Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 17.03.2005, Az.: 3 B 272/05
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge; Anerkennung als Asylberechtigte; Fiktion der Asylantragstellung für ledige Kinder bis zum vollendeten 16. Lebensjahr; Anordnung einer Abschiebung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 17.03.2005
- Aktenzeichen
- 3 B 272/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 36154
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2005:0317.3B272.05.0A
Rechtsgrundlagen
- § 51 Abs. 1 AuslG
- § 14a Abs. 2 Alt. 2 AsylVfG
- § 14a Abs. 3 AsylVfG
- § 60 Abs. 1 AufenthG
- § 36 Abs. 4 S. 1 AsylVfG
- § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Der ab 1.1.2005 geltende § 14a Abs. 2 AsylVfG mit der Fiktion der Asylantragstellung für ledige, unter 16 Jahre alte Kinder von Asylbewerbern und ehemaligen Asylbewerbern ist nicht auf solche Kinder anzuwenden, die vor dem 1.1.2005 ins Bundesgebiet eingereist oder hier geboren worden sind.
Gründe
Die vier Antragsteller sind serbisch-montenegrinische Staatsangehörige albanischer Volkszugehörigkeit, die in den Jahren 1997, 1999, 2000 und 2001 jeweils in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurden und die jeweils im Besitz von Duldungen der Ausländerbehörde der Stadt G. sind. Nachdem die Eltern der Antragsteller sich getrennt haben, leben diese gegenwärtig bei ihrer - ebenfalls geduldeten - Mutter. Im Asylverfahren des Vaters war zunächst das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt worden; diese Feststellung ist mit zwischenzeitlich bestandskräftigem Bescheid des Bundesamtes des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 6.6.2003 widerrufen worden.
Jeweils mit formularmäßiger Meldung und dem Hinweis, eine Aufenthaltsbeendigung könne kurzfristig durchgeführt werden, die Angelegenheit sei mithin dringlich, gab die Ausländerbehörde der Stadt G. am 24.1.2005 gegenüber der Außenstelle Braunschweig des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) eine "Meldung nach § 14a AsylVfG" ab. Das Bundesamt ging davon aus, für die vier Antragsteller würden gemäß § 14a Abs. 2 Alt. 2 AsylVfG jeweils Asylanträge als am 24.1.2005 als gestellt gelten, da sie im Bundesgebiet geboren seien und ihre Geburt dem Bundesamt angezeigt worden sei. Der Vertreter der Antragsteller hätte auch nicht gemäß § 14a Abs. 3 AsylVfG auf die Durchführung von Asylverfahren für die Kinder verzichtet. Nachdem die Eltern der Antragsteller in den Asylverfahren ihrer Kinder zur persönlichen Anhörung am 24.2.2005 geladen worden waren, diesem Termin aber ohne Entschuldigung ferngeblieben waren, lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 25.2.2005, zugestellt am 1.3.2005, die Anträge der Antragsteller auf Anerkennung als Asylberechtigte als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und forderte die Antragsteller unter Fristsetzung von einer Woche nach Bekanntgabe dieses Bescheides und Abschiebungsandrohung nach Serbien und Montenegro zur Ausreise auf.
Hiergegen haben die Antragsteller am 8.3.2005 Klage erhoben (3 A 271/05) und gleichzeitig um vorläufigen Rechtsschutz gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nachgesucht.
Der zulässige Antrag der Antragsteller,
die aufschiebende Wirkung ihrer Klage (3 A 271/05) gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 25.2.2005 enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung anzuordnen,
ist begründet.
Die aufschiebende Wirkung der Klage ist antragsgemäß anzuordnen, weil an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides vom 25.2.2005 ernstliche Zweifel im Sinne von § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG bestehen.
Der angefochtene Bescheid dürfte allein deshalb keinen Bestand haben können, weil bei summarischer Prüfung die Vorschrift des § 14a AsylVfG auf die Antragsteller nicht anzuwenden ist.
Eine Anwendung des § 14a Abs. 1 AsylVfG scheidet aus, weil zum Zeitpunkt der ausländerbehördlichen Meldungen ein Asylverfahren der Eltern der Antragsteller nicht (mehr) anhängig war.
Doch auch § 14a Abs. 2 AsylVfG dürfte entgegen der Annahme der Antragsgegnerin nicht eingreifen. Diese - mit Wirkung vom 1.1.2005 durch Art 3 Nr. 10 und Art. 15 Abs. 1 Halbs. 1 des Zuwanderungsgesetzes vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950) in das AsylVfG eingefügte - Norm lautet wie folgt:
"Reist ein lediges, unter 16 Jahre altes Kind des Ausländers nach dessen Asylantragstellung ins Bundesgebiet ein oder wird es hier geboren, so ist dies dem Bundesamt unverzüglich anzuzeigen, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltsgestattung besitzt oder sich nach Abschluss seines Asylverfahrens ohne Aufenthaltstitel oder mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes im Bundesgebiet aufhält (Satz 1). Die Anzeigepflicht obliegt neben dem Vertreter des Kindes im Sinne von § 12 Abs. 3 auch der Ausländerbehörde (Satz 2). Mit Zugang der Anzeige beim Bundesamt gilt ein Asylantrag für das Kind als gestellt (Satz 3)."
Schon der Wortlaut der vorgenannten Norm dürfte eine Anwendung auf die Antragsteller nicht zulassen, da diese erkennbar weder am 1.1.2005 oder danach in das Bundesgebiet eingereist oder hier geboren worden sind. Hätte der Bundesgesetzgeber gewollt, dass von dem ab 1.1.2005 geltenden § 14a Abs. 2 AsylVfG auch Kinder erfasst werden, die vor dem 1.1.2005 in das Bundesgebiet eingereist sind oder hier geboren worden sind, hätte er nach dem Sprachgebrauch des Zuwanderungsgesetzes bzw. des AsylVfG a.F. eine andere Formulierung gewählt, indem er den 1. Halbsatz des § 14a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG sinngemäß etwa wie folgt gefasst hätte: "Ist ein lediges, unter 16 Jahre altes Kind des Ausländers nach dessen Asylantragstellung ins Bundesgebiet eingereist" (vgl. insoweit § 15a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 6 AufenthG sowie § 87a Abs. 1 Satz 2 AsylVfG) "oder ist es hier geboren worden" (vgl. insoweit § 104 Abs. 3 AufenthG). Selbst wenn man den Wortlaut des § 14a Abs. 2 AsylVfG entgegen der Ansicht der Antragsteller nicht für "eindeutig" halten wollte, deutet er jedenfalls nicht darauf hin, dass die Neuregelung auch alle bei ihrem In-Kraft-Treten am 1.1.2005 vorhandenen "Altfälle" hat erfassen wollen.
Würde der ab 1.1.2005 geltende § 14a Abs. 2 AsylVfG u.a. - wie im Falle der Antragsteller - auch für alle vor dem 1.1.2005 im Bundesgebiet geborenen minderjährigen ledigen Kinder von ehemaligen Asylbewerbern gelten, wäre dies eine Rückbewirkung von belastenden Rechtsfolgen für Sachverhalte eines Zeitraums, in dem die Gesetzesvorschrift mangels Verkündung noch nicht rechtlich existent war. Mit der "fiktiven" Asylantragstellung können gravierende aufenthaltsrechtliche Konsequenzen verbunden sein. Nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG ist ein unbegründeter Asylantrags als offensichtlich unbegründet anzulehnen, wenn er für einen nach diesem Gesetz handlungsunfähigen Ausländer (d.h. beispielsweise für ein Kind vor Vollendung des 16. Lebensjahres, § 12 Abs. 1 AsylVfG) gestellt worden ist, nachdem zuvor Asylanträge der Eltern oder des allein sorgeberechtigten Elternteils unanfechtbar abgelehnt worden sind. Geht man davon aus, dass als "gestellter Asylantrag" im Sinne des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG auch ein solcher anzusehen ist, der nach § 14a Abs. 1 oder 2 AsylVfG als gestellt gilt, ist nach § 10 Abs. 3 Satz 2 und 3 AufenthG beispielsweise die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 oder 5 AufenthG vor der Ausreise ausgeschlossen. Selbst wenn der Vertreter eines ledigen minderjährigen Kindes unter 16 Jahren nach § 14a Abs. 3 AsylVfG auf die Durchführung eines Asylverfahrens für das Kind verzichten würde, dürfte dem Kind, wenn man diesen Verzicht mit einer Rücknahme des Asylantrages gleichsetzen würde, nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG vor der Ausreise nur eine Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des Abschnitts 5 (§§ 22 bis 26) des AufenthG erteilt werden, es sei denn, es greift die Ausnahmevorschrift des § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG (Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) ein. Eine Rückbewirkung von belastenden Rechtsfolgen wäre bei verfahrensrechtlichen Regelungen zwar nicht ohne Weiteres unzulässig, erforderte aber jedenfalls eine rechtsstaatlich gebotene eindeutige Übergangsregelung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.7.1992 - 2 BvR 1631, 1728/90 -, NVwZ 1992, 1182/1183). Zwar hat der Gesetzgeber des Zuwanderungsgesetzes bezogen auf die Änderungen des AsylVfG eine Übergangsregelung erlassen (vgl. § 87b AsylVfG), diese bezieht sich aber zweifelsfrei nicht auf die hier in Rede stehende Problematik des § 14a AsylVfG.
Dem Gesetzgeber des Zuwanderungsgesetzes musste nach Ansicht des Gerichts im Übrigen bekannt sein, dass die Anwendung des neuen § 14a AsylVfG auf "Altfälle" wie den der Antragsteller einer ausdrücklichen Übergangsregelung bedurft hätte. Die Norm mit ihrer Fiktion der Asylantragstellung für ledige Kinder bis zum vollendeten 16. Lebensjahr, durch die verhindert werden soll, dass durch sukzessive Asylantragstellung überlange Aufenthaltszeiten in Deutschland ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive für die Betroffenen entstehen (vgl. BT-Drucks. 15/420, S. 108), geht maßgeblich auf einen Gesetzesantrag des Landes Niedersachsen ("Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes") zurück. Vor Einbringung des Gesetzesantrages im Bundesrat hat das Nds. Justizministerium u.a. die Präsidenten aller niedersächsischen Verwaltungsgerichte um Stellungnahme gebeten. Der damalige Präsident des VG Göttingen hat in seinem Bericht an den Präsidenten des Nds. OVG zu diesem Gesetzesantrag vom 14.4.2000 - Geschäfts-Nr.: 373/6 - zu Artikel 3 (Inkrafttreten) ausdrücklich festgestellt, ihm erschienen "Übergangsregelungen unverzichtbar" (Bericht S. 9). Beispielsweise sei "dringend regelungsbedürftig" (Bericht, a.a.O.), ob etwa die formellen Vorschriften dieses Gesetzes "ausnahmsweise, nur teilweise oder überhaupt nicht auch für Ausländer gelten sollen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingereist bzw. im Bundesgebiet geboren worden sind, für die aber bisher kein eigener Asylantrags gestellt worden ist (vgl. § 14a E-AsylVfG)". Wenn der Bundesgesetzgeber trotz solcher HinweiseÜbergangsvorschriften zu § 14a AsylVfG nicht getroffen hat, spricht dies dafür, dass er sie nicht etwa "vergessen" hat, sondern dass er sie bewusst nicht hat treffen wollen.
Mangels einer im AsylVfG enthaltenen oder einer anderweitig im Zuwanderungsgesetz bestimmten und hier anwendbaren Übergangsvorschrift ist davon auszugehen, dass § 14a Abs. 2 AsylVfG nur Sachverhalte erfassen soll, bei denen minderjährige ledige Kinder von Asylbewerbern oder ehemaligen Asylbewerbern ab 1.1.2005 ins Bundesgebiet einreisen oder ab 1.1.2005 hier geboren werden. Zu diesem Personenkreis gehören die Antragsteller aber zweifelsfrei nicht.
Ist aber hiernach § 14a Abs. 2 AsylVfG aller Voraussicht nach unanwendbar, ist der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 25.2.2005, der trotz Fehlens eines rechtswirksam gestellten oder als gestellt geltenden Asylantrages (vgl. § 13 AsylVfG) erlassen worden ist, rechtswidrig (vgl. VGH Kassel, Urteil vom 27.2.1985 - I OE 50/81 -, NVwZ 1985, 498).
Bei dieser Sachlage ist dem Aussetzungsbegehren stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs.1 VwGO, 83b AsylVfG.
Der Gegenstandswertswertbestimmung ergibt sich aus § 30 Satz 2 und 3 RVG.