Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 10.10.2000, Az.: 9 L 1535/00
Abschiebung; Abschiebungshindernis; Asyl; Asylantragsteller; Asylbewerber; DKP; Hindernis; Irak; Islamische Bewegung; Kurde; Nordirak; politische Verfolgung; PUK; Verfolgung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 10.10.2000
- Aktenzeichen
- 9 L 1535/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 42010
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 07.03.2000 - AZ: 5 A 14/00
Rechtsgrundlagen
- § 53 Abs 6 S 1 AuslG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Das von der DKP und der PUK im Nordirak dominierte Machtgefüge wird von der Islamischen Bewegung - von bestimmten regionalen Ausnahmen abgesehen - nicht so beeinflusst, dass sie an der politisch-territorialen Macht teilnimmt.
Gründe
Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er stammt aus Koysinjaq (kurz: Koy), einem Ort etwa 70 km östlich von Arbil in der Provinz Arbil.
Mit dem vom Senat zugelassenen Berufungsverfahren verfolgt der Kläger nur noch die Schutzgewährung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG weiter. Er befürchtet, dass er bei seiner Rückkehr in den Nord-Irak mit sein Leben bedrohenden Übergriffen durch die Islamisten rechnen müsse.
Nach § 53 VI AuslG kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen bestimmten anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (Satz 1); Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 54 AuslG berücksichtigt (Satz 2). Für die Annahme einer "konkreten Gefahr" i.S. des § 53 VI 1 AuslG genügt ebensowenig wie im Asylrecht die theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr ist der Begriff der "Gefahr" im Sinne dieser Vorschrift im Ansatz kein anderer als der im allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegte, wobei allerdings das Element der "Konkretheit" der Gefahr für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 -- 9 C 9.95 -- DVBl. 1996, 203 = InfAuslR 1996, 149 = BVerwGE 99, 324; ebenso Urt. v. 29.3.1996 -- 9 C 116.95 -- NVwZ-Beil. 1996, 57 = DVBl. 1996, 1257).
Der Kläger hat eine derartige, ihn individuell treffende Gefahrenlage nicht glaubhaft machen können. Diese Feststellung folgt zum einen aus der den vorliegenden Erkenntnismitteln sich ergebenden objektiven Sach- und Rechtslage sowie zum anderen aus der Bewertung seiner in das Verfahren eingebrachten Erklärungen.
Die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel lassen zunächst den Schluss auf eine den Kläger objektiv durch die Islamische Bewegung drohende Gefährdung nicht zu. Das Deutsche Orient-Institut hat sich in mehreren Stellungnahmen zu der Machtposition der Islamischen Bewegung in Irakisch-Kurdistan, also im Nord-Irak, geäußert. Die gutachterlichen Äußerungen vom 30. April 1999 an den Senat, vom 21. Mai 1999 an das VG Sigmaringen, vom 30. Juli 1999 an das VG Schleswig und vom 30. Juni bzw. 6. Dezember 1999 jeweils an das VG Augsburg sind im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 10. Oktober 2000 ausdrücklich zum Inhalt der gerichtlichen Erörterung gemacht worden. Danach ergibt sich keineswegs das vom Kläger aufgezeigte Bild einer im Nord-Irak "übermächtigen" Islamischen Bewegung, "und zwar überall in Kurdistan". Vielmehr ist, ausgehend insbesondere von der Stellungnahme vom 30. Juni 1999, von folgender Machtposition dieser Bewegung auszugehen: Zwar ist zunächst festzustellen, "daß aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Rückwärtsentwicklung und des Niederganges dieser Gebiete es zu einer verstärkten Rückbesinnung auf religiöse Traditionen kommt, an die die Leute sich, in Ermangelung besserer Hoffnungen klammern. Diese Entwicklung führte und führt zu einem Wiedererstarken islamistischer Tendenzen und Bestrebungen. Die Mullahs, die aus anderen Ländern Unterstützung bekommen, um ihr religiöses Bekehrungswerk durchzuführen, haben im Moment in Irakisch-Kurdistan großen Zulauf. Es ist aber nicht so, daß die Islamische Bewegung in Kurdistan über vermehrte politisch-territoriale Möglichkeiten verfügt. Das Gefüge der Machtverteilung kann die Islamische Bewegung in Kurdistan nicht beeinflussen. Diese Bewegung ist in der Gegend um Halabja längst der iranisch-irakischen Grenze relativ stark und es mag auch Dörfer und Täler geben, in denen sie, auch mittels ihrer bewaffneten Einheiten, das Sagen hat. Nicht so aber z.B. in Sulaimaniya. Diese Stadt steht immer noch uneingeschränkt unter der Herrschaft der PUK. Mag sein, daß auch in diesen Kreisen dem allgemeinen Trend zurück zur Religion stattgegeben wird, aber die PUK würde in dieser Hinsicht nicht so weit gehen, den Islamisten politische Zugeständnisse im Hinblick auf die Machtausübung zu machen. In Sulaimaniya haben die Islamisten wohl Büros, sie haben auch Anhänger und vielleicht einige Moscheen, in denen ihre Leute predigen und in deren sozialkaritativen Einrichtungen das dortige Gedankengut vorherrschend ist. Die Islamisten haben aber nicht die Möglichkeit in gezielter, organisatorisch-institutioneller Weise auf Leute zuzugreifen." (S. 3/4). Ein entsprechendes Bild vermittelt die Stellungnahme vom 30. Juli 1999: "Es ist nicht so, daß diese Gruppe ein bedeutsamer territorialer Machtfaktor in diesen kurdischen Gebieten werden konnte. Dafür ist ihre Macht zu schwach. Die beiden kurdischen Großgruppen würden sich niemals der politisch-territorialen Macht über "ihre" Gebiete begeben, um die islamische Bewegung an dieser Macht teilhaben zu lassen. Es gibt diese Bewegung, diese hat auch einen gewissen Zulauf, der besonders wegen der Rückbesinnung auf altislamische Traditionen infolge der sich zunehmend verschlechternden wirtschaftlichen Lage zunimmt, doch kann sie nicht etwa eine der beiden Großgruppen die Macht streitig machen. Soweit diese ebenfalls einer bestimmten, situationsbedingten Stimmung nachgeben wollen, verläuft dies innerhalb der kurdischen Großgruppen, so daß dort dann die jeweiligen Ortspotentaten mehr islamisch sind, als sie es früher waren und diese Haltung nach außen zur Schau stellen, niemals aber würden und/oder werden sie akzeptieren, daß sich weitere Kräfte breitmachen, die ebenfalls die Lenkung der gegebenen Ressourcen bestimmen könnten. Deshalb ist es nicht zutreffend, daß diese Organisation unangefochten von PUK und DKP schalten und walten kann, ganz im Gegenteil, die beiden Gruppen bekämpfen diese Islamisten, wenn sie nicht gerade mit ihnen verbündetet sind, vehement, und versuchen alles dafür zu tun, daß diese Gruppe keinen eigenen Schutz von dem zu verteilenden Kuchen bekommt." (S. 12/13). Nach diesen gutachterlichen Äußerungen bestehen für eine gewissermaßen flächendeckende Verfolgungsgefahr durch die islamische Bewegung keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte.
Allerdings sind Verfolgungssituationen im Einzelfall durchaus denkbar (so auch die Stellungnahme vom 30. Juli 1999, S. 14). Die vom Kläger gegebene Schilderung der Ereignisabläufe vermitteln aber nicht in glaubhafter Weise eine dem Kläger unmittelbar und ihm konkret drohende erhebliche Verfolgungsgefahr. Die Geschehensabläufe werden vielmehr gewissermaßen stereotyp, ohne die angesichts der behaupteten tödlichen Bedrohung durch die Islamische Bewegung zu erwartenden Einzelheiten und ohne eine innere Anteilnahme und Betroffenheit des Klägers wiedergegeben. Der Kläger hat die Handlungsabläufe wie auswendig gelernt, nicht aber wie selbst erlebt und erlitten wiedergegeben (wird näher ausgeführt).