhörung vom 29.11.2013 hörte der Beklagte den Kläger zu der weiterhin beabsichtigten Herabsetzung des GdB und dem Entzug der Merkzeichen an. Der Beklagte forderte aufgrund weiterer telefonisch vorgetragener Einwände des Klägers einen Bericht über die augenärztliche Behandlung des Klägers bei Dr. E., A-Stadt, an. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme führte Dr. D. aus, dass auch bei einem Visus von 0,4 beidseits sich ein GdB von 20 ergebe. Nach der dritten Anhörung vom 18.02.2014 erließ der Beklagte am 03.04.2014 einen Bescheid, mit welchem er den Bescheid vom 15.06.2010 insoweit aufhob, als der Anspruch entsprechend der eingetretenen Änderung neu festgestellt wurde. Ab dem 02.05.2014 betrage
der GdB 20. Die bisher festgestellten Merkzeichen G, B und RF entfielen mit Wirkung vom 02.05.2014. Zur Begründung wiederholte die Beklagte die Ausführungen aus den Anhörungen. Hiergegen erhob der Kläger - vertreten durch seine Verfahrensbevollmächtigte - am 08.05.2014 Widerspruch. Der Bescheid sei schon wegen formaler Mängel aufzuheben. Es mangele an einer ordnungsgemäßen Begutachtung. Darüber hinaus sei bedenklich, dass überhaupt eine Überprüfung vorgenommen worden sei, denn eine Besserung des Krankheitsbildes sei kaum zu erwarten gewesen und liege auch nicht vor. Im Auftrag des Beklagten erstattete der Facharzt für Augenheilkunde, Dr. F., am 06.10.2014 ein augenfachärztliches Gutachten. Es bestehe auf beiden Augen eine mittlere bis höhere Kurzsichtigkeit, ein fehlendes Stereosehen sowie eine subjektiv angegebene Gesichtsfeldeinschränkung. Mit der maximal festgestellten Sehschärfe von rechts 0,4 und links 0,5 betrage der GdB 10. Die angegebenen Gesichtsfeldeinschränkungen erhöhten den GdB auf 35, wobei Zweifel an den Gesichtsfeldaußengrenzen beständen. Dr. F. ging von keinen relevanten Gesichtsfelddefekten aus. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme 14.10.2014 bemaß Dr. G. den GdB mit 10. Eine wesentliche Besserung sei festgestellt worden. Dr. F. schlug in seinem Gutachten ein ERG vor, welches der Beklagte einholte. In einer augenärztlichen Stellungnahme vom 27.07.2015 führte Dr. F. aus, dass der GdB mit 35 vom 100 zu bemessen sei. Das Ergebnis der Untersuchung spreche in eindeutiger Weise für das Vorliegen einer Flächenerkrankung der Netzhaut. Unter Kenntnis des Befundes seien die von dem Kläger angegebenen Gesichtsfelddefekte als objektiviert anzusehen. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 04.08.2015 bemaß Dr. H. die Sehminderung beidseits mit einem GdB von 40. Nach weiterer Anhörung erließ der Beklagte am 28.09.2015 einen Teilabhilfebescheid, mit welchem er den GdB ab dem 01.10.2015 auf 40 herabsetzte. Es bestehe eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit. Die Entscheidung stützte sich auf folgende Funktionsbeeinträchtigung: Sehminderung beidseits. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.11.2015 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 03.04.2014 sowie den Teilabhilfebescheid vom 28.09.2015 zurück. Art und Umfang der Funktionsbeeinträchtigungen rechtfertigen keinen GdB von wenigstens 50.
Mit der am 01.12.2015 vor dem Sozialgericht Osnabrück erhobenen Klage verfolgt der Kläger - vertreten durch seine Prozessbevollmächtigte - sein Begehren weiter. Zu einer wesentlichen Besserung sei es nicht gekommen. Der Kläger sei immer mit unterschiedlichen Untersuchungsmethoden untersucht worden. Das Gutachten des Prof. Dr. Dr. C. bestätige die Einschätzung des Klägers. Denn der Arzt vermute, dass der Kläger möglicherweise nicht exakt verstanden habe, worum es bei der Untersuchung gegangen sei. Die Verbesserung liege in der jetzt subjektiv und objektiv fassbaren Sehschärfe sowie in der Gesichtsfelduntersuchung. Der Gutachter sage damit aus, dass die Sehschärfe und Gesichtsfelduntersuchung früher nicht erfassbar gewesen seien. Worin dann die Verbesserung (und ob tatsächlich eine Verbesserung vorliegt) liege, lasse sich dem Gutachten nicht entnehmen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 03.04.2014 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 28.09.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.11.2015 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht er sich auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid sowie die während des gerichtlichen Verfahrens eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahmen. Der Visus habe sich seit dem Jahr 2010 wesentlich verbessert. Aus den vorliegenden Befunden lasse sich die konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung nicht erklären. Das Gericht hat im vorbereitenden Verfahren einen Befundbericht von dem den Kläger behandelnden Arzt Dr. D. eingeholt. Auf den erstatteten Befundbericht wird Bezug genommen. Das Gericht hat darüber hinaus gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein augenfachärztliches Gutachten durch den Facharzt für Augenheilkunde Prof. Dr. Dr. C. eingeholt. Auf das am 19.12.2016 erstattete Gutachten wird Bezug genommen. Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 16.02.2017 zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört worden (§ 105 Abs. 1 SGG).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe
Gemäß § 105 SGG konnte das Gericht im vorliegenden Fall ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten vor Erlass ordnungsgemäß gehört wurden. Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Sie ist jedoch unbegründet. Denn der Bescheid des Beklagten vom 03.04.2014 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 28.09.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.11.2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die weitere Feststellung eines GdB von 70 sowie die weitere Feststellung der Merkzeichen G, B, und RF. Gegenstand des Rechtsstreits ist eine isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 1. Fall SGG. Der angefochtene Bescheid ist formell rechtmäßig. Insbesondere ist die nach § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erforderliche Anhörung zu der beabsichtigten Herabsetzung des GdB erfolgt. Rechtsgrundlage für den mit der Klage angefochtenen Bescheid ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Bescheid über die Feststellung des GdB u. a. dann aufzuheben, wenn in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der GdB ist dann entsprechend der geänderten Sachlage neu festzustellen. Eine wesentliche Änderung kann sowohl darin bestehen, dass Funktionseinschränkungen hinzugetreten bzw. weggefallen sind, als auch darin, dass sich die Funktionseinschränkungen derart verschlimmert bzw. verbessert haben, dass sie mit einem anderen GdB zu bewerten sind. Ob eine wesentliche Änderung in diesem Sinne eingetreten ist, muss im Rahmen einer gegen den Herabsetzungsbescheid gerichteten Anfechtungsklage durch einen Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des letzten bindend gewordenen Bescheides mit denjenigen zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des Beklagten erfolgen. Bei einer derartigen Neufeststellung handelt es sich nicht um eine reine Fortschreibung des im letzten maßgeblichen Bescheid festgestellten GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der verschiedenen aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 19.09.2000, Aktenzeichen B 9 SB 3/00 R). Maßgebliche Bestimmung für die Feststellung des GdB ist § 69 SGB IX. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Bei der Einzel- und Gesamtbeurteilung des GdB orientiert sich die Kammer an der gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX durch die Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des BVG erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) und den darin enthaltenen versorgungsmedizinischen Grundsätzen. Nach den Bestimmungen der versorgungsmedizinischen Verordnung sind ausgehend von einzelnen Gesundheitsstörungen Einzel-GdB-Werte für Funktionssysteme zu bilden. Für die Bildung des Gesamt-GdB ist von dem Funktionssystem mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und dann für die weiteren beeinträchtigten Funktionssysteme jeweils zu prüfen, ob und inwieweit eine Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbehinderung eintritt und damit eine Erhöhung des Gesamt-GdB gerechtfertigt ist. Unter Beachtung dieser Vorgaben steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass im Gesundheitszustand des Klägers im Vergleich zu den gesundheitlichen Verhältnissen, die dem Bescheid vom 15.06.2010 zu Grunde gelegen haben, eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten ist. Die bei dem Kläger weiterhin bestehende Sehminderung beidseits hat sich im Hinblick auf die daraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen wesentlich objektivierbar gebessert. Die noch bei dem Kläger bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen auf augenärztlichem Fachgebiet sind mit einem GdB von 40 zutreffend bewertet worden. Das Gericht folgt den schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen des Prof. Dr. Dr. C ... Dieser hat nachvollziehbar ausgeführt, dass es zu einer Verbesserung in der subjektiv und besonders objektiv fassbaren Sehschärfe sowie in der Gesichtsfelduntersuchung gekommen ist. Der Sachverständige konnte das Ergebnis seiner Untersuchung durch objektivierungsbare Messmethoden belegen. Nachvollziehbar und unter Beachtung von VMG Teil B 4.3 und 4.5 kommt Prof. Dr. Dr. C. zu einem GdB von 20 für die Sehschärfenminderung sowie 20 für die Einschränkung des Gesichtsfelds. Mit dem GdB von 40 liegen die Voraussetzungen für die begehrten Merkzeichen G, B und RF nicht mehr vor. Darüber hinaus hat aber auch Prof. Dr. Dr. C. ausgeführt, dass das Ausmaß der Sehbehinderung keine Einschränkungen bedingt, welche die Vergabe der Merkzeichen erforderlich machen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.