Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.06.2005, Az.: 4 OB 193/05
Beschwerde gegen die Verweisung eines Rechtsstreits an die Sozialgerichtsbarkeit; Erstattungsstreitigkeiten zwischen verschiedenen Trägern der Sozialhilfe; Auslegung des Begriffs "Angelegenheiten der Sozialhilfe"
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 21.06.2005
- Aktenzeichen
- 4 OB 193/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 34132
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2005:0621.4OB193.05.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover - 29.04.2005 - AZ: 3 A 2116/05
Rechtsgrundlagen
- § 3 AGB SHG NI
- § 4 AGB SHG NI
- § 51 Abs. 1 Nr. 6 a SGG
Fundstellen
- FEVS 2006, 269-271
- FStBay 2006, 210-212
- KommJur 2006, 159-160
- NJW 2005, XIV Heft 33 (Kurzinformation)
- NJW 2005, 3803 (amtl. Leitsatz)
- NVwZ 2005, 1097-1098 (Volltext mit amtl. LS)
- ZfF 2006, 166
- ZfSH/SGB 2005, 606-607
Verfahrensgegenstand
Sozialrecht
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Gegen Entscheidungen der Behörden nach dem SGB II und SGB XII ist nach dem 1.1.2005 der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet. Verfahren, die vor diesem Zeitpunkt anhängig gemacht wurden, verbleiben in der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte. Dabei ist es unerheblich aus welcher Zeit der geltend gemachte Anspruch stammt. Entscheidend ist allein, der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit.
- 2.
Der Begriff "in Angelegenheiten der Sozialhilfe" nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 Buchst.a SGG ist weit auszulegen und erfasst alle Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Sozialhilfegewährung. Er erfasst auch Erstattungsstreitigkeiten zwischen verschiedenen Trägern der Sozialhilfe oder zwischen dem örtlichen und überörtlichen Träger.
In der Verwaltungsrechtssache
hat der 4. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts
am 21. Juni 2005
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer - vom 29. April 2005 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Die weitere Beschwerde wird nicht zugelassen.
Entscheidungsgründe
Die Klägerin als örtliche Sozialhilfeträgerin hat nach §§ 3 und 4 Nds. AGBSHG Aufgaben übernommen, die ursprünglich dem Beklagten als überörtlichem Träger der Sozialhilfe oblegen hatten. Sie wendet sich mit der Klage gegen einen Bescheid des Beklagten aus dem Jahr 2004, mit dem dieser für das Jahr 2003 eine Überzahlung bei der Abrechnung der der Klägerin bei der Aufgabenwahrnehmung entstandenen Aufwendungen "festgestellt" hat. Sie hat im April 2005 Klage erhoben. Das Verwaltungsgericht hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 29. April 2005 an das Sozialgericht B. verwiesen. Mit der Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Verweisung des Rechtsstreits an die Sozialgerichtsbarkeit.
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Durch Art. 68 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022, 3070) - im Folgenden: EinordnungsG - ist das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) mit Wirkung vom 01. Januar 2005 aufgehoben worden (Art. 70 Abs. 1 EinordnungsG). An die Stelle des BSHG sind zugleich die zum Teil deutlich abweichenden Vorschriften des Sozialgesetzbuchs 12 (Sozialhilfe) - SGB XII - (Art. 1 des EinordnungsG vom 27.12.2003 <BGBl. I S. 3022, 3023>, zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 9.12.2004 <BGBl. I S. 3305>) und des Sozialgesetzbuchs 2 (Grundsicherung für Arbeitsuchende) - SGB II - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24.12.2003 <BGBl. I S. 2934>, zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 19. November 2004 <BGBl. I S. 2902>) getreten. Gegen Entscheidungen der Behörden nach dem SGB II und dem SGB XII, nämlich "in Angelegenheiten der Sozialhilfe", ist nunmehr der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 a Sozialgerichtsgesetz - SGG - i.d.F. des Siebenten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes<7. SGGÄndG> vom 09.12.2004 <BGBl. I S. 3302>).Das 7. SGGÄndG enthält hinsichtlich der am 31. Dezember 2004 bei den Verwaltungsgerichten anhängig gewesenen Rechtsstreitigkeiten aus dem Gebiet der Sozialhilfe eine Übergangsvorschrift nicht. Das bedeutet, dass diese Verfahren bei den Verwaltungsgerichten, soweit sie am 31. Dezember 2004 bei den Verwaltungsgerichten anhängig waren, dort anhängig bleiben (Grundsatz der "perpetuatio fori"). Später anhängig gewordene Verfahren gehören in die Zuständigkeit der Sozialgerichte. Dabei ist es unerheblich, aus welcher Zeit der geltend gemachte Anspruch stammt. Entscheidend ist allein der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit. Da im vorliegenden Fall die Klage im April 2005 erhoben worden ist, ist die Zuständigkeit des Sozialgerichts gegeben.
Die Klägerin wendet hiergegen ohne Erfolg ein, dass ihr Begehren nicht von der Rechtswegzuweisung nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 a SGG erfasst werde, weil zum einen nicht um Sozialhilfe gestritten werde und zum anderen rechtliche Grundlage des Rechtsstreits nicht das BSHG oder das SGB XII, also die Regelungen für die Sozialhilfe, sondern Landesrecht sei.
Es trifft zwar zu, wenn die Klägerin meint, der Streit gehe hier nicht "um Sozialhilfe" in dem Sinne, dass um die Gewährung von Sozialhilfeleistungen gestritten werde. Sie beruft sich dabei aber zu Unrecht auf die Formulierung des Verwaltungsgerichts, für "Streitigkeiten um Sozialhilfe" seien die Verwaltungsgerichte nicht mehr zuständig. Aus dem Zusammenhang der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ergibt sich nämlich, dass das Verwaltungsgericht diese Formulierung nicht als auf Leistungsansprüche aus dem Sozialhilferecht beschränkt, sondern allgemein verstanden wissen wollte. Das entspricht auch der Rechtslage.
§ 51 Abs. 1 Nr. 6 a SGG regelt die Zuständigkeit "in Angelegenheiten der Sozialhilfe". Das ist schon dem Wortlaut nach eine weiter gehende Regelung als es eine Zuständigkeitsregelung "für Streitigkeiten um Sozialhilfe" wäre, denn der Begriff "Angelegenheiten" erfasst alle Streitfragen, die sich im Zusammenhang mit der Sozialhilfegewährung ergeben können.
Der gesetzessystematische Zusammenhang der Bestimmung in der Gesamtregelung der Zuständigkeit im SGG weist nicht auf ein engeres Verständnis der Norm.
Auch die Entstehungsgeschichte des § 51 Abs. 1 Nr. 6 a SGG stützt die Rechtsauffassung der Klägerin nicht. § 51 Abs. 1 Nr. 6 a SGG ist in das SGG aufgenommen worden aufgrund einer im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zur Einbindung des Sozialhilferechts in den Katalog der Sozialgesetzbücher als SGB XII ergangenen Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses des Deutschen Bundestages (BT-Drs. 15/2260 vom 16.12.2003, S.7). Eine Begründung für diese Empfehlung ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien nicht. Der Begriff der "Angelegenheiten der Sozialhilfe" fand sich bis dahin in den Verfahrensordnungen für die Gerichte nur in der Kostenregelung des § 188 VwGO. Es ist nahe liegend anzunehmen, dass diese Formulierung für die Beschlussempfehlung und schließlich die gesetzliche Neuregelung der Zuständigkeit übernommen worden ist. Die Formulierung "Angelegenheiten der Sozialhilfe" in § 188 VwGO ist bis dahin in der Rechtsprechung - im Anschluss an den vorher verwendeten Begriff der "allgemeinen öffentlichen Fürsorge", der durch das Gesetz vom 20.08.1975 (BGBl. I S. 2189, 2229) nur sprachlich geändert und an den inzwischen aktuellen Sprachgebrauch bzw. die aktuellen Gesetzesbezeichnungen angepasst worden ist (Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, Anm. 2 zu § 188) - stets weit ausgelegt worden in dem Sinn, dass darunter alle Sachgebiete fallen, die Fürsorgemaßnahmen betreffen (BVerwG, Urt. v. 15.04.1964 - BVerwG V C 45.63 -, BVerwGE 18,216; Urt. v. 09.10.1973 - BVerwG V C 15.73 -, BVerwGE 44, 110[BVerwG 09.10.1973 - V C 15/73]). Da diese Rechtsprechung im Gesetzgebungsverfahren bekannt gewesen sein dürfte, kann angenommen werden, dass eine andere Formulierung als "Angelegenheiten der Sozialhilfe" für die Zuständigkeitsregelung gewählt worden wäre, wenn ein engeres Verständnis gewollt gewesen wäre.
Es würde schließlich auch jeder sachliche Grund fehlen, zwar die Streitigkeiten über die Sozialhilfeleistungen selbst den Sozialgerichten zuzuweisen, spätere Erstattungsstreitigkeiten zwischen verschiedenen Trägern der Sozialhilfe oder zwischen dem örtlichen und dem überörtlichen Träger aber in der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte zu belassen. Die Zuweisung aller mit der Sozialhilfe verbundenen Streitigkeiten entsprach vielmehr einer verbreiteten Ansicht, dass die Trennung der Sozialhilfe von dem übrigen Sozialrecht und die damit verbundene Zuweisung der Zuständigkeit an die Verwaltungsgerichte zwar historisch begründet, aber weder sachgerecht noch zeitgemäß sei (vgl. z.B. Gühlstorf, ZfF 2005, S. 12).
Der Klägerin kann auch nicht in ihrer Ansicht zugestimmt werden, dass hier eine Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte verblieben sei, weil ihr Begehren nicht aus dem BSHG oder dem SGB XII, also den Regelungen der Sozialhilfe folge, sondern sich aus Landesrecht, nämlich dem Nds. Ausführungsgesetz zum BSHG (AGBSHG) ergebe. Auch eine Streitigkeit nach dem AGBSHG gehört zu den "Angelegenheiten der Sozialhilfe". Wie bereits gesagt, ist der Begriff der "Angelegenheiten der Sozialhilfe" schon vom Wortlaut her nicht auf Streitigkeiten aus dem BSHG oder dem SGB XII beschränkt. Auch in der Sache wäre eine Trennung der Zuständigkeit für Streitigkeiten nach dem AGBSHG von den anderen mit der Sozialhilfe verbundenen Rechtsstreitigkeiten nicht einzusehen. § 96 BSHG bestimmte, wer örtlicher bzw. überörtlicher Träger der Sozialhilfe ist, und überließ es den Bundesländern, (abweichende) Einzelheiten selbst zu regeln. Das ist für Niedersachsen mit dem Nds. AGBSHG (i.d.F. der Bekanntmachung vom 20.03.1997 <Nds. GVBl. S. 85>, zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.11.2000 <Nds. GVBl. S. 294>) geschehen, wobei auch die Heranziehung von Kommunen zur Durchführung von Aufgaben der örtlichen Träger bzw. des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe und der Ausgleich der dabei aufgewendeten Kosten geregelt wurde. Dass diese Regelungen einen engen Zusammenhang mit den Regelungen des BSHG über die Leistungsgewährung und die Zuständigkeiten hierfür haben, ist offensichtlich. Auch bei Streitigkeiten aufgrund der Regelungen des Nds. AGBSHG handelt es sich deshalb um "Angelegenheiten der Sozialhilfe", die nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 a SGG jetzt zum Zuständigkeitsbereich der Sozialgerichte gehören.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Zulassung der weiteren Beschwerde kommt nicht in Betracht, da Zulassungsgründe im Sinne des § 17 a Abs. 4 Satz 5 GVG nicht vorliegen.
Dieser Beschluss ist gem. § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
Willikonsky
Tröster