Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 27.01.2006, Az.: 5 B 5/06

Abschiebungsandrohung; Antragsfiktion; Asylantrag; Asylvoraussetzung; Aussetzung der Abschiebung; fiktiver Asylantrag; förmlicher Asylantrag; Gruppenverfolgung; Gruppenverfolgung von Yeziden; Heilung eines Verfahrensmangels; keine Abschiebungshindernisse; keine Abschiebungsverbote; kurdische Volkszugehörigkeit; minderjähriger Yezide; offensichtliche Unbegründetheit; Offensichtlichkeitsurteil; qualifizierte Asylablehnung; sofortige Vollziehbarkeit; Türkei; türkischer Staatsangehöriger; türkischer Yezide; Verfahrensmangel; vorläufiger Rechtsschutz; Yezide; yezidische Glaubensgemeinschaft

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
27.01.2006
Aktenzeichen
5 B 5/06
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 53154
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Frage, ob § 14a Abs. 2 AsylVfG auch auf vor dem 1. Januar 2005 in Deutschland geborene Kinder anwendbar ist, kann offen bleiben, weil jedenfalls mit dem Verpflichtungsklageantrag im Asylklageverfahren im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein förmlicher Asylantrag i. S. v. § 13 Abs. 1 und 2 AsylVfG gestellt und ein etwaiger Verfahrensmangel damit geheilt ist.

2. Das Offensichtlichkeitsurteil ist bei einem Asylbewerber aus der Türkei, der sich auf seine Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Yeziden beruft, angesichts der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung zur mittelbaren Gruppenverfolgung von Yeziden aus der Türkei nicht gerechtfertigt.

Gründe

1

Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage 5 A 17/06 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Januar 2006 anzuordnen, mit dem das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers unter Androhung der Abschiebung in die Türkei als offensichtlich unbegründet abgelehnt und festgestellt hat, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, hat Erfolg.

2

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung, beschränkt auf die Frage der sofortigen Vollziehbarkeit. Die Aussetzung der Abschiebung darf nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen (Art. 16 a Abs. 4 Satz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG). Da Anknüpfungspunkt für die Abschiebungsandrohung der Bescheid des Bundesamtes ist, wonach der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt und zugleich festgestellt worden ist, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht vorliegen, muss die qualifizierte Asylablehnung mit Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung sein. Nach § 30 Abs. 1 AsylVfG ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht vorliegen. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn sich bei dem zugrunde zu legenden Sachverhalt die Verneinung des Asylanspruches und des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 1 AufenthG geradezu aufdrängen, wenn das Fehlen einer politischen Verfolgung offen zu Tage liegt und keine vernünftigen Zweifel an der Erfolglosigkeit des Asylbegehrens bestehen. Mit Blick auf eine geltend gemachte Individualverfolgung kann von einem offensichtlich unbegründeten Asylbegehren ausgegangen werden, wenn etwa die im Einzelfall geltend gemachte Gefährdung des Asylsuchenden den erforderlichen Grad der Verfolgungsintensität nicht erreicht, die behauptete Verfolgungsgefahr allein auf nachweislich gefälschten oder widersprüchlichen Beweismitteln beruht oder das Asylvorbringen sich insgesamt als unglaubhaft erweist. Wird eine kollektive Verfolgungssituation geltend gemacht, kommt eine Abweisung eines Asylbegehrens als offensichtlich unbegründet bei Fallgestaltungen in Betracht, denen eine gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung zugrunde liegt.

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Hiervon ausgehend hat der Antrag im Ergebnis Erfolg. Dies folgt allerdings in Anwendung von § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG entgegen der Ansicht des Antragstellers nicht daraus, dass es an einem wirksamen Asylantrag fehlt (hierzu 1.), sondern weil der Antragsteller eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei geltend macht (dazu 2.).

4

1. Nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG ist ein Asylantrag i. S. d. § 13 Abs. 2 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn er für einen nach diesem Gesetz handlungsunfähigen Ausländer gestellt wird, nachdem zuvor Asylanträge der Eltern unanfechtbar abgelehnt worden sind. Diese Voraussetzungen liegen hier voraussichtlich vor. Dahinstehen kann, ob § 14 a Abs.2 AsylVfG auch auf die vor dem 1. Januar 2005 in Deutschland geborenen oder nach Deutschland eingereisten minderjährigen Kinder - wie hier der Antragsteller - anwendbar ist (verneinend etwa VG Braunschweig, Urt. v. 8.7.2005 - 6 A 151/05 - und in Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes etwa VG Lüneburg, Beschl. v. 1.8.2005 - 4 B 31/0; VG Göttingen, Beschl. v. 17.3.2005 - 3 B 272/05 -; VG Oldenburg, Beschl. v. 22.62005 - 11 B 2465/05 -; VG Schwerin, Beschl. v. 29.7.2005 - 5 B 408/05 As -, InfAuslR 2005, 494; bejahend dagegen z. B. VG Gießen, Urt. v. 17.8.2005 - 8 G 1802/05 -, InfAuslR 2005, 494; VG Lüneburg, Beschl. v. 21.6.2005 - 2 B 2405 -; VG Minden, Beschl. v. 14.6.2005 - 11 L 359/05.A - <juris>). Denn jedenfalls im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung liegt mit dem Klageantrag (der auf die Anerkennung als Asylberechtigter sowie die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gerichtet ist) ein ausdrücklich gestellter und wirksamer Asylantrag im Sinn von § 13 Abs. 1 und 2 AsylVfG für den Antragsteller vor, so dass ein etwaiger Verfahrensmangel geheilt worden wäre.

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Im Übrigen könnte die Klage, die auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung von Asyl und Abschiebungsschutz gerichtet ist, selbst für den Fall, dass § 14 a Abs. 2 AsylVfG hier als nicht anwendbar gehalten würde, keinen Erfolg haben. In diesem Fall wäre lediglich der Bescheid des Bundesamtes wegen eines Verfahrensfehlers als rechtswidrig aufzuheben, ein Verpflichtungsbegehren ließe sich dagegen nicht ableiten.

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2. Der Antragsteller beruft sich zudem auf eine mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei. Erhebliche - die qualifizierte Abweisung als offensichtlich unbegründet rechtfertigende - Zweifel an der Glaubhaftigkeit ergeben sich aus seiner Darstellung nicht. Nach den Angaben des Bundesamtes in dem angefochtenen Bescheid ist der Antragsteller nach seinem Vater türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und Angehöriger der yezidischen Glaubensgemeinschaft. Ob er daneben nach seiner Mutter auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzt - wie in der Meldung des Landkreises Celle nach § 14 a AsylVfG an das Bundesamt vom 24. Oktober 2005 angegeben - kann hier dahinstehen. Nach der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung ist von einer mittelbaren Gruppenverfolgung von glaubensgebundenen Yeziden in der Türkei auszugehen. Ob dies auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiterhin angenommen werden kann - wie dies das OVG Schleswig mit Urteil vom 29. September 2005 (1 LB 38/04) verneint hat - bedarf einer Prüfung im Hauptsacheverfahren; eine gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung des Inhalts, dass nunmehr eine Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei nicht mehr stattfindet, hat sich jedenfalls bisher - soweit ersichtlich - noch nicht herausgebildet. Insbesondere das Nds. Oberverwaltungsgericht hat sich zu dieser Frage aktuell bisher nicht geäußert. Die Abweisung des Asylantrages drängt sich mithin nicht geradezu auf. Das „Offensichtlichkeitsurteil“ in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes ist daher nicht gerechtfertigt, so dass die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen ist.

7

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.

8

Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.