Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 01.03.2005, Az.: 2 A 3/05
Ausbildungsförderung; Bestandskraft; elterliche Wohnung; Schüler-BAföG; Untätigkeitsklage; Wiederaufgreifen des Verfahrens
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 01.03.2005
- Aktenzeichen
- 2 A 3/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 50668
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs 1a Nr 1 BAföG
- § 44 Abs 1 SGB 10
Tatbestand:
Die am ... geborene Klägerin lebt seit November 1999 in verschiedenen Mietwohnungen in D.. Die unter Vermögenssorge stehende Mutter der Klägerin war seit September 1999 für zwei Jahre stationär untergebracht.
Der Beklagte gewährte der Klägerin für den Besuch der Berufsbildenden Schulen I in D. mit Bescheiden vom 30. März und 29. Juni 2001 für die Zeit von August 2000 bis einschließlich Juni 2001 Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAföG - mit dem gesetzlich vorgesehen Höchstbetrag.
Unter dem 5. Juni 2001 stellte die Klägerin einen Antrag auf Weitergewährung der Leistungen. Dabei gab sie bekannt, dass sie ihre Ausbildung mit demselben Ausbildungsziel (Abitur) ab 1. August 2001 an der J. - IGS -fortsetzen werde und teilte mit, dass ihre Mutter seit dem 1. März 2001 vorübergehend bei Verwandten in K. wohne und dort auch Therapiestunden erhalte.
Diese Mitteilung nahm der Beklagte zum Anlass, mit Bescheid vom 15. August 2001 Leistungen für den Besuch der IGS zu versagen. Er berief sich auf die Regelung in § 2 Abs. 1 a Nr. 1 BAföG. Dieser Bescheid ist mittlerweile bestandskräftig, nachdem die Klägerin einen dagegen verfristet eingelegten Widerspruch mit anwaltlichem Schreiben vom 30. April 2002 zurückgenommen hatte.
Mit weiterem Bescheid vom 28. September 2001 setzte der Beklagte die Leistungen für die Zeit von März bis einschließlich Juni 2001 auf 0.- DM fest und nahm die insoweit entgegenstehenden Bescheide vom 30. März und 29. Juni 2001 zurück. Gleichzeitig forderte er von der Klägerin bereits ausgezahlte Leistungen für diese Monate in Höhe von 3.130,00 DM zurück. Nachdem die Klägerin diesen Bescheid, der zunächst an ein falsche Adresse gerichtet gewesen war, bekommen hatte, legte sie dagegen unter dem 20. Februar 2001 Widerspruch ein. Mit dem oben angesprochenen anwaltlichen Schreiben vom 30. April 2002 beantragte sie die Leistungen ab sofort wieder aufzunehmen bzw. fortzusetzen und auch rückwirkend zu erbringen. Diesen Antrag beschied der Beklagte zunächst nicht. Erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens lehnte es der Beklagte mit Verfügung vom 30. April 2003 ab, den Besuch der IGS nach dem BAföG zu fördern. Zur Begründung nahm er Bezug auf seinen Bescheid vom 15. August 2001 und bezeichnete seine Verfügung als wiederholende Verfügung, weshalb eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht gegeben werde.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30. August 2002 wies die Bezirksregierung I. den Widerspruch der Klägerin vom 20. Februar 2002 zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Klägerin könne von der Wohnung ihrer Mutter aus eine entsprechende zumutbare Ausbildungsstätte erreichen. Ausbildungsbezogene Gründe stünden dem nicht entgegen. Soziale Gesichtspunkte wie die psychische Erkrankung der Mutter der Klägerin könnten ebenso wenig berücksichtigt werden wie beengte Wohnverhältnisse.
Hiergegen hat die Klägerin am 25. September 2002 Klage erhoben.
Zu deren Begründung trägt sie vor, ein Wohnen bei ihrer Mutter sei ihr unzumutbar. Die psychische Situation ihrer Mutter sei instabil. Die Wohnverhältnisse erlaubten ihre Aufnahme in die Wohnung nicht. Ihre Mutter wohne bei deren Schwester mit deren zwei Kindern in einer 3-Zimmerwohnung. Ihre Mutter sei zur Untervermietung an sie, die Klägerin, nicht berechtigt.
Hinsichtlich der Festsetzung der Leistungen für den Zeitraum von März bis einschließlich Juni 2001 sowie hinsichtlich der Rückforderung eines Betrages von 3.130,00 DM (entspricht 1.600,34 Euro) haben die Beteiligten das Verfahren in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend für erledigt erklärt.
Die Klägerin beantragt nunmehr noch,
den Beklagten unter Aufhebung seiner Bescheide vom 28. September 2001 und vom 15. August 2001 und des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung I. vom 30. August 2002 zu verpflichten, der Klägerin für den Besuch der BBS I im Juli 2001 und für den Besuch der IGS ab August für das laufende Schuljahr Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt zur Begründung auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden Bezug nehmend,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
Die Klage ist zulässig.
Weder steht ihr die Bestandskraft des Bescheides vom 15. August 2001 noch der Umstand entgegen, dass es für den Monat Juli 2001 weder einen Ausgangs- noch einen Widerspruchsbescheid gibt. Denn die Bestandskraft hindert hier die Klageerhebung nicht und die Klage ist als Untätigkeitsklage im Sinne von § 75 Satz VwGO ohne Durchführung eines Vorverfahrens zulässig. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
Die Klägerin hatte mit anwaltlichem Schriftsatz vom 30. April 2002 die rückwirkende Wiederaufnahme der Leistungen ab März 2001 beantragt. Es handelt sich um einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens mit dem Ziel, Leistungen über den Februar 2001 hinaus zu gewähren. Die Klägerin hat dem Beklagten damit den Weg des § 44 Abs. 1 SGB X gewiesen. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, dass § 44 SGB X auf das Leistungsrecht des Bundesausbildungsförderungsgesetzes anzuwenden ist (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 1.2.1993 -11 B 91.92-, FamRZ 1993, 1376). Vorausgesetzt wird von § 44 Abs. 1 SGB X gerade, dass ein bestandskräftiger Bescheid vorliegt, so dass von einer der Zulässigkeit der Klage entgegenstehenden Bestandskraft nicht die Rede sein kann. Diesen Antrag der Klägerin hat der Beklagte vor Klageerhebung, die länger als drei Monate nach Antragstellung erfolgte, nicht beschieden. Auch die im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ergangene Verfügung vom 30. April 2003 enthält eine derartige Bescheidung nicht. Denn der Beklagte misst dieser Verfügung Verwaltungsaktqualität nicht bei, sondern sieht sie als wiederholende Verfügung an. Damit ist der Antrag der Klägerin auf Wiederaufnahme des Verfahrens nicht beschieden worden, weshalb die ohne Vorverfahren erhobene Klage gleichwohl gemäß § 75 Satz 1 VwGO zulässig ist.
Die Klage ist auch begründet, denn die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X für die Rücknahme der Bescheide des Beklagten vom 28. September und vom 15. August 2001 liegen vor, weil der Beklagte das Recht unrichtig angewandt und deshalb Leistungen nach dem BAföG zu Unrecht nicht erbracht hat. Die allein für die Leistungsverweigerung durch den Beklagten in Betracht kommende Bestimmung des § 2 Abs. 1 a BAföG trägt die angefochtenen Bescheide nicht.
Gemäß § 2 Abs. 1 a Nr. 1 BAföG wird Ausbildungsförderung für den Besuch der in Absatz 1 Nr. 1 bezeichneten Ausbildungsstätten, wozu die BBS I und die IGS gehören, nur geleistet, wenn der Auszubildende, wie die Klägerin, nicht bei seinen Eltern wohnt und von der Wohnung der Eltern aus eine entsprechende zumutbare Ausbildungsstelle nicht erreichbar ist. Da von der Wohnung des Vaters der Klägerin unstreitig eine entsprechende Ausbildungsstelle nicht zumutbar erreichbar ist, kommt es entscheidungserheblich darauf an, ob dies von der Wohnung der Mutter der Klägerin in K. aus zumutbar möglich ist. Dies ist nicht der Fall.
Die von der Mutter der Klägerin in K. bewohnte Wohnung stellt eine elterliche Wohnung im Sinne von § 2 Abs. 1 a Nr. 1 BAföG nicht dar. Die Frage, ob die Gründe, die einer Aufnahme in diese Wohnung entgegenstehen ausbildungsbezogen sind (vgl. dazu nur BVerwG, Urteil vom 15.12.1988 -5 C 9.85-, Buchholz 436.36, § 12 BAföG Nr. 16; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24.09.1998 -10 O 3624/98-, jeweils zu der entsprechenden Vorschrift in § 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BAföG), stellt sich daher nicht.
Das Gesetz knüpft in § 2 Abs. 1 a Nr. 1 BAföG als Ausgangspunkt für die hier maßgebende Regelung an den typischen Lebenssachverhalt an, dass die Eltern ihren Kindern regelmäßig in den Räumen, die ihnen selbst als Wohnung zur Verfügung stehen, im Wege des Naturalunterhalts Unterkunft gewähren. Ein derart typischer Lebenssachverhalt liegt indes nicht vor, wenn die Eltern aus zwingenden persönlichen Gründen nicht mehr die Möglichkeit haben, über ihre Wohnverhältnisse frei zu bestimmen. Dies ist, was auch der Beklagte während der stationären Unterbringung der Mutter der Klägerin anerkannt hat, der Fall bei einem Aufenthalt in einem Pflegeheim oder einer vergleichbaren Lage, aber auch dann, wenn das Wohnen des Auszubildenden bei seinen Eltern an anderen rechtlichen Hindernissen scheitert (BVerwG, Urteil vom 27.2.1992 -5 C 68/88-, NVwZ 1992, 887, 888 = FamRZ 1992, 1360). In diesem Urteilsfall hat das Bundesverwaltungsgericht als einen derartigen zwingenden persönlichen Grund angesehen, dass der Ehepartner des wiederverheirateten Elternteils die Aufnahme des Auszubildenden berechtigter Weise abgelehnt hat. Hiermit ist die Wohnsituation der Mutter der Klägerin vergleichbar.
Denn die Mutter der Klägerin lehnt die Aufnahme ihrer Tochter in die ohnehin viel zu kleine Wohnung der Tante der Klägerin in K. berechtigt ab. Sie ist zur Untervermietung an ihre Tochter nicht berechtigt, wobei besonders ins Gewicht fällt, dass sie selber dort nur zur Untermiete wohnt, und die Hauptmieterin, die Tante der Klägerin, die über die Nutzung der von ihr angemieteten Wohnung bestimmen darf, eine weitere Untervermietung ablehnt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass es der Mutter der Klägerin ja frei stünde, in K. eine eigene Wohnung anzumieten, auf die dann die Klägerin zu verweisen wäre. Derart hypothetischen Erwägungen ist die Regelung in § 2 Abs. 1 a Nr. 1 BAföG nicht zugänglich. Wie sich sowohl aus dem Wortlaut der Bestimmung als auch aus seinem dargelegten Sinn und Zweck ergibt, kommt es auf die tatsächlich innegehaltene, nicht eine hypothetisch denkbare Wohnung an. Gerade diese stellt, wie dargelegt, keine elterliche Wohnung für die Klägerin dar.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO. Soweit die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, hat der Beklagte die Verfahrenskosten zu tragen, weil der dem klägerischen Begehren entsprochen und damit die Ursache für das erledigende Ereignis gesetzt hat.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.