Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.06.2005, Az.: 12 ME 161/05
Behinderung; Beschulung; Eingliederungshilfe; Hochbegabte; Hochbegabung; Internat; Internatskosten; Jugendhilfe; Kind; Schüler; seelische Behinderung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 09.06.2005
- Aktenzeichen
- 12 ME 161/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50997
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 11.04.2005 - AZ: 4 B 279/05
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs 1 SGB 9
- § 35a SGB 8
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Zu den Voraussetzungen einer Übernahme von Kosten, die durch die Beschulung in einem Internat für Hochbegabte entstehen, nach § 35 a SGB VIII
Gründe
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, durch den dieses den Antrag abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig – bis zur rechtskräftigen Entscheidung der bei dem Verwaltungsgericht anhängigen Klage im Hauptsacheverfahren (Az.: 4 A 1531/03) – im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII die Kosten für den Besuch des Hochbegabtenzweiges der D. – E. – (im Folgenden: F.) mitsamt den Kosten der Internatsunterbringung zu übernehmen, hat keinen Erfolg.
Die am 10. Juni 1989 geborene Antragstellerin, deren Hochbegabung zwischen den Beteiligten unstreitig ist, besuchte bis zum Abschluss der 8. Klasse das Gymnasium G. in H.. Seit August 2003 wird die Antragstellerin in dem Sonderförderzweig für Hochbegabte der F. in I. beschult und steht dort nunmehr vor dem Abschluss der 10. Klasse. Die monatlichen Kosten für den Besuch der in privater Trägerschaft stehenden Einrichtung mitsamt Internatsunterbringung belaufen sich nach Angaben der Antragstellerin auf 2400,- €. Unter dem 15. April 2003 beantragte die Antragstellerin bei dem Antragsgegner die Übernahme dieser Kosten auf der Grundlage des § 35 a SGB VIII. Dieses lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 9. Juli 2003 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 8. September 2003 ab, weil die Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII betreffend die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nicht gegeben seien. Die Eltern der Antragstellerin haben deshalb bisher die Kosten für deren Schul- und Internatsbesuch selbst getragen. Nach ihren Angaben hat die Einrichtung ihnen bisher monatlich nur gut 1350,- € in Rechnung gestellt und den Differenzbetrag bis auf Weiteres gestundet.
Am 15.Februar 2005 hat die Antragstellerin bei dem Verwaltungsgericht um eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Kostenübernahme im Wege der einstweiligen Anordnung nachgesucht, da ihre Eltern zur weiteren Kostentragung nicht in der Lage seien. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 11. April 2005 hat das Verwaltungsgericht – im wesentlichen durch einen Verweis auf die Gründe der angefochtenen Bescheide und den Vortrag des Antragsgegners im Klage- und Eilverfahren – den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt.
In der Begründung ihrer hiergegen in zulässiger Weise erhobenen Beschwerde rügt die Antragstellerin, das Verwaltungsgericht habe sich ohne eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihrem Vorbringen den Darlegungen des Antragsgegners angeschlossen. Dieser habe sie jedoch nie selbst untersuchen lassen. Ihre Hochbegabung habe zu einer – jedenfalls drohenden – seelischen Behinderung geführt, weil sie vor ihrem Wechsel an die F. als Folge ihrer Hochbegabung an erheblichen seelischen und psychischen Störungen, Schulunlust, Vereinsamung und psychosomatischen Erkrankungen gelitten habe. Das von ihr vormals besuchte Gymnasium G. habe sich nicht dazu in der Lage gesehen, sie entsprechend ihrer Hochbegabung ausreichend weiter zu betreuen. Seit dem Beginn ihrer Beschulung an der F. in I. seien die beschriebenen Erkrankungssymptome nicht mehr vorhanden, sie werde jedoch in den vorherigen Zustand zurückfallen, wenn sie die Einrichtung in I. nicht weiter besuchen könne.
Unter den von der Antragstellerin dargelegten Gesichtspunkten, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ist der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts nicht zu beanstanden. Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch dann nicht, wenn man in Anbetracht der äußerst knappen Begründung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses das Begehren der Antragstellerin einer weitergehenden Überprüfung unterzieht, die allerdings im Eilverfahren nur summarischen Charakter haben kann.
Der Senat vermag bereits nicht zu erkennen, dass für das Begehren der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO ein Anordnungsgrund in dem Sinne bestünde, dass der Antragstellerin ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten wäre. Die Eltern der Antragstellerin, die ein Bauunternehmen betreiben, haben die Kosten für die Beschulung und internatsmäßige Unterbringung der Antragstellerin in der F. in I. fast zwei Jahre lang getragen. Dass ihnen dies nunmehr bis zu einer Entscheidung des Hauptsacheverfahrens nicht mehr möglich sein sollte und die Antragstellerin infolgedessen die Einrichtung in I. verlassen müsste, haben die Antragstellerin bzw. ihre Eltern nicht entsprechend den Erfordernissen des § 123 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht.
Der Vortrag, den die Antragstellerin bzw. ihre Eltern im Zusammenhang mit der Darlegung eines Anordnungsgrundes in der erstinstanzlichen Antragsschrift anbringen, bleibt von der Wortwahl her merklich vage. Die finanzielle Situation im Hinblick auf das zu zahlende Schulgeld habe sich so zugespitzt, dass „zu befürchten“ sei, dass die Antragstellerin im kommenden Schuljahr die F. nicht länger werde besuchen können (S. 3 der Antragsschrift vom 14.2.2005, Blatt 6 d. GA). Wie lange die Einrichtung an ihrem Entgegenkommen im Hinblick auf die geforderten Kosten festhalten werde, sei „ungewiss“, so dass „anzunehmen“ sei, dass die Antragstellerin die Schule werde verlassen müssen, wenn nicht der Antragsgegner die entstehenden Kosten als Eingliederungshilfe übernehme (S. 5 des Antragsschriftsatzes, Blatt 8 d. GA). Hinzu kommt, dass die Antragstellerin und ihre Eltern Bescheinigungen über die effektiv entstehenden Kosten für den Besuch der Einrichtung in I., die nach ihren Angaben bisher gewährte Ermäßigung und das behauptete Auslaufen der Ermäßigungsregelung nicht vorgelegt haben. Ebenso wenig sind Belege – etwa in Form einer Bilanz bzw. einer Gewinn- und Verlustrechnung - des von den Eltern der Antragstellerin betriebenen Bauunternehmens vorgelegt worden, die die aufgemachte Rechnung der finanziellen Belastung der Eltern der Antragstellerin (S. 4 der Antragsschrift vom 14.2.2005, Blatt 7 d. GA) zu untermauern geeignet wären. Es ist weiterhin nicht erkennbar, ob und gegebenenfalls inwieweit den Eltern der Antragstellerin für die Dauer des Hauptsacheverfahrens eine Reduzierung ihrer geltend gemachten hohen fixen Kosten zumutbar sein könnte. Schließlich bleibt der Vortrag, für das Baugeschäft der Eltern der Antragstellerin müsse ein dringend notwendiges Gerät für ca. 50.000 € angeschafft werden, wenn nicht die betrieblichen Belange erheblich leiden sollten, vollständig im Dunkeln.
Abgesehen hiervon und die Entscheidung des Senats selbständig tragend scheitert das Begehren der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auch daran, dass nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand der für die vorläufige Gewährung der begehrten Jugendhilfeleistung erforderliche Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht ist.
Nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder und Jugendliche einen Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate abweicht und als Folge davon die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (vgl. auch § 2 Abs. 1 SGB IX). Gemäß § 35 a Abs. 2 SGB VIII wird die Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall geleistet.
Hier lässt sich anhand der Aktenlage und der von der Antragstellerin vorgelegten Bescheinigungen – insbesondere der Begutachtungen der Kinderambulanz, Klinische Neuropsychologie der Universität J. vom 17. Juni 2003 und 5. August 2004 – bereits im Hinblick auf das Ende der Schulzeit der Antragstellerin am Gymnasium G. im Sommer des Jahres 2003 eine (drohende) Behinderung in dem genannten Sinne nicht feststellen. Zwar heißt es in der Zusammenfassung der Begutachtung vom 17. Juni 2003, dass die Antragstellerin infolge ihres außerordentlichen Leistungsvermögens in der Schule (dem Gymnasium G.) sozial isoliert sei und dort nicht mehr entsprechend ihren intellektuellen Möglichkeiten ausreichend beschult werden könne. Ferner komme es zu psychosomatischen Beschwerden. Es sei also davon auszugehen, dass eine seelische Beeinträchtigung infolge von Schulschwierigkeiten vorliege, so dass die Voraussetzungen des § 35 a KJHG (SGB VIII) erfüllt seien. Es ist jedoch nicht ersichtlich, auf welchem Wege die Gutachter zu dieser Diagnose gelangt sind. Insbesondere stützt sich das Gutachten im Hinblick auf die als psychosomatisch qualifizierten Kopf-, Rücken- und Bauchschmerzen offenbar in erster Linie auf Berichte der Antragstellerin bzw. ihrer Eltern. Entsprechend heißt es in den von den Eltern der Antragstellerin erstinstanzlich vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen vom 7. Februar 2005 (Blatt 16 und 18 der GA) , die Antragstellerin habe an körperlichen Problemen wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Übelkeit gelitten, „von denen wir Eltern annehmen, dass es sich um psychosomatische Probleme gehandelt hat“. Eine abweichende Beurteilung wird nach dem derzeitigen Erkenntnisstand durch die in den Akten befindlichen Stellungnahmen des seinerzeitigen Klassenlehrers der Antragstellerin, des Bezirkssozialarbeiters des Antragsgegners und des in der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern des Antragsgegners tätigen Diplom-Psychologen (Beiakte A, Bl. 17 ff., 38 ff. und BA B, Bl. 4 ff.) nahegelegt. Trotz der von der Antragstellerin vor allem gegen die beiden letztgenannten Stellungnahmen vorgebrachten Einwände erscheinen diese dem Senat vor dem Hintergrund des übrigen Akteninhaltes im Rahmen des Eilverfahrens als nachvollziehbar und schlüssig.
Ein weiterer entscheidender Gesichtspunkt kommt hinzu: Für das Eilverfahren, das im Falle eines Obsiegens der Antragstellerin nach den Grundsätzen der ständigen Rechtsprechung des Senats zu einer Verpflichtung des Antragsgegners zur Kostenübernahme nur ab dem Ersten des Monats der Senatsentscheidung führen könnte, kann nicht auf den seelischen und gesundheitlichen Zustand abgestellt werden, in dem sich die Antragstellerin im Sommer des Jahres 2003 befunden hat. Maßgebend ist vielmehr ihre aktuelle Befindlichkeit. Diese ist nach dem eigenen Vortrag der Antragstellerin und ihrer Eltern in seelischer und körperlicher Hinsicht gut. Vor diesem Hintergrund erscheint der in der Begutachtung der Kinderambulanz, Klinische Neuropsychologie der Universität J. vom 5. August 2004 gezogene Schluss nicht zwingend, der Antragstellerin drohe, wenn sie nunmehr die F. in I. verlassen müsse, quasi automatisch ein Rückfall in den vor zwei Jahren bestehenden, mit den Begriffen der sozialen Isolation und der Schulunlust gekennzeichneten Zustand. Demgegenüber muss zur Überzeugung des Senats die insoweit anzustellende Prognose in tatsächlicher Hinsicht davon ausgehen, dass die Antragstellerin mittlerweile zwei Jahre älter geworden und in ihrer seelischen und gesundheitlichen Konstitution weitaus gefestigter ist. Zwar kann nicht verkannt werden, dass die Antragstellerin durch ein Heraustrennen aus ihren in I. gefundenen schulischen und persönlichen Beziehungen hart getroffen werden würde. Jedoch kann nicht angenommen bzw. jedenfalls nicht als glaubhaft gemacht angesehen werden, dass sie, würde sie nunmehr wieder ein Gymnasium in ihrer Heimatregion – das nicht zwingend wiederum das Gymnasium G. sein müsste – besuchen, in ihrer persönlichen und seelischen Entwicklung ungeachtet ihrer in den letzten zwei Jahren erzielten Fortschritte gewissermaßen wieder bei Null neu beginnen müsste.
Abgesehen von alledem muss sich die Antragstellerin – nach dem derzeitigen Erkenntnisstand anspruchsvernichtend – entgegen halten lassen, dass sie vor dem Besuch der F. in I. andere geeignete und erheblich kostengünstigere Möglichkeiten der Förderung und Hilfe nicht hinreichend wahrgenommen hat (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Der Antragsgegner verweist in diesem Zusammenhang zu Recht etwa auf den in dem Zeugnis der Antragstellerin für die 8. Klasse (Bl. 78 der GA zum Verfahren 4 A 1531/03) enthaltenen Vorschlag des Gymnasiums G., das 9. Schuljahr zu überspringen und auf das Angebot seiner Erziehungsberatungsstelle in K. mit der dort vorhandenen Kompetenz auch für hochbegabte Kinder und Jugendliche. Schließlich zieht die Feststellung einer seelischen Störung – unterstellt eine solche hätte, wovon nach den obigen Darlegungen nicht auszugehen ist, bei der Antragstellerin im Jahr 2003 überhaupt vorgelegen – nicht zwangsläufig die Annahme einer seelischen Behinderung nach sich, da sie häufig einer kinder- bzw. jugendpsychiatrischen oder kinder- oder jugendtherapeutischen Behandlung zugänglich ist (vgl. Vondung, in: LPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2003, § 35 a, Rn. 7).