Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 16.09.2005, Az.: 6 B 5284/05

Altfall; Anzeige; Anzeigepflicht; Asyl; Asylantrag; Asylbewerber; Ausländer; Einreise; Fiktion; Geburt; Kind

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
16.09.2005
Aktenzeichen
6 B 5284/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 51054
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Es ist ernstlich zweifelhaft, dass der Gesetzgeber in § 14a Abs. 1 AsylVfG eine Anzeigepflicht für Anzeigetatbestände begründen wollte, die bereits vor In-Kraft-Treten des Gesetzes eingetreten waren (wie VG Göttingen, B. v. 17.3.2005 - 3 B 272/05 - und VG Oldenburg, B. v. 22.6.2005 - 11 B 2465/05 -).

Gründe

1

Der Sachantrag ist zulässig und begründet.

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Das Gericht kann im Verfahren nach den §§ 80 Abs. 5, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, 75 und 36 Abs. 3 AsylVfG die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen die vom Bundesamt verfügte Abschiebungsandrohung anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, Art. 16a Abs. 4 GG, § 36 Abs. 4 AsylVfG. Im vorliegenden Verfahren bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt auf §§ 34, 36 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit §§ 59, 60 Abs. 10 AufenthG gestützten Abschiebungsandrohung. Die nach den §§ 31 und 34 AsylVfG vom Bundesamt zu treffenden Sachentscheidungen über die Asylberechtigung, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG setzen zwingend einen wirksam gestellten und inhaltlich beachtlichen Asylantrag voraus (vgl. auch § 5 Abs. 1 AsylVfG). Das gilt auch die infolge der ablehnenden Sachentscheidung gemäß § 34 Abs. 1 AsylVfG ergehende Abschiebungsandrohung. Insoweit verkörpert der vorliegend angefochtene Bescheid des Bundesamtes - der Natur des Asylrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG als verwaltetes Grundrecht entsprechend - mitwirkungsbedürftige Regelungen.

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An dieser Mitwirkung fehlt in dem vom Bundesamt für die Antragstellerin durchgeführten Asylverfahren. Es ist ernstlich zweifelhaft, dass für die Antragstellerin mit dem Eingang der schriftlichen Meldung ihrer Geburt durch die Region Hannover beim Bundesamt am 4. Mai 2005 ein Asylantrag der Antragstellerin gemäß § 14 a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG als gestellt gilt.

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Art. 14 a AsylVfG ist durch Art. 3 Nr. 10 des insoweit am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes (vom 30.7.2004; BGBl. I S. 1950) in das Asylverfahrensgesetz eingefügt worden. Unter der Überschrift „Familieneinheit“ bestimmt § 14 a AsylVfG in Absatz 1, dass mit der Asylantragstellung nach § 14 auch für jedes Kind des Ausländers, das ledig ist, das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und sich zu diesem Zeitpunkt im Bundesgebiet aufhält, ohne im Besitz eines Aufenthaltstitels zu sein, ein Asylantrag als gestellt gilt, wenn es zuvor noch keinen Asylantrag gestellt hatte. § 14 a Abs. 2 AsylVfG lautet:

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„Reist ein lediges, unter 16 Jahre altes Kind des Ausländers nach dessen Asylantragstellung ins Bundesgebiet ein oder wird es hier geboren, so ist dies dem Bundesamt unverzüglich anzuzeigen, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltsgestattung besitzt oder sich nach Abschluss seines Asylverfahrens ohne Aufenthaltstitel oder mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes im Bundesgebiet aufhält. Die Anzeigepflicht obliegt neben dem Vertreter des Kindes im Sinne von § 12 Abs. 3 auch der Ausländerbehörde. Mit Zugang der Anzeige beim Bundesamt gilt ein Asylantrag für das Kind als gestellt.“

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Mit der Regelung über die Fiktion der Asylantragstellung von asylverfahrensrechtlich noch nicht handlungsfähigen Kindern wollte der Gesetzgeber es zu verhindern, dass durch sukzessive Asylantragstellungen überlange Aufenthaltszeiten ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive für die Betroffenen entstehen. Diese Absicht verknüpfte der Gesetzgeber mit der Erwartung, dass die in der Vergangenheit regelmäßig als notwendig erachteten Altfall- und Härtefallregelungen (jetzt) weitgehend entfallen können (Begr. des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 7.2.2004, BT-Drs. 15/420 S. 108). In den von § 14 a Abs. 2 AsylVfG verfolgt der Gesetzgeber die beschriebene Zielsetzung mit dem systematischen Zusammenhang zwischen der Anzeigepflicht (Satz 1) und der durch ihre Erfüllung ausgelösten Automatik der Antragsfiktion (Satz 3). Eine Antragsfiktion kann folglich nur dann eintreten, wenn eine Anzeigepflicht nach Satz 1 begründet worden ist.

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Der Wortlaut des § 14 a Abs. 1 AsylVfG gibt aber nichts dafür her, dass der Gesetzgeber die Anzeigepflicht nach Satz 1 rückwirkend für Anzeigetatbestände begründen wollte, die bereits vor In-Kraft-Treten des Gesetzes eingetreten waren. Es mag sein, dass die Verwendung der Präsens-Form zur Beschreibung der beiden Tatbestände in § 14 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG als einziges Auslegungskriterium nicht zwingend gegen die Einführung einer Anzeigepflicht für in der Vergangenheit liegende Sachverhalte spricht (vgl. VG Minden, Beschl. vom 14. Juni 2005 - 11 L 359/05.A -). Mit dem Verwaltungsgericht Göttingen (Beschl. vom 17.3.2005, AuAS 2005 S. 117) und dem Verwaltungsgericht Oldenburg (Beschl. vom 22.6.2005 - 11 B 2465/05 -) kann die gewählte Zeitform aber nur im Zusammenhang mit der vom Gesetzgeber gewählten Rechtsfolge dieser Norm, wonach „dies dem Bundesamt unverzüglich anzuzeigen“ ist, Bedeutung gewinnen. Danach lässt sich § 14 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG bei natürlicher Betrachtungsweise nur so zu verstehen, dass seit dem 1. Januar 2005 verwirklichte Tatbestände ohne schuldhaftes Zögern angezeigt werden müssen. Die Rechtsfolge der Pflicht zur unverzüglichen Anzeige wird nämlich, wie die Wortwahl des Gesetzgebers in § 14 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG zeigt, durch ein bestimmtes Ereignis ausgelöst, nämlich das der Einreise oder der Geburt. Die Mitteilungspflicht bezieht sich daher nicht nur auf die bloße unverzügliche Mitteilung bestimmter Daten oder, wie die Antragsgegnerin meint, auf den sich an die Geburt anschließenden Aufenthalt ohne Aussicht auf Dauerhaftigkeit. Vielmehr soll nach der erkennbaren Vorstellung des Gesetzgebers zwischen diesem Ereignis (Einreise oder Geburt) und dem Eingang seiner Anzeige beim Bundesamt keine zeitliche Verzögerung eintreten.

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Dieses entspricht auch dem Gesetzeszweck. Die Pflicht zur unverzüglichen Anzeige der nachträglichen Einreise oder Geburt eines unter 16 Jahre alten Kindes macht nur dann einen Sinn, wenn der mit dem Gesetz beabsichtigte und dem Begriff „unverzüglich“ unterstrichene Zweck, überlange Aufenthaltszeiten mit einer ungewissen Aufenthaltsperspektive zu verhindern sowie Altfall- und Härtefallregelungen zukünftig zu vermeiden, noch erfüllt werden kann. Das ist aber zweifelsfrei nicht der Fall, wenn Anzeigepflichten für Sachverhalte begründet werden, die - je nach Sachlage - bis zu 15 Jahre zurückliegen und damit in die Stichtage der letzten Altfall-Regelungen hineinreichen. Dieses wäre angesichts der gegenwärtig geltenden Altfallregelung vom 18./19. November 1999, die auf eine Einreise vor dem 1. Juli 1993 abstellt (RdErl. des Nds. Innenministeriums vom 10.12.1999; Nds. MBl. 2000 S. 41), schon bei 12jährigen Kindern der Fall. Dass eine Anwendung des § 14 a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG auf solche Sachverhalte in der Praxis des Bundesamtes nicht völlig fern liegt, zeigen die Gründe des Beschlusses der 10. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover vom 6. September 2005 (10 B 5140/05), denen die Geburtsanzeige der Ausländerbehörde für ein inzwischen 10 Jahre altes Kind zugrunde lag.

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Im Zusammenhang mit der Auslegung des § 14 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG kommt weiter hinzu, dass der Wortlaut dieser Norm unter anderem auf den Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG abstellt. Dies deutet darauf hin, dass jedenfalls dann, wenn das Asylverfahren der Eltern abgeschlossen ist, die in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Geburt des Kindes, nämlich „unverzüglich“ abzugebende Geburtsanzeige nur solchen Eltern auferlegt werden soll, deren Aufenthaltsstatus sich nach Maßgabe des mit dem Zuwanderungsgesetz am 1. Januar 2005 erlassenen Aufenthaltsrechts beurteilt. Insoweit gelten nach Auffassung des Gerichts dieselben Auslegungserwägungen, die für die Ablehnung einer Überprüfungspflicht nach § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG für vor dem 1. Januar 2005 entstandene Widerrufs- oder Rücknahmefälle maßgebend sind. Hierzu wird angenommen, dass sich die Pflicht zur Überprüfung von Anerkennungsbescheiden angesichts der Gesetzessystematik des § 73 Abs. 2 a AsylVfG, der das neue materielle Widerrufsrecht in Gestalt der Ermessensentscheidung nach Satz 3 in einen Systemzusammenhang mit einer fristgebundenen Überprüfung (Satz 1) und Mitteilung (Satz 2) stellt, nur auf solche Widerrufsfälle beziehen kann, die nach dem In-Kraft-Treten der Neuregelung eintreten (vgl. OVG Münster, Beschl. vom 14.4.2005, InfAuslR 2005 S. 344), obwohl das Gesetz dieses nicht ausdrücklich vorgibt. Eine vergleichbare Gesetzesautomatik enthält auch § 14 a Abs. 2 AufenthG. Auch hier kann es nicht der Vorstellung des Gesetzgebers entsprochen haben, im Gesetz eine Pflicht zur unverzüglichen Mitteilung von Sachverhalten, deren Eintritt objektiv nicht mehr unverzüglich mitgeteilt werden kann, zu verankern.