Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 14.12.2017, Az.: 8 LC 99/17
Teilautonomer Hoheitsträger als Zielstaat der Abschiebung; Zielstaatsbestimmung "Palästinensische Autonomiegebiete" in einer Abschiebungsandrohung; Bestimmung über Einreise und Aufenthalt in dem von ihnen beherrschten Gebiet
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 14.12.2017
- Aktenzeichen
- 8 LC 99/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2017, 30085
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 59 Abs. 2 AufenthG
- § 3 Nr. 3 RL2008/115/EG
- § 2 Buchst n RL2011/95/EU
Fundstellen
- AUAS 2018, 38-41
- DÖV 2018, 291-292
- InfAuslR 2018, 134-137
- NVwZ-RR 2018, 454
- ZAR 2018, 454
Amtlicher Leitsatz
Zielstaat der Abschiebung i.S.d. § 59 Abs. 2 AufenthG können neben Staaten im völkerrechtlichen Sinne auch teilautonome Hoheitsträger sein, die über Einreise und Aufenthalt in dem von ihnen beherrschten Gebiet bestimmen können.
Urteil vom 14.12.2017 - 8 LC 99/17
hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 8. Senat - auf die mündliche Verhandlung vom 14. Dezember 2017 durch den Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts Dr. Smollich, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Baer, den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Allner sowie die ehrenamtliche Richterin C. und den ehrenamtlichen Richter D. für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 31. Mai 2017 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich noch gegen die Zielstaatsbestimmung "Palästinensische Autonomiegebiete" in einer Abschiebungsandrohung.
Der 34 Jahre alte, in Jerusalem geborene Kläger ist palästinensischer Volkszugehöriger und staatenlos. Er wohnte zuletzt in Bethlehem (Westjordanland). Im August 2009 reiste der Kläger, der über eine unbefristete Rückkehrberechtigung verfügt, mit einem Visum in das Bundesgebiet ein, um in Deutschland ein Magisterstudium der Rechtswissenschaften zu absolvieren. Ihm wurde eine Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken erteilt, die zuletzt bis zum 15. Juni 2014 gültig war. Er legte einen Reiseausweis der Palästinensischen Autonomiebehörde vor, dessen Gültigkeit zuletzt bis zum 11. Oktober 2015 verlängert wurde.
Mit Urteil vom 23. April 2014 wurde der Kläger durch das Amtsgericht Göttingen (62 Ls 45 Js 34812/13) wegen vorsätzlicher Körperverletzung, sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und versuchter Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt.
Die Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 13. Mai 2015 wegen der strafrechtlichen Verurteilung aus der Bundesrepublik Deutschland aus und setzte die Sperrwirkung der Ausweisung auf vier Jahre fest. In dem Bescheid wurde weiter verfügt, dass die Abschiebung "in das Palästinensische Autonomiegebiet" aus der Strafhaft eingeleitet werde. Die Beklagte forderte den Kläger für den Fall, dass er nicht aus der Strafhaft heraus abgeschoben werden könne, auf, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheids freiwillig zu verlassen. Für den Fall der nicht freiwilligen Ausreise drohte die Beklagte dem Kläger die Abschiebung nach "Palästina" an.
Der Kläger hat am 1. Juni 2015 Klage erhoben und geltend gemacht, er könne als staatenloser Palästinenser nicht abgeschoben werden. Voraussetzung für eine Abschiebung sei, dass der Zielstaat der Abschiebung genau benannt werden könne. Es existiere jedoch weder ein Staat Palästina, noch gebe es eine palästinensische Staatsangehörigkeit. Seine Ausreise sei aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen unmöglich.
Der Kläger ist am 4. Dezember 2015 vorzeitig aus der Haft entlassen worden.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid vom 13. Mai 2015 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat geltend gemacht, die Bezeichnung des Herkunftsstaates laute bei palästinensischen Volkszugehörigen "das palästinensische Autonomiegebiet".
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 31. Mai 2017 als unbegründet abgewiesen. Die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten.
Die beklagte Stadt Göttingen habe dem Kläger auch die Abschiebung in die Palästinensischen Autonomiegebiete androhen dürfen. Zwar sei Zielstaat einer Abschiebung i. S. d. § 59 Abs. 2 AufenthG nach herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ein Staat im völkerrechtlichen Sinn. Darunter fielen die Palästinensischen Autonomiegebiete nicht. Allerdings werde von dem Begriff des Zielstaats nach europarechtlich informierter Auslegung unter Zugrundelegung von Art. 2n der Qualifikationsrichtlinie auch der Hoheitsträger erfasst, dem das Herkunftsland des Betroffenen völkerrechtlich zugeordnet werde. Das seien das Land oder die Länder der Staatsangehörigkeit oder - bei Staatenlosen - des früheren gewöhnlichen Aufenthalts, die nicht Staat im völkerrechtlichen Sinne sein müssten.
Die Palästinensischen Autonomiegebiete seien als völkerrechtlich verfasster Hoheitsträger Staat im Sinne von § 59 Abs. 2 AufenthG und könnten von der Beklagten als Ziel der angedrohten Abschiebung benannt werden.
Hinsichtlich des Zielstaats Palästinensische Autonomiegebiete bestünden auch keine zwingenden Abschiebungshindernisse, die ganz ausnahmsweise bereits bei der Frage der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen wären. Weder die freiwillige Rückkehr des Klägers in die Palästinensischen Autonomiegebiete noch seine zwangsweise Abschiebung dorthin seien praktisch auf unabsehbare Zeit unmöglich.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassene Berufung des Klägers gegen die Zielstaatsbestimmung in der Abschiebungsandrohung. Zur Begründung trägt der Kläger vor, es existiere kein eigenständiger Staat Palästina, sodass die Zielstaatsbestimmung Palästinensisches Autonomiegebiet fehlerhaft und daher aufzuheben sei. Die Festlegung des Zielstaates nehme an der Regelungswirkung der Abschiebungsandrohung teil. Durch die fehlerhafte Zielstaatsbezeichnung sei er auch in eigenen Rechten verletzt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 31. Mai 2017 abzuändern und die mit Bescheid der Beklagten vom 13. Mai 2015 ausgesprochene Abschiebungsandrohung, soweit dort die Zielstaatsbestimmung in die Palästinensischen Autonomiegebiete bestimmt ist, aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, § 59 Abs. 2 AufenthG sei lediglich eine Ordnungsvorschrift, auf die sich der Kläger nicht berufen könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Beiakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber nicht begründet.
Die Berufung ist zulässig. Der Kläger hat gegen das ihm am 19. Juni 2017 zugestellte Urteil am 5. Juli 2017 und somit innerhalb der Monatsfrist des § 124a Abs. 2 Satz 1 VwGO bei dem Verwaltungsgericht Göttingen Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründung folgte am 2. August 2017 und am 15. August 2017 beim Senat und somit innerhalb der zweimonatigen Frist des § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO.
Sie genügt - noch - den Erfordernissen des § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO. Danach muss die Berufung einen bestimmten Antrag sowie im Einzelnen anzuführende Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten. Die Begründung der Berufung muss erkennen lassen, aus welchen rechtlichen oder tatsächlichen Gründen dieses Urteil nach Ansicht des Berufungsklägers unrichtig sein soll und geändert werden muss (BVerwG, Beschl. v. 17.12.2015 - 6 B 24/15 -, Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 48, juris Rn. 7; W. - R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 124a Rn. 34).
Mit seinem Vorbringen, es existiere kein eigenständiger Staat Palästina, so dass die Zielstaatsbestimmung "Palästinensisches Autonomiegebiet" fehlerhaft sei, macht der Kläger sinngemäß geltend, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei eine Abschiebung nur in einen Staat im völkerrechtlichen Sinne zulässig.
Die Berufung ist nicht begründet. Die erhobene Klage ist zwar zulässig, aber nicht begründet.
Insbesondere ist der Kläger i.S.d. § 42 Abs. 2 VwGO in Bezug auf die Zielstaatsbestimmung klagebefugt. Zwar ist § 59 Abs. 2 AufenthG insofern nur eine Ordnungsvorschrift, als das Fehlen der Zielstaatsbestimmung eine Abschiebungsandrohung nicht rechtswidrig macht (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.2.2014 - 10 C 6.13 -, juris Rn. 25). Ist aber eine Zielstaatsbestimmung vorhanden, so hat sie Informations- und Anstoßfunktion für den betroffenen Ausländer. Insoweit ist § 59 Abs. 2 AufenthG dessen Interessen zu dienen bestimmt und verleiht ihm ein subjektives Recht, das durch eine fehlerhafte Zielstaatsbestimmung möglicherweise verletzt wird (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 25.7.2000 - 9 C 42.99 -, BVerwGE 111, 343, juris Rn. 14; v. 11.9.2007 - 10 C 8.07, BVerwGE 129, 251, juris Rn. 20). Hierüber hilft die Möglichkeit der Nachholung einer Zielstaatsbestimmung nicht hinweg, denn ist eine (auch fehlerhafte) Zielstaatsbestimmung vorhanden und bestandskräftig, besteht für die Behörde kein Anlass zu einer solchen Nachholung.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Zielstaatsbestimmung auf Grundlage des § 59 Abs. 2 AufenthG in dem Bescheid vom 13. Mai 2015 zu Recht als unbegründet abgewiesen. Nach § 59 Abs. 2 AufenthG soll in der Androhung der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist.
Die Beklagte hat in dem Tenor der Abschiebungsandrohung mit "Palästina" ein Gebiet bezeichnet, in das der Kläger abgeschoben werden soll, sofern - wie geschehen - eine Abschiebung aus der Strafhaft nicht erfolgen kann. Das Zielgebiet der Abschiebung ist nach dem maßgeblichen objektivierten Empfängerhorizont dahingehend auszulegen, dass nicht ein historisches Gebiet gemeint ist, sondern der Kläger in die Palästinensischen Autonomiegebiete abgeschoben werden soll. Diese werden im Zusammenhang mit der vordringlich beabsichtigten Abschiebung aus der Haft heraus ausdrücklich genannt. Es ist nicht ersichtlich, dass eine Abschiebung in ein anderes Gebiet beabsichtigt ist (vgl. zu den Schwierigkeiten der exakten Bezeichnung des Herkunftsgebietes des Klägers Niedersächsisches OVG, Urt. v. 26.1.2012 - 11 LB 97/11 -, InfAuslR 2012, 149, juris Rn. 31 m.w.N.).
Zwar sind die Palästinensischen Autonomiegebiete kein Staat im völkerrechtlichen Sinn und deshalb vom Wortlaut des § 59 Abs. 2 AufenthG nicht unmittelbar umfasst (1), allerdings ist die Vorschrift unter Berücksichtigung des Europarechts dahingehend auszulegen, dass auch ein sonstiger Hoheitsträger unter bestimmten Umständen Zielstaat einer Abschiebung sein kann (2).
1.
Die angefochtene Zielstaatsbestimmung ist nicht bereits deshalb rechtmäßig, weil sie sich auf einen Staat im völkerrechtlichen Sinne bezöge.
Ziel einer Abschiebung ist nach dem Wortlaut des § 59 Abs. 2 AufenthG ein Staat. Mit der Angabe des Zielstaates der Abschiebungsandrohung soll im Interesse der Verfahrensbeschleunigung eine Klärung der Zulässigkeit der Abschiebung bereits im Rahmen der Abschiebungsandrohung herbeigeführt und das weitere Vollstreckungsverfahren hiervon möglichst entlastet werden (vgl. OVG Saarland, Beschl. v. 15.4.2015 - 2 A 343/14 -, Asylmagazin 2015, 256, juris Rn. 7 m.w.N.). Welche staatsrechtliche Qualität das Ziel der Abschiebung haben muss, lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur geht dahin, dass Zielstaat einer Abschiebungsandrohung i. S. d. § 59 Abs. 2 AufenthG ein Staat im völkerrechtlichen Sinne sein müsse (Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 21.4.2004 - 11 LA 61/04 -, NVwZ-RR 2004, 535, juris Rn. 5; für den Fall der völkerrechtlichen Sezession der Republik Kosovo von der Bundesrepublik Jugoslawien: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 22.7.2008 - 11 S 1771/08 -, InfAuslR 2008, 420, juris Rn. 6 unter Hinweis auf BVerwG, Urt. v. 8.5.2003 - 1 C 4/02 -, InfAuslR 2004, 40, juris Rn. 20 für Serbien und Montenegro; zum Status von Berg-Karabach: Bayerischer VGH, Urt. v. 18.8.2006 - 9 B 04.30794 -, juris Rn. 19 f.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 59 Rn. 31 (Feb. 2016); Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 77 f. (Dez. 2016)). Um einen Staat im völkerrechtlichen Sinne handelt es sich, wenn sich ein auf einem bestimmten Gebiet sesshaftes Volk unter einer selbstgesetzten, von keinem Staat abgeleiteten, effektiv wirksamen und dauerhaften Ordnung organisiert hat (vgl. Bayerischer VGH, Urt. v. 18.8.2006 - 9 B 04.30794 -, NVwZ-RR 2004, 788 [OVG Nordrhein-Westfalen 31.03.2004 - 18 E 1162/03], juris Rn. 20 m.w.N.).
Hierunter fallen die aus dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland bestehenden Palästinensischen Autonomiegebiete, deren genaue Abgrenzung hier dahinstehen kann, nicht. Diese werden nicht als unabhängiger Staat, sondern lediglich als autonome politische Einheit mit der Palästinensischen Autonomiebehörde als Vertretung angesehen (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 21.4.2004 - 11 LA 61/04 -, NVwZ-RR 2004, 788 [OVG Nordrhein-Westfalen 31.03.2004 - 18 E 1162/03], juris Rn. 9; Urt. v. 26.1.2012 - 11 LB 97/11 -, InfAuslR 2012, 149, juris Rn. 31 ff. m.w.N.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.2.1989 - 18 A 858/87 -, NVwZ 1989, 790 [OVG Saarland 23.09.1988 - 1 W 380/88], juris Rn. 47; VG Augsburg, Urt. v. 6.9.2016, Au 6 K 16.30973 -, juris Rn. 32).
Der Status der Palästinensischen Autonomiegebiete beruht auf Verträgen zwischen Israel und der PLO im Rahmen des sog. Oslo-Friedensprozesses. Insbesondere mit dem sog. Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gaza-Streifen vom 24. September 1995 (auch Oslo II genannt) bekamen die Palästinenser für etwa 18 % des Westjordanlandes (Zone A) autonome Regierungskompetenzen zugesprochen. In etwa 20 % des Gebietes teilen sich die Palästinensische Autonomiebehörde und Israel die Verwaltung (Zone B). Die restlichen 62 % (Zone C) unterstehen ganz der israelischen Zivil- und Militärverwaltung (Südwest Presse v. 24.2.2012; Stettner, Legal Fact Sheet: Palästinensische Staatlichkeit nach Völkerrecht, Konrad-Adenauer-Stiftung 2012, S. 2). Das System der Verträge sieht eine beschränkte Übertragung ausdrücklich übertragener Kompetenzen auf die Palästinensische Autonomiebehörde vor. Hierzu gehören nicht die unabhängige und effektive Staatsgewalt und die Fähigkeit, mit anderen Staaten in Kontakt zu treten. Der Palästinensische Rat verfügt nur über eine begrenzte Regierungsfähigkeit unter israelischer Aufsicht (vgl. im einzelnen Hauswaldt, Der Status von Palästina, Diss. Leipzig 2008, S. 190 ff.). Damit fehlt die für die Annahme eines Staates erforderliche selbstgesetzte Staatsgewalt (vgl. Herdegen, Völkerrecht, 7. Aufl. 2008, § 7 Rn. 7; Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 5 Rn. 7).
2.
Die Palästinensischen Autonomiegebiete sind ein Staat im Sinne von § 59 Abs. 2 AufenthG und konnten von der Beklagten zu Recht als Ziel der angedrohten Abschiebung benannt werden.
§ 59 Abs. 2 AufenthG erfasst neben Staaten im völkerrechtlichen Sinne auch teilautonome Hoheitsträger, die über Einreise und Aufenthalt in dem von ihnen beherrschten Gebiet bestimmen können. Dieses Verständnis trägt dem Umstand Rechnung, dass Ziel der Abschiebung insbesondere ein Herkunftsland ist und dass dieser Begriff europarechtlich geprägt ist.
Gemäß Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) ist "Rückkehr" die Rückreise von Drittstaatsangehörigen - in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung - in
- deren Herkunftsland oder
- ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder
- ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird.
Der Kläger unterfällt der Rückführungsrichtlinie, denn er ist kein Unionsbürger und hält sich nach Ablauf der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis illegal im Bundesgebiet auf. Die Beklagte war - da eine Legalisierung des Aufenthaltes aufgrund der Ausweisung nicht in Betracht kommt - nach Art. 6 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie verpflichtet, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, d.h. eine behördliche Entscheidung, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird (Art. 3 Nr. 4 Rückführungsrichtlinie). Die Abschiebungsandrohung ist eine Rückkehrentscheidung i. S. d. Rückführungsrichtlinie (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29.3.2017 - 11 S 2029/16 -, juris Rn. 95), weil sie die Voraussetzung für eine zwangsweise Durchsetzung der Rückführung des Klägers in sein Herkunftsland begründet. Indem Art. 3 Nr. 3 1. Spiegelstrich Rückführungsrichtlinie die Rückkehr in das Herkunftsland vorsieht, verlangt die Vorschrift ihrem Wortlaut nach nicht zwingend, dass Ziel der Abschiebung ein Staat im völkerrechtlichen Sinne ist. Sie spricht von einem Land (in anderen Sprachfassungen: country, pays, paese) und nicht von einem Staat (state, état, stato). Mit dem Begriff des Herkunftslandes verwendet die Richtlinie zudem ein auch im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gebräuchliches Konzept.
Dass die Zielstaatsbestimmung gemäß § 59 Abs. 2 AufenthG Bezüge zum Asylrecht aufweist, ergibt sich weiter aus dem Zweck der Vorschrift. Dem Ausländer wird Gelegenheit gegeben, etwaige Abschiebungshindernisse hinsichtlich des benannten Zielstaats im Rechtsschutzverfahren geltend zu machen; die Zielstaatsbestimmung hat Mahn- und Warnfunktion (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.11.1999 - 9 C 4/99 -, BVerwGE 110, 74, juris Rn. 15). Indem die Zielstaatsbezeichnung die Geltendmachung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse ermöglicht, hat sie besonderen Bezug zum Asylrecht.
Gemäß Art. 2 lit. n der Neufassung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie n.F.) bezeichnet der Ausdruck "Herkunftsland" das Land oder die Länder der Staatsangehörigkeit oder - bei Staatenlosen - des früheren gewöhnlichen Aufenthalts.
Für den Kläger als staatenlosen Palästinenser sind die Palästinensischen Autonomiegebiete das Land des letzten Aufenthalts. Machte er eine Verfolgung geltend, so könnte er auf den Schutz der Palästinensischen Autonomiebehörde als Organisation i.S.d. Art. 7 Abs. 1 lit. b Qualifikationsrichtlinie n.F. verwiesen werden. Da es sich zugleich um die einzige dieses Gebiet beherrschende Organisation handelt und dieses auch nicht das Staatsgebiet eines anderen Staates bildet, haben die Palästinensischen Autonomiegebiete für den Kläger dieselbe Funktion wie der Staat i.S.d. Art. 7 Abs. 1 lit. a Qualifikationsrichtlinie n.F. für seine Staatsangehörigen (vgl. auch zum umgekehrten Fall der Verfolgung durch die staatsähnliche Gewalt ausübende PLO BVerwG, Urt. v. 3.12.1985 - 9 C 22.85 -, NVwZ 1986, 760 [BVerwG 03.12.1985 - BVerwG 9 C 22/85]). Die weite Auslegung des Begriffs des Staats findet Anwendung auch für die Beurteilung der Schutzbedürftigkeit im Rahmen des subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG (Niedersächsisches OVG, Urt. v. 26.1.2012, InfAuslR 2012, 149, juris Rn. 24 f.).
Für diese weite Auslegung des Herkunftslandbegriffs spricht auch, dass die Rückführungsrichtlinie die Bestimmungen und Verfahren, die bei der Rückführung von Drittstaatsangehörigen ohne gültigen Aufenthaltstitel zur Anwendung kommen, in der EU harmonisieren will, um zu gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird (Erwägungsgrund 6 Satz 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie). Zudem wäre es widersprüchlich, wenn es im Rahmen der Erteilung des Visums für die Einreise genügte, dass die Passpflicht i.S.d. § 3 AufenthG - wie im Fall des Klägers - durch ein Dokument der Palästinensischen Autonomiebehörde erfüllt werden kann, eine Abschiebung in das von dieser Behörde beherrschte Gebiet aber nicht angedroht werden könnte.
Allerdings ist Voraussetzung der Bestimmung eines Gebiets, das kein Staat im völkerrechtlichen Sinne ist, zum Ziel der Abschiebung, dass die dort herrschende Organisation in Bezug auf die für die Rückführung maßgeblichen Verhältnisse eine staatsähnliche Gebietshoheit ausübt. Hierunter fällt insbesondere das Recht, über Einreisen zu bestimmen und Pässe auszustellen. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat diese hoheitlichen Befugnisse, denn sie hat dem Kläger einen Reisepass ausgestellt, damit dieser im Ausland studieren kann, und ihm eine unbefristete Rückkehrmöglichkeit eröffnet. Zudem entscheidet sie autonom über die Gestattung von Einreisen, die von Jordanien aus erfolgen.
Der Bezeichnung der Palästinensischen Autonomiegebiete als Ziel der Abschiebung stehen Abschiebungshindernisse i.S.d. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht entgegen (vgl. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG); der Kläger hat insoweit nichts geltend gemacht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision ist zuzulassen, weil die Rechtsfrage, ob ein Hoheitsgebiet, das kein Staat im völkerrechtlichen Sinne ist, Zielgebiet einer Abschiebungsandrohung sein kann, grundsätzlich bedeutsam ist (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).