Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 24.09.2018, Az.: 1 B 251/18
Bekanntgabe; Zeitpunkt der Zustellung; unwirksame Bekanntgabe; Einschreiben; Einwurf-Einschreiben; Fristbeginn; Heilung; Postfach; Einlegung in Postfach; Zweitbescheid
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 24.09.2018
- Aktenzeichen
- 1 B 251/18
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2018, 74208
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 31 Abs 1 S 3 AsylVfG
- § 36 Abs 3 S 1 AsylVfG
- § 71a Abs 4 AsylVfG
- § 74 Abs 1 AsylVfG
- § 4 Abs 1 VwZG
- § 8 VwZG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die vom Bundesamt entgegen § 4 Abs. 1 VwZG veranlassten Zustellungen von Asylbescheiden mittels Einwurf-Einschreiben setzen Klage- und Antragsfristen nicht in Gang.
Gründe
Der am 5. März 2018 sinngemäß gestellte Antrag des Antragstellers,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage – 1 A 250/18 – gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 19. Februar 2018 enthaltene Abschiebungsandrohung (Ziffer 3 des Bescheides) und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (Ziffer 4 des Bescheides) anzuordnen,
ist zulässig. Die Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG, die in den Fällen der Ablehnung eines Zweitantrags gemäß den §§ 71a Abs. 4 in Verbindung mit § 36 Abs. 1 AsylG zu beachten ist und worauf der Antragsteller in der dem angefochtenen Bescheid beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung ordnungsgemäß hingewiesen wurde, ist hier – ebenso wie in der anhängigen Hauptsache – 1 A 250/18 – zu beachtende Klagefrist von einer Woche gem. § 74 Abs. 1 Alt. 2 AsylG – gewahrt. Dies gilt auch in Ansehung des Umstands, dass der angefochtene Bescheid des Bundesamtes den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers bereits am Freitag, dem 23. Februar 2018, durch Einsortierung des vom Bundesamt veranlassten Einwurf-Einschreibens in ihr bei der örtlichen Postfiliale unterhaltenes Postfach tatsächlich zugegangen ist. Ausreichender Nachweis für den genauen Zeitpunkt des Zugangs ist der vom Bundesamt vorgelegte Auslieferungsbeleg der Deutschen Post vom 23. Februar 2018. Dieser vermag den Vortrag der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zum – unter Verweis auf den angebrachten Eingangsstempel Ihrer Kanzlei und die dort zur Eingangspost des Bundesamtes geführte „Einschreiben-Liste“ – behaupteten Zugang am darauffolgenden Montag, dem 26. Februar 2018, vollständig widerlegen (vgl. zum Zugang von Postfach-Sendungen an Rechtsanwälte und den damit verbundenen Sorgfaltspflichten vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. März 2001 – 19 A 4216/99 –, zit. nach juris; Lechleitner, AnwBl 2002, 723 (726)).
Auf den zwischen den Beteiligten streitigen Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes kommt es hier indes nicht entscheidungserheblich an. Ebenso wenig braucht der Einzelrichter der Frage nachzugehen, ob aufgrund der gesetzlich gebotenen, gleichwohl vom Bundesamt unterlassenen persönlichen Zustellung des angefochtenen Bescheids an den Antragsteller zu einem späteren Zeitpunkt eine Heilung dieses Zustellungsmangels eingetreten ist (vgl. dazu OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 8. April 2015 – 2 LA 20/15 –, zit. nach juris Rn. 10; VG Göttingen, Beschluss vom 9. Dezember 2013 – 2 B 869/13 –, zit. nach juris Rn. 11 f.). Für den Beginn der Wochen- und Klagefrist ist gem. §§ 31 Abs. 1 Satz 3, 36 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 74 Abs. 1 AsylG die ordnungsgemäße Zustellung des angefochtenen Bescheids nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes des Bundes erforderlich; eine Zustellung ist insoweit zwingend vom Gesetzgeber vorgegeben (vgl. VG Münster, Urteil vom 22. Juni 2018 – 7 K 5191/16.A –, zit. nach juris Rn. 19; VG Bremen, Urteil vom 11. Februar 2010 – 2 K 1351/09 –, zit. nach juris Rn. 21). Soweit sich das Bundesamt für eine Zustellung seiner Entscheidung über einen Asylantrag mittels Einschreiben entschließt, hat es gem. § 4 Abs. 1 VwZG in der seit dem 1. Februar 2006 geltenden Fassung des Gesetzes zur Novellierung des Verwaltungszustellungsrechts vom 12. August 2005 (BGBl. I S. 2354) nur die Wahl zwischen dem Einschreiben mit Rückschein und dem Übergabeeinschreiben. Die Möglichkeit, ein Dokument mittels Einwurf-Einschreiben dem Empfänger zuzustellen, ist aufgrund des entgegenstehenden Willens des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 15/5216, S. 12: das Einwurf-Einschreiben scheidet im Hinblick auf die Nachweisschwierigkeiten bei bestrittenem Zugang aus) seither ausgeschlossen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. März 2015 – 1 B 6/15 –, zit. nach juris Rn. 6; VG Bremen, a. a. O., zit. nach juris Rn. 20; VG des Saarlandes, Urteil vom 5. Dezember 2007 – 5 K 724/07 –, zit. nach juris Rn. 21). Durch den Zugang des Einwurf-Einschreibens am 23. Februar 2018 ist hier folglich die Klage- und Antragsfrist nicht in Gang gesetzt worden. Eine Heilung dieses Mangels gemäß § 8 VwZG kommt nicht in Betracht, weil eine wirksame Zustellung als solche hier nicht vorgenommen wurde, die die Klage- und Antragsfrist hätte auslösen können, mithin kein Fehler bei der Ausführung einer angeordneten Zustellung eines Dokuments vorliegt (vgl. schon BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 – 9 C 7/00 –, BVerwGE 112, 78, zit. nach juris Rn. 8 a.E. zu § 9 Abs. 2 VwZG a.F.; Sadler in: Sadler, VwVG/VwZG, 9. Aufl. 2014, § 8 Rn. 28 m. w. N.).
Vor diesem Hintergrund ist deshalb davon auszugehen, dass vorliegend die Bekanntgabe der Regelungen des streitgegenständlichen Bescheids erst mit Erhebung der Klage und der zeitgleichen Stellung eines Antrags gem. § 80 Abs. 5 VwGO erfolgt ist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. April 2013 – 3 C 19.12 –, zit. nach juris Rn. 17) hat ein Betroffener dann, wenn er gegen einen ihm nicht ordnungsgemäß bekannt gegebenen Bescheid mit einem Rechtsmittel vorgeht, ohne sich gegen die ihm gegenüber unterlassene Zustellung zu wenden, zwar nicht für die Vergangenheit auf das Recht, die fehlerhafte Bekanntgabe zu rügen, verzichtet. Er hat damit aber die ihn betreffende Regelungswirkung anerkannt, so dass der Verwaltungsakt ihm gegenüber, allerdings frühestens ab dem Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels als wirksam angesehen werden muss. In der Klageerhebung und Antragstellung gem. § 80 Abs. 5 VwGO am 5. März 2018 ist im vorliegenden Fall folglich die Bekanntgabe des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes zu erblicken (vgl. OVG Schleswig-Holstein, a. a. O., zit. nach juris Rn. 7 m. w. N. und Rn. 8, dort auch zum Hinweis auf Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes gem. § 123 VwGO für den Fall der rechtzeitigen Rüge des Zustellungsmangels).
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist begründet.
Gemäß § 71a Abs. 4 AsylG in Verbindung mit § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG ordnet das Verwaltungsgericht die Aussetzung der Abschiebung an, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, wobei Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt bleiben, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 zweite Alternative AsylG). Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung - und ihr vorgehend das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes - einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94,166, zit. nach juris Rn. 99). Das Gericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch die Einschätzung des Bundesamtes, dass nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, zum Gegenstand seiner Prüfung zu machen. Dies ist zwar der gesetzlichen Regelung des
§ 36 AsylG nicht ausdrücklich zu entnehmen, jedoch gebieten die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG die diesbezügliche Berücksichtigung auch im Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 36 Abs. 4 AsylG (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996, a.a.O., zit. nach juris Rn. 173).
Gemessen an diesen Grundsätzen bestehen vorliegend zum Zeitpunkt der Beschlussfassung durch den Einzelrichter ernstliche Zweifel daran, dass der Antragsteller in seine Herkunftsregion, die palästinensischen Autonomiegebiete (zur Zulässigkeit einer derartigen Zielstaatsbezeichnung vgl. Urteil der Kammer vom 31. Mai 2017 – 1 A 182/15 –, zit. nach juris Rn. 34 ff.; nachgehend Nds. OVG, Urteil vom 14. Dezember 2017 – 8 LC 99/17 –, zit. nach juris Rn. 36 ff.), abgeschoben werden darf, weil sein in Schweden seit 2014 betriebenes Asylverfahren seit dem 30. August 2016 endgültig negativ abgeschlossen ist und keine Gründe für ein Wiederaufgreifen gem. § 71a Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 51 VwVfG gegeben sind.
Es ist aufgrund der vom Bundesamt in das Verfahren eingeführten e-Akte derzeit nicht ersichtlich, dass das vom Antragsteller im Jahr 2014 in Schweden initiierte Asylverfahren mit einer inhaltlichen Prüfung der dort zuständigen Asylbehörden bestandskräftig geendet hat. Dies ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass das Bundesamt mit bestandskräftigem Bescheid vom 30. Januar 2017 gem. §§ 29 Abs. 1 Nr. 1, 34a AsylG die Abschiebung des Antragstellers in den für sein Asylverfahren (seinerzeit) zuständigen Mitgliedsstaat Schweden angeordnet und zur Begründung seiner Entscheidung – nach Aktenlage inhaltlich zutreffend – folgendes ausgeführt hat:
„Am 16.09.2016 wurde ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-VO an Schweden gerichtet. Die schwedischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 22.09.2016 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gem. Art. 18 Abs. 1d Dublin III-VO.“
In der Folgezeit ist es dem Bundesamt im Zusammenwirken mit der zuständigen Ausländerbehörde, der Stadt D., indes nicht gelungen, den Antragsteller innerhalb der 6-monatigen Überstellungsfrist gem. Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO nach Schweden zu überstellen. Das Bundesamt hat auf die mit Schreiben vom 9. März 2017 geäußerten Bitte der Ausländerbehörde um Einleitung des Überstellungsverfahrens mit Schreiben vom 10. März 2017 vielmehr folgendes geantwortet:
„…die Überstellungsfrist läuft bereits am 22.03.2017 ab. Eine Überstellung nach Schweden kommt aus organisatorischen Gründen nicht mehr in Betracht. Die Überstellungsfrist wird ablaufen, danach wird der Fall im nationalen Verfahren entschieden. Darüber erhalten Sie dann gesondert Auskunft.“
Warum das Bundesamt entgegen seiner Ankündigung vom 10. März 2017 und seiner Abschlussmitteilung an die Ausländerbehörde vom 21. April 2017 sowie in Ansehung der unter dem 26. April 2017 verfügten Aufhebung seines Dublin-Bescheids vom 30. Januar 2017 über den Asylantrag des Antragstellers bis zum heutigen Tage nicht im nationalen Verfahren entschieden hat, wird es im anhängigen Hauptsacheverfahren – 1 A 250/18 – der erkennenden Kammer eingehend darzulegen haben.
Bislang war das Bundesamt jedenfalls nicht in der Lage, die pauschale InfoRequest-Antwort der schwedischen Asylbehörden vom 26. April 2017, wonach der Asylantrag des Antragstellers in Schweden am 30. August 2016 endgültig abgelehnt worden sei, hinsichtlich der Gründe für diese Verfahrensentscheidung näher zu verifizieren, zumal das Bundesamt in seinem vorangegangenen Informationsersuchen nach Art. 34 Dublin-III-Verordnung in Schweden vom 21. April 2017 ausdrücklich folgendes angefragt hatte:
„It is important to us to find out whether the asylum proceedings had been closed because the applicant absconded and his current location was unknown or the application for asylum had been rejected as being unfounded.“
Ob danach die bestandskräftige Ablehnung in Schweden aus inhaltlichen Gründen erfolgte oder aber eine, nach nationalem Recht gem. § 33 AsylG zu treffende Verfahrenseinstellung wegen des seinerzeit unbekannten Aufenthaltsortes des Antragstellers für die von den schwedischen Asylbehörden verfügte endgültige Ablehnung vom 30. August 2016 ursächlich ist, bleibt nach Aktenlage zumindest offen. Vielmehr spricht der Umstand, dass die schwedischen Asylbehörden am 22. September 2016 einem auf Art. 18 Abs. 1 Buchstabe d) Dublin-III-Verordnung gestützten Übernahmeersuchen des Bundesamtes zugestimmt haben, gegen eine am 30. August 2016 wirksam gewordene endgültige Ablehnung des in Schweden gestellten Asylantrags des Antragstellers aus inhaltlichen Gründen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).