Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 25.10.2017, Az.: S 34 KR 347/16

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
25.10.2017
Aktenzeichen
S 34 KR 347/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 25944
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 6. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2016 verurteilt, an die Klägerin Krankengeld über den 29. März 2016 hinaus zu zahlen. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin verlangt Krankengeld über den 29. März 2016 hinaus. Die Klägerin war seit dem 1. November 2013 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Seit dem 10. September 2015 erhielt die Klägerin Krankengeld wegen der Diagnose M22.2 (Krankheiten im Patellofemoralbereich) sowie Z48.8 (Sonstige näher bezeichnete Nachbehandlung nach chirurgischem Eingriff). Die Beklagte hatte mit Schreiben vom 8. September 2015 Hinweise zur Zahlung des Krankengeldes gegeben, insbesondere zur Lückenlosigkeit der Feststellungen der Arbeitsunfähigkeit. Zum 30. September 2015 wurde das Arbeitsverhältnis beendet. Mit Zahlschein vom 22. März 2016 stellte Dr. D. die Arbeitsunfähigkeit aufgrund der Diagnose S92.9 (Fraktur des Fußes, nicht näher bezeichnet) fest, und zwar bis zum 29. März 2016. Die Klägerin war infolge dieser Erkrankung nur eingeschränkt wegefähig, auch das Fahren mit einem Kraftfahrzeug war ihr nicht möglich. Die Klägerin wohnt in einer ländlich strukturierten Gegend, mit einem eingeschränkten Angebot an öffentlichem Nahverkehr. Die Klägerin stellte sich am 29. März 2016 bei Dr. E. vor. Dieser stellte jedoch keinen Zahlschein aus. Die Klägerin stellte sich am 31. März 2016 bei Dr. D. vor, die die Arbeitsunfähigkeit wegen der Diagnose S92.9 bis zum 29. April 2016 feststellte. Dr. E. stellte unter dem 28. April 2016 einen Zahlschein vom 29. bis zum 30. März 2016 aus. Weiterhin liegen in der Akte Zahlscheine vor für die Zeiten 29. April bis 13. Mai, 13. Mai bis 20. Mai, 20. Mai bis 3. Juni (Freitag), 6. Juni (Montag) bis 17. Juni (Freitag), 20. Juni (Montag) bis 25. Juni, 27. Juni (Montag) bis 1. Juli, 30. Juni bis 8. Juli 2016. Mit Bescheid vom 6. Mai 2016 lehnte die Beklagte die Zahlung von Krankengeld über den 29. März 2016 hinaus ab. Es liege eine Lücke vor, weil die folgende Feststellung erst am 31. Mai erfolgt sei und nicht am 30. Mai. Die Klägerin meldete sich sodann zur Familienversicherung durch den Ehemann bei einer anderen Krankenversicherung. Gegen den Bescheid vom 6. Mai 2016 legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie machte geltend, dass Dr. E. bei der Untersuchung eine Arbeitsunfähigkeit festgestellt habe, diese jedoch erst später bescheinigt worden sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 2016 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Ein Anspruch auf Krankengeld bestehe nicht. Eine Mitgliedschaft, die den Anspruch vermitteln könnte, sei nicht durch den Bezug von Krankengeld verlängert. Hierfür hätte die Feststellung am 30. Mai 2016 erfolgen müssen. Fehlverhalten der Ärzte bzw. unzutreffende Ratschläge würden nicht zu Ansprüchen gegen Krankenkassen führen. Die Klägerin hat am 23. Juni 2016 Klage erhoben. Sie trägt vor: Sie habe am 30. Mai eigentlich einen Termin bei Dr. D. gehabt, diesen aber verschieben müssen. Maßgeblich sei die ärztliche Feststellung, nicht die Bescheinigung. Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses ändere nichts an den Anspruchsvoraussetzungen. Die Klägerin habe alles ihr zumutbare getan, um den Anspruch zu sichern. Weiterhin wird Bezug genommen auf ihren persönlichen Vortrag im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 25. Oktober 2017.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 6. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2016 zu verurteilen, an die Klägerin Krankengeld über den 29. März 2016 hinaus zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die nimmt Bezug auf die Rechtsprechung des ersten Senats und verweist auf das Missbrauchspotenzial. Die Kammer hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet. Der angegriffene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat nach §§ 44. ff. SGB V einen Anspruch auf Krankengeld über den 29. März 2016 hinaus. Die Klägerin war als Arbeitnehmerin mit einem Anspruch auf Krankengeld versichert (§ 44 Abs. 1 SGB V i. V. m. § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Die zwischenzeitliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses ändert für den Krankengeldanspruch nichts. Denn die einen Anspruch vermittelnde Mitgliedschaft wurde durch fortlaufende Feststellung von Arbeitsunfähigkeit im Sinne von § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V i. V. m. § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V verlängert. Die Verlängerungen bis einschließlich 29. März 2016 sind unstreitig. Auch über den 29. März 2016 ist durch die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit am 31. März 2016 Lückenlosigkeit gewahrt: Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich nicht durch die nach außen zunächst nicht dokumentierte Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bei Dr. E. eine Feststellung im Sinne des § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, an die auch der 3. Senat in seiner jüngsten Entscheidung zum Krankengeld festgehalten hat, muss die Feststellung auf Außenwirkung gerichtet sein und eine interne Feststellung bei Dr. E., wenn es sie überhaupt gegeben hat, genügt nicht (vgl. BSG, Urteil vom 22. Mai 2017, Az.: B 3 KR 22/15 R, [...], Rn. 18). Die später durch Dr. E. ausgestellte Bescheinigung genügt nicht den Anforderungen, die das BSG formuliert hat (zusammengefasst: BSG, a. a. O., Rn. 34). Die Anforderungen für eine rückwirkende Feststellung der Arbeitsunfähigkeit sind schon nicht erfüllt, weil Dr. E. gar nicht aufgesucht wurde, um einen Zahlschein zu erhalten (Voraussetzung 1 a bei BSG, a. a. O., Rn. 34). Nach dem Vortrag der Klägerin, der durch die in der Verwaltungsakte enthaltenen Zahlscheine bestätigt ist, erfolgte die Ausstellung von Zahlscheinen ausschließlich durch Dr. D ... Dieses Vorgehen war mit Dr. E. und Dr. D. abgesprochen. Im Übrigen ist der Zahlschein von Dr. E. erst Ende April ausgestellt worden, und damit kaum in der Frist des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V (Voraussetzung 3 bei BSG, a. a. O., Rn. 34). Die engen Fallgruppen nach der bisherigen Rechtsprechung des ersten Senats sind ebenfalls nicht erfüllt. Weder war die Klägerin handlungs- oder geschäftsunfähig, wurde zu Unrecht Arbeitsfähigkeit festgestellt noch lag ein unmittelbar der Beklagten zurechenbares Beratungsverschulden vor. Unter Fortentwicklung der Rechtsprechung des dritten Senats ist eine weitere Ausnahme für eine rückwirkende Feststellung der Arbeitsunfähigkeit, in diesem Fall durch Dr. D., zu machen, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen: 1. Es lag eine Wegeunfähigkeit vor und die örtlichen Gegebenheiten erfordern Individualverkehr, um Termine wahrnehmen zu können. 2. Die Wegeunfähigkeit wird durch die Diagnosen begründet, die zugleich die Arbeitsunfähigkeit begründen. 3. Die beklagte Krankenkasse übernimmt keine Leistungen für den Krankentransport und ansonsten vorgesehene Transportdienste aus dem Kreise von Angehörigen oder Bekannten fallen kurzfristig weg und öffentlicher Nahverkehr steht wegen der örtlichen Gegebenheiten nicht zur Verfügung. 4. Die Versicherte schildert dem behandelnden Arzt die Problematik und dieser teilt ihr mit, dass die Feststellung am folgenden Tage nachgeholt werden könne. 5. Die rückwirkende Feststellung geht innerhalb der Frist des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V bei der Beklagten ein. Dabei ist der Zahlschein der Auslegung in der Weise fähig, dass er auch für den Tag vor der Feststellung Geltung haben soll. Ausgangspunkt ist wie bei den anderen Ausnahmefallgruppen, dass einem Betroffenen nur das ihm Mögliche abverlangt werden kann (BSG, a. a. O., Rn. 23 m. w. N.). Das BSG zieht Parallelen zum Umfang der Mitwirkungsobliegenheiten nach §§ 65 ff. SGB I und die dort formulierte Zumutbarkeitsschranke (BSG, a. a. O, Rn. 24). Im Falle einer Wegeunfähigkeit kann je nach den Umständen des Einzelfalls eine Unzumutbarkeit gegeben sein. Dabei ist für die Einzelfallabwägung in Anlehnung an das Urteil des 3. Senats vom 22. Mai 2017 (Rn. 28 u. 29) einerseits die Schutzbedürftigkeit des Versicherten und anderseits die Zurechenbarkeit zur beklagten Krankenkasse andererseits zu berücksichtigen. Die vorstehenden Kriterien stellen dies sicher: Grundsätzlich ist nicht jede Einschränkung der Wegeunfähigkeit ein Grund nachträgliche Feststellungen der Arbeitsunfähigkeit zuzulassen. Im Rahmen der Abwägung ist erforderlich, dass aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles überhaupt eine Schwierigkeit entsteht, den Termin für die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit wahrnehmen zu können. Das ist dann nicht der Fall, wenn die Einschränkung nur geringfügig ist, die Nutzung eines privaten Kfz möglich ist oder weil öffentlicher Nahverkehr zumutbar ist. Nach dem glaubhaften Vortrag der Klägerin wohnte diese in einem ländlich strukturierten Gebiet und mit dem öffentlichen Nahverkehr war der Arzt faktisch nicht erreichbar. Das Problem im vorliegenden Fall ergab sich lediglich, weil die Fahrgelegenheit durch die Mutter kurzfristig wegfiel. Der Verweis auf die Nutzung eines Taxis war nach den Umständen des Einzelfalles unzumutbar: Die Arbeitsunfähigkeit wurde ja gerade durch eine Diagnose begründet, die zugleich die Wegeunfähigkeit begründete. Daraus ergibt sich das besondere Schutzbedürfnis der Klägerin (BSG, a. a. O., Rn. 29). Dies gilt vor allem deshalb, weil unstreitig ist, dass die funktionellen Beeinträchtigungen durchweg bestanden haben. Andererseits lag ein der Beklagten zurechenbares Verschulden vor, weil die Arztpraxis mitteilte, dass eine rückwirkende Feststellung der Arbeitsunfähigkeit möglich sei und die Klägerin könne auch am nächsten Tag die Praxis besuchen. In diesem Zusammenhang nimmt die Kammer Bezug auf das jüngste Urteil des BSG (a. a. O., Rn. 29 ff.). Eine weitere Zurechnung erfolgt durch den Umstand, dass in diesen Fällen die Krankenkassen keine Leistungen für Krankentransporte übernehmen (§ 60 SGB V und § 8 Abs. 2 und Abs. 3 KrankentransportRiLi). Die Krankenkasse hätte ebenso wie bei der AU-Richtlinie die Möglichkeit für derartige Fallkonstellationen auf den G-BA einzuwirken. Aus gleichbehandlungsgründen ist die rückwirkende Feststellung nur innerhalb der Frist von einer Woche nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V möglich. Dabei ist zu beachten, dass Zahlscheine einer Auslegung zugänglich sind und dass die Zahlscheine für die Gewährung von Krankengeld den Fall einer rückwirkenden Feststellung nicht ausdrücklich vorsehen. Im vorliegenden Fall wurde unter dem 31. März 2016 eine Folgebescheinigung ausgestellt und für den Krankengeldfall unten vermerkt: "ab 7. AU-Woche oder sonstiger Krankengeldfall". Das Feld "Arbeitsunfähig seit" ist versehen mit dem Vermerk "- V -". Die gleichen Vermerke finden sich auch auf den folgenden Bescheinigungen. Dies ist nach dem Empfängerhorizont als Folgebescheinigung auszulegen, und zwar in dem Sinne, dass durchweg wie auch in den vorherigen Bescheinigungen Arbeitsunfähigkeit bestehe. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Die Berufung war zuzulassen, weil die Kammer die Rechtsprechung des BSG fortentwickelt und jedenfalls von der Rechtsprechung des bisher zuständigen ersten Senats abweicht.