Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.10.2000, Az.: 4 O 2446/00

Behinderter; eheähnliche Gemeinschaft; geistige Behinderung; Hilfe zum Lebensunterhalt; Sozialhilfe

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
30.10.2000
Aktenzeichen
4 O 2446/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2000, 41574
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - AZ: 4 A 86/99

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft i. S. des § 122 S. 1 BSHG wird nicht dadurch von vornherein ausgeschlossen, dass beide Partner geistig behindert sind.

Gründe

1

Der Antrag bleibt ohne Erfolg. Deshalb kann den Klägern für das Antragsverfahren auch Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

2

Ein Grund für die Zulassung der Beschwerde gemäß § 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 VwGO liegt nicht vor.

3

Der Senat hat insbesondere nicht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses. Die von den Klägern begehrte Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz setzt eine hinreichende Erfolgsaussicht der Klage voraus. Dabei ergibt sich eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht schon daraus, dass im weiteren Verfahren möglicherweise noch eine Beweiserhebung wird erfolgen müssen (BVerfG, B. v. 23.1.86 - 2 BvR 25/86 -, NVwZ 1987, 786). Das Verwaltungsgericht hat hier eine hinreichende Erfolgsaussicht der Klage zu Recht verneint. Der Senat macht sich die zutreffenden Erwägungen des angefochtenen Beschlusses zu eigen und verweist deshalb auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Das Vorbringen der Kläger in ihrem Antrag rechtfertigt eine andere Entscheidung nicht.

4

Soweit der Beschluss des Verwaltungsgerichts die Feststellung des sozialhilferechtlichen Bedarfs des Klägers zu 2) betrifft, erhebt dieser Einwände nicht. Zweifel an der Richtigkeit des Beschlusses sind auch sonst nicht ersichtlich.

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Dasselbe gilt für die Feststellung des sozialhilferechtlichen Bedarfs der Klägerin zu 1) durch das Verwaltungsgericht. Insoweit wendet sich die Klägerin zu 1) nur dagegen, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft der Kläger (i.S. des § 122 S. 1 BSHG) bejaht und festgestellt hat, der Bedarf an Lebensunterhalt, den die Klägerin zu 1) nicht aus ihrem eigenen Einkommen decken könne, sei aus dem Einkommensüberhang des Klägers zu 2) zu befriedigen. In dem Schriftsatz vom 7. September 1999 ihrer Prozessbevollmächtigten, auf den die Kläger hier Bezug nehmen, haben sie dazu ausgeführt:

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"Entgegen der Annahme des Beklagten handelt es sich bei den Klägern nicht um eine eheliche Gemeinschaft im Sinne des § 122 BSHG. Richtig ist zwar, dass die Kläger zusammen in einer Wohngemeinschaft leben und, wie auch in einer gleichgeschlechtlichen Wohngemeinschaft üblich, teilweise zusammen hauswirtschaften. Aufgrund ihrer geistigen Behinderung können sie einander jedoch nicht versorgen, ihre gemeinsame Versorgung wird vielmehr sicher gestellt durch den betreuenden Verein Hilfe zur Selbsthilfe Behinderter e.V. So zahlen beide Kläger ein in eine gemeinsame "Haushaltskasse", aus der unter Mithilfe der Vereinsmitarbeiter die grundlegenden Nahrungs- und Putzmittel bezahlt werden, Sonderbedarf in punkto Ernährung und Körperpflege bezahlt jeder der Kläger aus seinen eigenen Mittel. Eine über diesen Beitrag zur "Haushaltskasse" hinausgehende Unterhaltsleistung für die Klägerin zu l. ist dem Kläger zu 2. nicht möglich, er lehnt diese auch ab. Die Klägerin zu 1. kann auch nicht über Einkünfte des Klägers zu 2. verfügen. [Beweis: 1. ... 2. ...]

7

Wie bereits das Bundesverfassungsgericht (E 87, 264f) festgestellt hat, reicht eine bloße Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft nicht für die Annahme einer ehelichen Gemeinschaft aus, erforderlich ist vielmehr eine gegenseitige Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft der Gestalt, dass die Bindungen der Partner so eng sind, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann und nur wenn sich die Partner einer Gemeinschaft so sehr für einander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicher stellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden, ist ihre Lage mit derjenigen nicht dauernd getrenntlebender Ehegatten vergleichbar. Eben dieses gegenseitige Einstehen füreinander ist den Klägern nicht möglich, da ihnen aufgrund ihrer erheblichen geistigen Behinderung ein Verantwortungsgefühl füreinander schlichtweg fremd ist. Moralische Imperative können die Kläger als geistig Behinderte nicht verinnerlichen, ihr instinktiver Egoismus, der sie stets alles für sich haben wollen lässt, lässt sich nicht grundlegend beseitigen, da die geistigen und seelischen Fähigkeiten für Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein, innere Bindungen und Rücksichtnahme auf und Sorge für andere Personen nicht ausreichen.

8

Zur Herstellung einer gegenseitigen Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft sind die Kläger somit nicht in der Lage. [Beweis: Sachverständigengutachten]"

9

Diese Ausführungen überzeugen den Senat - ebenso wie schon das Verwaltungsgericht - nicht.

10

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil v. 17. Mai 1995 - BVerwG 5 C 16.93 -, BVerwGE 98, 195), das sich dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. November 1992 (- 1 BvL 8/87 - , BVerfGE 87 S. 234) angeschlossen hat, liegt eine eheähnliche Gemeinschaft im Sinne des § 122 Satz 1 BSHG nur dann vor, wenn sie als auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau über eine reine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht und sich - im Sinne einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft - durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründen. Nur wenn sich die Partner einer Gemeinschaft so füreinander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicherstellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden, ist ihre Lage mit derjenigen nicht getrennt lebender Ehegatten im Hinblick auf die Anrechnung von Einkommen und Vermögen vergleichbar.

11

Diese Rechtsprechung ist entwickelt worden anhand von Lebenssachverhalten, bei denen eine geistige Behinderung eines Partners oder beider Partner nicht festgestellt worden war. Der Senat hält sie für auch auf die Situation geistig behinderter Paare übertragbar. In Fällen, in denen mangels Geschäftsfähigkeit eine Eheschließung nicht möglich ist (§§ 104, 1304 BGB), kommt auch die Annahme einer eheähnlichen Gemeinschaft nicht in Betracht, da eine den o.g. Voraussetzungen entsprechende Fähigkeit zur Partnerschaft fehlt. In den anderen Fällen steht die geistige Behinderung grundsätzlich weder einer Eheschließung entgegen (vgl. BGH, Urt. v. 19.6.1970 - IV ZR 83/69 -, NJW 1970, 1680; AG Rottweil, Beschl. v. 15.11.1989 - GR. I-30/89 -, FamRZ 1990, 626), noch dem Eingehen einer eheähnlichen Gemeinschaft i.S. des § 122 Satz 1 BSHG. Dabei ist bei der Prüfung, ob eine solche eheähnliche Gemeinschaft unter geistig behinderten Personen vorliegt, auf deren eingeschränkte geistige Fähigkeiten Rücksicht zu nehmen. Es kann nicht unterstellt werden, geistig behinderte Erwachsene seien allenfalls in Ausnahmefällen auf Dauer "bindungsfähig" und deshalb könne man auch kaum von einer "Ehe- bzw. Partnerschaftsfähigkeit" bei diesem Personenkreis sprechen (Joachim Walter, "Sexualität und geistige Behinderung" (1994), Abschn. 4 Sexuelle Partnerschaft - beschützte Ehe http://www.bidok.ac.at/texte/sex_beh.html#Heading10). Es genügt deshalb, wenn ihre Gemeinschaft von dem erkennbar festen Willen, zusammen zu gehören, geprägt ist. Andernfalls würden bei behinderten Personen an das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft höhere Anforderungen gestellt als an das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Eheschließung.

12

Die Kläger, vertreten durch ihre bestellten Betreuerinnen und ihre Prozessbevollmächtigte, tragen zwar vor, sie seien aufgrund ihrer Behinderung insbesondere nicht in der Lage, das nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erforderliche Verantwortungsbewusstsein und die Bereitschaft, füreinander einzustehen, zu entwickeln. Dieses Vorbringen erscheint zum einen als am Klageziel orientiert. Zum anderen weist es auf das Problem der möglichen Interessenkollision bei den Betreuerinnen - die bestellte Betreuerin der Klägerin zu 1) ist Vorsitzende des die Kläger betreuenden Vereins, die bestellte Betreuerin des Klägers zu 2) ist bei diesem Verein beschäftigt -, das der in dem Verfahren 4 B 21/90.OS des Verwaltungsgerichts bestellte Sachverständige Dr. K. in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 10. September 1991 über die Klägerin zu 1) bereits angesprochen hat (S. 13/14 des Gutachtens). Schließlich ist es mit den Lebensverhältnissen der Kläger, wie sie dem Senat aus dem vorliegenden und früheren Verfahren bekannt sind, nicht zu vereinbaren.

13

Die Kläger sind im Jahr 1991 durch den Sachverständigen Dr. K. hinsichtlich ihrer Hilfebedürftigkeit begutachtet worden. Sie lebten damals bereits mehrere Jahre zusammen in einer gemeinsamen Wohnung. Gegenüber dem Gutachter haben sie angegeben, miteinander verlobt zu sein. Es mag zwar sein, dass die Kläger den Begriff der "Verlobung" nicht im rechtlichen Sinn erfassen. Die Verwendung dieses Begriffs durch die Kläger bringt aber zweifelsfrei zum Ausdruck, dass sie ein gemeinsames Leben wie ein nicht behindertes Paar führen wollen. Der Senat hält sich nicht für befugt, die Ernsthaftigkeit einer solchen Absicht der Kläger allein im Hinblick darauf in Frage zu stellen, dass sie als geistig Behinderte eventuell die hohen moralischen Werte oder Ansprüche, die z.B. in der kirchlichen Lehre oder der wissenschaftlichen Ethik mit dem Begriff der Verlobung bzw. Ehe verbunden werden, nicht verstehen. Die Ernsthaftigkeit des Wunsches der Kläger, als Paar gemeinsam zu leben, wird hier eindrucksvoll dadurch unterstrichen, dass sie in dem Zeitraum der Jahre 1998/1999, für den hier um Leistungen gestritten wird, bereits mehr als zehn Jahre zusammengelebt haben, ihre Bindung sich also als weitaus stabiler erwiesen hat als die Ehen oder Partnerschaften vieler Nichtbehinderter. Unter diesen Umständen besteht auch nicht Anlass zu bezweifeln, dass die Kläger etwa bei Krankheit eines Partners füreinander einstehen, indem der gesunde Partner einfach bei dem anderen da ist und ihm dadurch hilft. Auf eine tätige Hilfeleistung kommt es dabei nicht notwendig an, denn es würde auch bei Nichtbehinderten nicht zu Zweifeln am Bestehen einer "Einstandsgemeinschaft" führen, wenn ein Partner eine solche Hilfe z.B. aus Altersgründen nicht leisten könnte.

14

In dem ihnen geistig möglichen Rahmen wirtschaften die Kläger auch gemeinsam. Sie tragen selbst vor, dass sie Geld in eine gemeinsame Kasse geben, aus der dann laufende Kosten des Haushalts bestritten werden.

15

Dem Bestehen einer Einstandsgemeinschaft entsprechend den oben genannten geminderten Anforderungen bei geistig Behinderten kann auch nicht entgegengehalten werde, dass die Kläger das tägliche Leben nur mit sozialpädagogischer oder erzieherischer Hilfe bewältigen können. Gerade diese Situation ist unter dem Begriff "beschützte Ehe" oder "beschützte (eheähnliche) Gemeinschaft" bekannt (Walter a.a.O.; Julia Zima, "Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung" (1998), Abschn. 8.1 Beschützte Ehe und Treuegelöbnis http://bidok.uibk.ac.at/texte/zima-dipl.html = http://members.eunet.at/die.zimas/Inhalt.htm). Gemeint ist damit die herkömmliche Institution Ehe (oder eheähnliche Gemeinschaft) mit eventuellen Einschränkungen, aber vor allem mit dem Zusatz, dass sie über das übliche Maß hinaus besonderer Förderung und eines besonderen Schutzes bedarf (Zima a.a.O.). Es handelt sich typischerweise um sozialpädagogische Betreuung, oft im Verbund mit einer Wohnstätte (Walter a.a.O.). Einer solchen Beziehung die Anerkennung und damit den rechtlichen Schutz - allerdings auch mit den üblichen Rechtsfolgen wie etwa gem. § 122 S. 1 BSHG - zu versagen, dürfte weder mit der Würde der geistig behinderten Menschen noch mit dem Ziel der Förderung der Behinderten, wie sie auch gerade der sie betreuende Verein "Hilfe zur Selbsthilfe Behinderter e.V." anstrebt, zu vereinbaren sein.

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Zusammengefasst ist daher nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens vom Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft der Kläger i.S. von § 122 S. 1 BSHG auszugehen, bestehen mithin ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht.