Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.10.2000, Az.: 4 L 2927/99
Beihilfe; Bewilligung; Ermessen; Ghetto; Gleichbehandlung; Haft; Häftling; Härtefond; Inhaftierung; Konzentrationslager; Konzentrationslagerhaft; Lager; Lagerhaft; Niedersachsen; NS-Regime; Roma; Schwere; Sinti; Verfolgungsschicksal; Vergleichbarkeit; Volksgruppe; Weltkrieg; Zigeuner; Zigeunerlager; zweiter Weltkrieg
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 11.10.2000
- Aktenzeichen
- 4 L 2927/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 41954
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 02.03.1999 - AZ: 5 A 4187/98
Rechtsgrundlagen
- § 31 Abs 2 BEG
- Art 3 Abs 1 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Angehörige der Volksgruppe der Sinti und Roma, die während des zweiten Weltkrieges in einem sog. Zigeunerlager festgehalten worden sind, haben ein vergleichbar schweres Schicksal erlitten wie Verfolgte des NS-Regimes, die längere Haft in einem Konzentrationslager erlitten haben.
Tatbestand:
Die im Jahre 1920 geborene Klägerin, die der Volksgruppe der Sinti angehört, begehrt die Bewilligung einer laufenden Beihilfe aus dem Niedersächsischen Härtefonds für Hilfen an Verfolgte des NS-Regimes in besonderen Notlagen, die ihr seit 1993 – zunächst in Höhe von 200,-- DM, dann in Höhe von 240,-- DM und zuletzt in Höhe von 300,-- DM monatlich - gewährt wird, in Höhe des Höchstbetrages von 600,-- DM monatlich. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird gemäß § 130 b Satz 1 VwGO auf den Tatbestand des Urteils des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 5. Kammer - vom 2. März 1999 Bezug genommen.
Durch das genannte Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Ablehnung der von der Klägerin verlangten Erhöhung der nach dem Ermessen des Beklagten gewährten Beihilfe sei rechtlich nicht zu beanstanden. Es sei ermessensgerecht, dass der Beklagte für die Bewilligung der begehrten Beihilfe und wegen ihrer Höhe nach der Intensität des jeweiligen Verfolgungsschicksals differenziere und die von der Klägerin begehrte Erhöhung mit der Begründung abgelehnt habe, einem vergleichbaren Rentenberechtigten nach dem Bundesentschädigungsgesetz, der - wie die Klägerin - Sozialhilfe beziehe, verbleibe wegen der Anrechnungsvorschriften des Bundessozialhilfegesetzes im Ergebnis nicht mehr. Die Klägerin werde auch nicht sachwidrig ungleich behandelt. Die von der Klägerin genannten Vergleichsfälle beträfen überwiegend Hilfeempfänger aus anderen Bundesländern und seien deshalb nicht vergleichbar. Auch der von der Klägerin bezeichnete, im Zuständigkeitsbereich des Beklagten wohnhafte Hilfeempfänger W. R. (ihr Schwager), erhalte - wie eine Überprüfung des vorgelegten Verwaltungsvorgangs ergeben habe - höhere Leistungen aus dem niedersächsischen Härtefonds nicht.
Auf den Antrag der Klägerin hat der Senat durch Beschluss vom 19. Juli 1999 die Berufung gegen das angefochtene Urteil wegen besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten zugelassen. Mit der rechtzeitig vorgelegten Begründung der Berufung wiederholt die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen und macht außerdem geltend: Sie habe sowohl ein außergewöhnlich schweres Verfolgungsschicksal erlitten als auch infolgedessen erhebliche Gesundheitsschäden davon getragen und befinde sich überdies in wirtschaftlicher Not und beziehe deshalb Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Summe dieser Umstände rechtfertige, ihr den Höchstbetrag der Härtebeihilfe zu bewilligen. Es sei ermessensfehlerhaft, anderen Personen höhere Beträge als ihr zu gewähren bzw. anderen Personen, die weniger belastet als sie (gewesen) seien, gleich hohe Beträge zu bewilligen.
Die Klägerin beantragt,
unter Änderung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verpflichten, ihr eine Beihilfe aus dem niedersächsischen Härtefonds für Hilfen an Verfolgte des NS-Regimes in Höhe von 600,-- DM monatlich zu gewähren und die angefochtenen Bescheide aufzuheben, soweit sie dem entgegen stehen,
hilfsweise,
den Beklagten zu verpflichten, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er entgegnet: Seine Entscheidung über den Antrag der Klägerin sei ermessensfehlerfrei. Sein Ermessen übe er – in Übereinstimmung mit dem Beirat, dem auch Angehörige der Gruppen der Verfolgten angehörten - regelmäßig dahin aus, dass eine laufende Beihilfe nur bei einem außergewöhnlichen Verfolgungsschicksal bewilligt werde und dass die Höhe der laufenden Beihilfe nach Intensität und Auswirkung der Verfolgung abgestuft werde. Der Höchstbetrag sei bislang nur dann gewährt worden, wenn eine längere Konzentrationslagerhaft und erhebliche Schäden an Körper oder Gesundheit vorlägen, die auf die Verfolgung zurückzuführen seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig und überwiegend begründet. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten, soweit dadurch der Antrag der Klägerin auf Gewährung einer laufenden Beihilfe über die gewährte Leistung von 300,-- DM monatlich hinaus in Höhe des Höchstbetrages von 600,-- DM monatlich abgelehnt worden ist, können keinen Bestand haben. Bei diesen Entscheidungen hat der Beklagte das Gebot der Gleichbehandlung aller Antragsteller, die Beihilfen aus dem Niedersächsischen Härtefonds für Hilfen an Verfolge des NS-Regimes in besonderen Notlagen begehren, nicht genügend beachtet. Dadurch hat er von dem Ermessen, das ihm in den Richtlinien für die Vergabe von Mitteln aus dem Niedersächsischen Härtefonds für Hilfen an Verfolgte des NS-Regimes in besonderen Notlagen (Erlass des MI vom 8.10.1990, Nds.MBl. S. 1185, zuletzt geändert durch Erlass des MI vom 17.12.1998, Nds.MBl. 1999 S. 91, im Folgenden: Richtlinien) eingeräumt ist, nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht und deshalb rechtswidrig entschieden (§ 114 Satz 1 VwGO).
Nach dem Inhalt aller dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel ist die Einordnung des Verfolgungsschicksals der Klägerin durch den Beklagten in das von ihm mitgeteilte System der Abstufung der (laufenden) Beihilfen nicht ermessensgerecht. Schon vor der Verhandlung am 30. November 1999 hat er dem Senat schriftlich mitgeteilt und dies in der Folgezeit weiter erläutert, dass er die Höhe einer laufenden Beihilfe unter Berücksichtigung der Intensität und der Auswirkungen der Verfolgung abgestuft bewillige und dass er den Höchstbetrag von 600,-- DM monatlich bislang nur in wenigen (derzeit fünf) Fällen dann gewähre, wenn der oder die Verfolgte eine längere Konzentrationslagerhaft und erhebliche Schäden an Körper oder Gesundheit erlitten habe, die auf die Verfolgung zurückzuführen seien. Diesen Personen ist die Klägerin gleichzustellen, da sie ein vergleichbar schweres Verfolgungsschicksal und infolgedessen erhebliche Gesundheitsschäden erlitten hat, unter denen sie noch heute leidet.
Allerdings ist das „Lager Lukasstraße 2“ in Stettin, in dem die Klägerin während des Krieges mehrere Jahre festgehalten worden ist, bis ihr im Jahre 1943 die Flucht gelungen und sie in die Illegalität untergetaucht ist, keines der in der Anlage zu § 1 der 6. Verordnung zur Durchführung des Bundesentschädigungsgesetzes vom 23. Februar 1967 (BGBl. I S. 233), zuletzt geändert durch die Verordnung vom 24. November 1982 (BGBl. I S. 1571) aufgeführten Konzentrationslager gewesen. Ein Hauptlager hat es in Stettin nicht gegeben; das unter Nr. 1392 der Anlage 1 genannte „Außenkommando Stettin“ des „Hauptlagers Stutthoff“ kann nach der vom Senat eingeholten Auskunft des Bundesministeriums der Finanzen vom 24. Januar 2000, die wiederum auf die Auskunft des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen vom 13. Dezember 1999 zurückgeht, nicht lokalisiert werden; es lag aber jedenfalls nicht in der Lukasstraße.
Die Lebensverhältnisse während des zwangsweisen Aufenthalts der Klägerin in dem „Lager Lukasstraße“ in Stettin waren zur Überzeugung des Senats denjenigen in einem Konzentrationslager im Sinne des Bundesentschädigungsrechts vergleichbar, insbesondere ähnlich unmenschlich. In der Lukasstraße hatten schon vor 1939 Sinti (und Roma) – so auch die Klägerin – in einer Baracke gelebt. Nach Beginn des Krieges wurde diese Siedlung zu einem sog. „Zigeunerlager“ entwickelt, indem die Bewohner dort „festgeschrieben“, also zum Bleiben verpflichtet und in ihrer (Bewegungs-)Freiheit eingeschränkt wurden; im Laufe der Zeit wurden viele weitere „Zigeuner“ dorthin eingewiesen. Aus dem Lager wurden Menschen willkürlich fortgeschafft, in Vernichtungslager deportiert und dort ermordet. Anfangs wurde das Lager von der allgemeinen Verwaltung eingerichtet, zuständig waren zunächst örtliche Polizeikräfte. Im Laufe der Zeit wurde es dann umzäunt und wurden die Lebensverhältnisse der Häftlinge zunehmend beschränkt. Nach der Schilderung der Zeugen E. A. und M. K. (vor dem Landgericht Köln, 2. Entschädigungskammer) in dem Verfahren P. A. gegen Land Nordrhein-Westfalen (2 N 15 O (Entsch) 359/67, 36/67 u. 371/67) am 3. Dezember 1968 wurde das Lager (später) regelmäßig von Leuten „in schwarzer Uniform“ kontrolliert, was auf die Befehlsgewalt der SS schließen lässt. „Zigeuner“ wurden zwangsweise sterilisiert und mussten Zwangsarbeit leisten; hierzu wurden sie an andere Arbeitsstellen (Tiefbau) geführt und von dort zurückgeführt. Auch der Ehemann der Klägerin gehörte zu diesen Zwangsarbeitern, die Klägerin selbst hatte Kinder zu versorgen und arbeitete deshalb nicht außerhalb des Lagers.
Danach handelte es sich um eines der sog. „Zigeunerlager“, wie sie in der dem Senat vorliegenden wissenschaftlichen Abhandlung von Sybil Milton „Vorstufe zur Vernichtung, die Zigeunerlager nach 1933“ (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1995, S. 115-130) und in dem Schreiben des Instituts für Zeitgeschichte vom 27. Juli 2000 an den Senat beschrieben werden. Sie waren „Haftorte für Sinti und Roma, die von den Stadtverwaltungen eingerichtet und von deren Polizeibehörden überwacht wurden“. In diesen Lagern herrschten ähnlich schlechte Lebensbedingungen wie in den Konzentrationslagern, von solchen „Sammelzentren im Reich“ sind beispielsweise im Mai 1940 2.800 deutsche Zigeuner nach Lublin verbracht worden (s. zur Vergleichbarkeit der haftähnlichen Lebensbedingungen in einem „Zigeunerlager“ in Königsberg mit denen in einem Ghetto: BGH, Urt. v. 23.5.1962 – IV ZR 26/62 -, RzW 1962, 404; ähnlich zum „Zigeunerlager“ Berlin-Marzahn: LSG Berlin, Urt. v. 10.3.1989 – L 5 J 26/85 -, Leitsätze veröffentlicht in Juris). Danach ist die Darstellung der Klägerin glaubhaft, dass aus dem „Lager Lukasstraße“ auch ihre Eltern und ihr Ehemann in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ihre Eltern dort ermordet wurden und ihr – inzwischen verstorbener - Ehemann das Konzentrationslager nur mit schweren Gesundheitsschäden überlebte. Glaubhaft ist daher auch ihre Schilderung, dass die in dem Lager „Festgeschriebenen“ in der ständigen Furcht lebten, selbst deportiert und ermordet zu werden.
Danach erachtet der Senat die Verhältnisse, unter denen die Klägerin mehrere Jahre lang im „Lager Lukasstraße“ verbringen musste, als den Haftbedingungen in einem Konzentrationslager vergleichbar. Wegen des Gebots der Gleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte ist deshalb die vom Beklagten praktizierte Beschränkung der Gewährung des Höchstsatzes der hier streitigen Beihilfe auf Fälle der Inhaftierung in einem Konzentrationslager im Sinne des Bundesentschädigungsrechts sachlich nicht gerechtfertigt. Dem kann der Beklagte nicht mit Erfolg entgegenhalten, der BGH habe entschieden (Urt. v. 13.5.1971 – IX ZR 138/68 -, RzW 1971, 449), es verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, die Vermutung in § 31 Abs. 2 BEG auf die Haft in einem Konzentrationslager zu beschränken und nicht auf die haftähnlichen Bedingungen in einem Ghetto auszudehnen. Denn der BGH hat dort ausgeführt, der Gesetzgeber sei nicht gehindert gewesen, in § 31 Abs. 2 BEG eine bestimmte Gruppe von Verfolgten, nämlich die, die mindestens ein Jahr in Konzentrationslagerhaft gewesen seien, für den Anspruch auf Rente hinsichtlich des Beweises, dass die Minderung der Erwerbstätigkeit verfolgungsbedingt sei, pauschalierend und typisierend besser zu stellen als andere Verfolgte, auch wenn die Bedingungen der Freiheitsentziehung in Einzelfällen an anderen Orten ähnlich unmenschlich gewesen sein mögen. Um eine solche Beweiserleichterung in Form einer gesetzlichen Kausalitätsvermutung geht es hier nicht. Vielmehr stuft der Beklagte selbst die Höhe der laufenden Härteleistungen innerhalb des Rahmens bis zu 600,-- DM monatlich – sachgerecht – nach der Schwere des individuellen Verfolgungsschicksals und der Folgen ab. Dann ist es aber nicht sachgerecht, Angehörige einer bestimmten Gruppe von Verfolgten, nämlich die, die in Konzentrationslagerhaft waren, allein nach diesem Merkmal zu bevorzugen und andere, die unter ähnlich unmenschlichen Bedingungen ihrer Freiheit beraubt waren, ein ähnlich schweres Verfolgungsschicksal erlitten und ähnlich schwere Folgen zu tragen haben, von der Höchstleistung auszuschließen.
Bei der aus der Entscheidung des Senats resultierenden Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung des Antrags der Klägerin vom 16. Oktober 1997 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats wird der Beklagte daher dem Begehren der Klägerin ebenso zu entsprechen haben, wie er dies in Fällen längerer Inhaftierung in einem Konzentrationslager und – zusätzlich – daraus resultierenden erheblichen Schäden an Körper und Gesundheit des Inhaftierten bislang schon getan hat. Die Verpflichtung des Beklagten, dem Begehren der Klägerin uneingeschränkt zu entsprechen, beschränkt sich indessen auf die Vergangenheit, hier: bis zur Rechtskraft dieser Entscheidung. Für die Zukunft ist der Beklagte nicht gehindert, das ihm durch die Richtlinien eröffnete Ermessen durch Neugestaltung seiner Ermessensgrundsätze zu betätigen, so lange die Gleichbehandlung der Klägerin mit Häftlingen in Konzentrationslagern nach dem Bundesentschädigungsrecht gewährleistet bleibt. Diese Neugestaltung der Ermessensgrundsätze des Beklagten zu ermöglichen, ist schon deshalb geboten, weil dem Senat nicht bekannt ist, wie groß die Zahl der in Zukunft zu berücksichtigenden und gleich zu behandelnden Antragsteller sein wird und wie hoch die zur Verfügung stehenden Mittel aus dem Härtefonds sein werden.