Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.12.2017, Az.: 8 ME 136/17
Anspruch; Aufenthaltserlaubnis; Ehe; Eheschließung; eheliche Lebensgemeinschaft; Soll-Regelung; Sollvorschrift; Soll-Vorschrift; Visum; Visumverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 15.12.2017
- Aktenzeichen
- 8 ME 136/17
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 54043
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 22.09.2017 - AZ: 1 B 36/17
Rechtsgrundlagen
- § 28 Abs 1 S 1 Nr 1 AufenthG
- § 28 Abs 1 S 3 AufenthG
- § 5 Abs 2 S 2 AufenthG
- § 39 Nr 3 AufenthV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den ausländischen Ehegatten eines Deutschen i.S.d. § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG besteht nicht, wenn der Lebensunterhalt nicht gesichert ist und es deshalb darauf ankommt, ob die Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt werden soll.
Tenor:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 1. Kammer (Einzelrichterin) - vom 22. September 2017 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und eine Abschiebungsandrohung. Er ist armenischer Staatsangehöriger. 2016 schloss er die Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen. Danach begab er sich mit einem Touristenvisum in das Bundesgebiet, um sich einer medizinischen Behandlung zu unterziehen. Im Bundesgebiet beantragte er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Familienzusammenführung.
Gegen den ablehnenden Bescheid vom 25. Januar 2017 hat er Klage erhoben und einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht durch Beschluss vom 22. September 2017 abgelehnt. Die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sei zu Recht erfolgt. Der Antragsteller sei nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist. Hiervon sei nicht im Hinblick auf einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abzusehen. Der Lebensunterhalt sei nicht gesichert. Dass die Erteilung gemäß § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel abweichend von diesem Erfordernis erfolgen soll, bedeute nicht, dass zwingend von der Voraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts abzusehen sei. Voraussichtlich stehe einem Anspruch auch ein Ausweisungsinteresse aufgrund falscher Angaben im Visumverfahren entgegen. Von der Nachholung des Visumverfahrens sei nicht gemäß § 39 Nr. 3 AufenthV abzusehen, weil die Eheschließung bereits vor der Einreise erfolgt sei. Hiergegen richtet sich die Beschwerde.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Aus den mit ihr dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu Unrecht abgelehnt hätte.
Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 27 Abs. 1 AufenthG steht entgegen, dass der Antragsteller nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist ist; darauf, ob außerdem ein Ausweisungsinteresse i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besteht, kommt es nicht an. Gemäß § 5 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat. Hiervon kann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Der Antragsteller ist nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist (1.). Er kann den Aufenthaltstitel nicht gemäß § 39 Nr. 3 AufenthV im Bundesgebiet einholen (2.). Ein Absehensermessen besteht nicht (3.).
1. Die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum ist nicht erfüllt. Welches Visum im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG als das erforderliche Visum anzusehen ist, bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im Bundesgebiet beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt wird (BVerwG, Urt. v. 16.11.2010 - 1 C 17/09 -, BVerwGE 138, 122, juris Rn. 19; v. 11.1.2011 - 1 C 23/09 -, BVerwGE 138, 353, juris Rn. 20; vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 28.8.2008 - 13 ME 131/08 -, juris Rn. 3). Der Antragsteller begehrt nunmehr eine Aufenthaltserlaubnis zum Daueraufenthalt zwecks Familiennachzugs. Ein auf diesen Aufenthaltszweck bezogenes Visum hat er bei der Einreise nicht besessen.
2. § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kommt allerdings nicht zum Tragen, wenn § 39 AufenthV eingreift. In diesem Fall wird die Einreise mit dem erforderlichen Visum nicht verlangt, weil dem Ausländer die Einholung des Aufenthaltstitels im Inland ermöglicht wird. Darauf kann sich der Antragsteller nicht berufen.
Nach dem hier nur in Betracht kommenden § 39 Nr. 3 AufenthV kann ein Ausländer über die im Aufenthaltsgesetz geregelten Fälle hinaus einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet u.a. dann einholen oder verlängern lassen, wenn er ein gültiges Schengen-Visum für kurzfristige Aufenthalte (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) besitzt, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach der Einreise entstanden sind, es sei denn, es handelt sich um einen Anspruch nach den §§ 16, 17b oder 18d AufenthG. Für die Beurteilung, wann die Voraussetzungen eines Anspruchs im Sinne des § 39 Nr. 3 AufenthV entstanden sind, ist auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das zentrale Merkmal der jeweiligen Anspruchsnorm, das den Aufenthaltszweck kennzeichnet (hier: Eheschließung gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), erfüllt worden ist. Denn in der Amtlichen Begründung der Neufassung werden Anspruchsentstehung und Aufenthaltszweck miteinander verknüpft, während die übrigen Anspruchsvoraussetzungen an dieser Stelle nicht genannt werden ("... die Vergünstigung nur dann gilt, wenn der Anspruch nach der Einreise entsteht und damit ein von vornherein beabsichtigter Wechsel des angegebenen Aufenthaltszwecks ausgeschlossen werden kann." - BTDrucks 16/5065, S. 240). Daraus folgt, dass im Rahmen des § 39 Nr. 3 AufenthV für das Entstehen der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nur darauf abzustellen ist, wann das den Aufenthaltszweck kennzeichnende Tatbestandsmerkmal der Anspruchsgrundlage gegeben war (BVerwG, Urt. v. 11.1.2011 - 1 C 23/09 -, BVerwGE 138, 353, juris Rn. 26; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 1.3.2010 - 13 ME 3/10 -, juris Rn. 9).
Die Eheschließung des Antragstellers und seiner Ehefrau erfolgte im Juni 2016 und damit vor der am 23. Juli 2016 erfolgten Einreise.
3. Ein Absehensermessen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist nicht eröffnet. Die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG liegen nicht vor; die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zu § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG greift die Beschwerde nicht an. Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG kann von den Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind. Das ist nicht der Fall.
Es fehlt an der Sicherung des Lebensunterhalts. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Für eine Sicherung des Lebensunterhalts i.S.d. § 2 Abs. 3 AufenthG reicht das Einkommen der Ehefrau des Antragstellers nicht aus. Diese verdient nach den vorgelegten Verdienstabrechnungen monatlich höchstens 1.115,60 Euro netto. Dieser Betrag bleibt hinter der Summe aus den Regelsätzen für beide Eheleute (je 368 Euro) und den Kosten von Unterkunft und Heizung zurück (mindestens 430,90 Euro nach dem Stand 2005, 533,95 Euro nach den Angaben im Prozesskostenhilfe-Antrag) zurück.
Ein Anspruch i.S.d. § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Nach dieser Vorschrift soll die Aufenthaltserlaubnis in den Fällen des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in der Regel abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt werden. Daraus, dass es auf die Sicherung des Lebensunterhalts nur ankommt, wenn ein Ausnahmefall vorliegt, ergibt sich nicht, dass der Antragsteller einen Anspruch auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis hat. Eine „Soll“-Regelung ist einem Anspruch nicht gleichgestellt. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht zu dem gesetzlichen Anspruch i.S.d. § 10 Abs. 1 AufenthG in Bezug auf die „Soll“-Regelung des § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entschieden und ausgeführt:
„Zu einem "gesetzlichen Anspruch" im Sinne des § 10 Abs. 1 AufenthG führen nicht Regelansprüche oder Ansprüche aufgrund von Sollvorschriften (offengelassen noch BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - 1 C 37.07 - BVerwGE 132, 382 Rn. 24 [zu § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG]). Ein gesetzlicher Anspruch im Sinne dieser Regelung muss sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben. Ein derart strikter Rechtsanspruch setzt voraus, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (s.a. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2014 - 1 C 15.14 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 16 [zu § 5 Abs. 2 AufenthG]).
Bei einer "Soll"-Regelung, wie sie § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG enthält, fehlt es an einer abschließenden abstrakt-generellen, die Verwaltung bindenden Entscheidung des Gesetzgebers. Zwar ist bei einer Soll-Regelung die Entscheidung der Verwaltung insoweit gebunden, als bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen die Rechtsfolge regelmäßig vorgezeichnet ist. Auch die Frage, ob ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, bei dem der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eröffnet ist, unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung (stRspr, BVerwG, Urteile vom 17. September 1987 - 5 C 26.84 - BVerwGE 78, 101 <105, 113>, vom 10. September 1992 - 5 C 80.88 - Buchholz 436.61 § 18 SchwbG Nr. 6 = juris Rn. 18 und vom 22. November 2005 - 1 C 18.04 - BVerwGE 124, 326 <331>) und ist in diesem Sinne im ersten Schritt eine rechtlich gebundene Entscheidung. Anders als bei einer Anspruchsnorm, bei der die tatbestandlichen Voraussetzungen sowohl positiv als auch negativ abschließend bestimmt sind, kann indes nur aufgrund einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles beurteilt und festgestellt werden, ob ein Ausnahmefall vorliegt; die möglichen Versagungsgründe sind hiernach gerade nicht in abschließender Weise durch den Gesetzgeber vollumfänglich ausformuliert. Diese normative Offenheit in Bezug auf Umstände, die einen Fall als atypisch erscheinen lassen, unterscheiden eine "Soll"-Vorschrift im verwaltungsrechtlichen Sinne auch von solchen Normen, die für die abstrakt-generellen Tatbestandsvoraussetzungen unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden. Aus denselben Gründen, bei denen für einen "gesetzlichen Anspruch" jedenfalls im Sinne des § 10 AufenthG ein Anspruch aufgrund einer Ermessensvorschrift auch dann nicht genügt, wenn das Ermessen im Einzelfall "auf Null" reduziert ist (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - 1 C 37.07 - BVerwGE 132, 382 Rn. 21 m.w.N.), fehlt es wegen der Notwendigkeit einer der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen nachgelagerten behördlichen Würdigung aller Umstände des Einzelfalles an einer abstrakt-generellen abschließenden, die Verwaltung bindenden Wertung des Gesetzgebers zu Gunsten eines Aufenthaltsrechts.“ (BVerwG, Urt. v. 17.12.2015 - 1 C 31/14 -, BVerwGE 153, 353, juris Rn. 20 f.).
Diese Erwägungen treffen auch auf das Verhältnis von § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG und § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu (vgl. auch Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.5.2017 - 3 B 90/17 -, juris Rn. 5, zu § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Das Absehensermessen setzt auch hier voraus, dass alle zwingenden oder regelhaften Tatbestandsmerkmale erfüllt sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.12.2014 - 1 C 15/14 -, juris Rn. 15). Daran fehlt es, wenn im Rahmen der Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aufgrund einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles beurteilt und festgestellt werden muss, ob ein Ausnahmefall vorliegt. Die Annahme eines Ausnahmefalls wird zwar eher selten in Betracht kommen (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 4.9.2012 - 10 C 12/12 -, BVerwGE 144, 141, juris Rn. 31). Die Prüfung setzt aber Erkenntnisse über die finanziellen Verhältnisse, die Zumutbarkeit der Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Ausland und die Motivation für den Zuzug voraus und verlangt eine darauf gestützte, an den Grundrechten orientierte Abwägung (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 28 Rn. 23 f. (April 2014)), die durch den Gesetzgeber nicht im Sinne einer Wenn-Dann-Rechtsfolgenanordnung vorgegeben ist.
Auf das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses kommt es nicht an. Das Gericht weist allerdings - auch mit Blick auf eine etwa zu prüfende Vorabzustimmung - darauf hin, dass die bislang vorliegenden Indizien den Schluss, der Antragsteller habe schon bei Beantragung des Visums einen Daueraufenthalt beabsichtigt, wohl eher nicht tragen. Wäre er als gewöhnlicher Tourist eingereist, so wäre die Buchung eines einfachen Fluges allerdings ein starkes Indiz. Er wollte sich aber einer medizinischen Behandlung unterziehen. Dabei kann es erfahrungsgemäß zu Komplikationen kommen. Es ergäbe daher auch bei vorhandenem Rückkehrwillen Sinn, zunächst keinen Rückflug zu buchen.