Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 02.11.2000, Az.: 9 L 2432/99
Ausbaubeitrag; Beitragsverzicht; Kommunalabgabe; Straßenausbaubeitrag; Verzicht; Verzichtserklärung; Vorausverzicht
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 02.11.2000
- Aktenzeichen
- 9 L 2432/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 41950
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 19.01.1999 - AZ: 3 A 46/97
Rechtsgrundlagen
- § 11 Abs 1 Nr 3b KAG ND
- § 118 S 1 AO
- § 125 Abs 1 AO
- § 130 Abs 2 AO
- § 63 Abs 2 GemO ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein Ratsbeschluss, dass von der Heranziehung der Anlieger zu den Ausbaukosten abgesehen werde, kann - bei entsprechender Mitteilung an die Betroffenen - einen wirksamen Vorausverzicht beinhalten, der einer späteren Erhebung von Straßenausbaubeiträgen entgegensteht, sofern er nicht wirksam zurückgenommen worden oder nichtig ist.
Tatbestand:
Der Rat der Beklagten hatte beschlossen, die Anlieger einer Straße nicht zu Straßenausbaubeiträgen heranzuziehen. Nach dem Einschreiten der Kommunalaufsicht erhob die Beklagte gleichwohl Ausbaubeiträge. Das Verwaltungsgericht hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen, weil eine unwirksame Zusage eines künftigen Beitragsverzichts vorgelegen habe. Die Berufung hatte Erfolg.
Entscheidungsgründe
Die zugelassene Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hätte der Klage stattgeben müssen. Die streitigen Bescheide sind rechtswidrig, weil einer Beitragserhebung der im Ratsbeschluss vom 17. Mai 1990 ausgesprochene Beitragsverzicht entgegensteht.
Der Ratsbeschluss vom 17. Mai 1990 stellt in Verbindung mit dem Schreiben vom 10. Januar 1991 einen Verwaltungsakt i.S. der §§ 11 Abs. 1 Nr. 3 b NKAG, 118 Satz 1 AO dar. Durch den Beschluss hat die Beklagte Einzelfälle auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts, nämlich den Beitragsverzicht zugunsten der Anlieger der Rathausstraße, geregelt. Gleichwohl hat es sich zunächst mangels unmittelbarer Rechtswirkung nach außen nicht um einen mit Rechtsmitteln angreifbaren Verwaltungsakt, sondern um eine bloß interne Willenserklärung der Beklagten gehandelt. Der Beschluss hat Rechtswirkungen nach außen, und damit bei der erforderlichen Gesamtbewertung Verwaltungsaktqualität, erst dadurch erlangt, dass die Beklagte seinen Inhalt durch ihr Schreiben vom 10. Januar 1991 den Prozessbevollmächtigten der Anlieger mitgeteilt hat (im Ergebnis ebenso z. B. OVG Magdeburg, Beschl. v. 1.11.1999 - A 1 S 113/99. - NVwZ 2000, 208 m.w.N.).
Vom Regelungsgehalt her hat sich die Beklagte durch den Ratsbeschluss nicht - was für eine Zusage kennzeichnend wäre - nur zu einem zukünftigen Verhalten verpflichten wollen, nämlich dazu, beim künftigen Entstehen eines Beitragsanspruchs auf diesen zu verzichten; ein solches mit der Beitragserhebungspflicht unvereinbares Versprechen müsste die Beklagte später nicht erfüllen (vgl. zum Erschließungsbeitragsrecht: BVerwG, Urt. vom 21.10.1983 - 8 C 174.81 -, DVBl. 1984, 192 = KStZ 1984, 112 = BRS 43, 317). Vielmehr hat sie bereits durch den Beschluss im voraus auf ihren künftigen Beitragsanspruch verzichtet. Sie hat also schon im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Beitragsanspruch eine abschließende Verfügung getroffen, nämlich den künftigen Anspruch schon (bedingt für den Fall seines Entstehens) vernichtet.
Diese Bewertung des Ratsbeschlusses vom 17. Mai 1990 ergibt sich zunächst aus dessen Wortlaut. Der Rat hat beschlossen, "von einer Heranziehung der Anlieger zu den Kosten des Ausbaus abzusehen". Als Zeitform wird das Präsens, nicht aber das Futur verwendet. Auch ist nicht von einem "Soll" die Rede. Der Rat wollte also eine Entscheidung nicht erst für die Zukunft in Aussicht stellen, sondern bereits in der Gegenwart treffen. Hierfür spricht zugleich, dass der Wortlaut des Ratsbeschlusses dem § 135 Abs. 5 Satz 1 BauGB angepasst ist, wonach von der Erhebung eines Erschließungsbeitrags im öffentlichen Interesse oder zur Vermeidung unbilliger Härten "abgesehen" werden kann. Ein solches "Absehen" i.S. von § 135 Abs. 5 Satz 1 BauGB bedeutet den sofortigen Untergang des Beitragsanspruchs, setzt also nicht noch weitere Handlungen oder Erklärungen in der Zukunft voraus.
Für die Auslegung des Ratsbeschlusses vom 17. Mai 1990 ist ferner maßgeblich, wie der Erklärungsempfänger ihn nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte und der Gesamtumstände verstehen durfte. Insoweit gewinnen z.B. die Vorkorrespondenz und die erkennbare Interessenlage der Beteiligten Bedeutung. Der Beklagten war bekannt, dass die Anlieger den erneuten Umbau der Rathausstraße mit allen rechtlichen Möglichkeiten verhindern und auf rechtliche Schritte nur verzichten wollten, wenn die Beklagte durch ihren Rat rechtswirksam erklären würde, dass sämtliche Anlieger keine Beiträge zahlen müssten. Dem Rat und den Ausschüssen war klar, dass nur ein bereits endgültig erklärter Verzicht geeignet war, weitere Streitigkeiten mit den Anliegern zu vermeiden. Da erkennbar lediglich eine solche Erklärung dem Interesse der Anlieger entsprach, kann aus deren Schreiben vom 11. April 1990, das vom Wortlaut her mehrdeutig ist, nicht die von der Beklagten auf Veranlassung der Kommunalaufsichtsbehörden gewünschte Folgerung gezogen werden. Die Anlieger haben den Ratsbeschluss somit denn auch zu Recht dahingehend verstanden, dass entsprechend ihren Vorschlägen endgültig im Voraus auf die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen verzichtet werden sollte. Nur wegen dieses Verständnisses haben sie ihren Widerstand gegen den Umbau der Rathausstraße aufgegeben. Darüber hinaus hat auch die Beklagte ihren Ratsbeschluss in diesem Sinn verstanden. Nachdem die Beitragspflicht mit Eingang der letzten Unternehmerrechnung im Jahre 1992 entstanden war, hat sie - offensichtlich in dem Glauben, ein Beitragsanspruch bestehe überhaupt nicht mehr - davon abgesehen, einen weiteren gesonderten Beschluss über einen Erlass der Beitragsschuld zu treffen.
Der somit gegebene Vorausverzicht auf den Beitragsanspruch bedeutet, dass - anders als bei der Zusage eines künftigen Verhaltens - in Zukunft für die Beklagte nichts mehr zu "erfüllen" blieb, insbesondere eine Verzichtserklärung nicht erst noch vorgenommen werden musste. Folglich geht es rechtlich nicht um die Einlösung eines rechtswidrigen Versprechens, sondern darum, ob die bereits getroffene Verfügung, also der beschlossene Vorausverzicht, der angefochtenen Beitragserhebung erfolgreich entgegengehalten werden kann (vgl. zum Erschließungsbeitragsrecht: BVerwG, aaO). Ein Entgegenhalten schiede nur dann aus; wenn der den Verzicht aussprechende Verwaltungsakt nichtig oder zurückgenommen worden wäre (vgl. BVerwG, aaO; Urt. des Senats vom 11.6.1985 - 9 A 5/82 - KStZ 1986, 93; Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 5. Aufl. 1999, § 10 Rdnr. 32). Beide Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt:
Der Rat der Beklagten hat einen Beschluss, der den Ratsbeschluss vom 17. Mai 1990 aufhebt, nicht gefasst. Er hat sich in seinen Beschlüssen vom 21. September 1995 und 31. Januar 1996 vielmehr geweigert, den Ratsbeschluss vom 17. Mai 1990 zurückzunehmen.
In dem Erlass des angefochtenen Beitragsbescheids kann eine zulässige konkludente Rücknahme des Beitragsverzichts nicht gesehen werden. Zum einen ist die Stadtverwaltung nicht befugt, Beschlüsse des Rates zurückzunehmen. Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen, die nach den §§ 11 Abs. 1 Nr. 3 b NKAG, 130 Abs. 2 AO für die Rücknahme rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakte bestehen, nicht vor. Insbesondere kann nicht angenommen werden, dem Kläger sei die Rechtswidrigkeit des Vorausverzichts bekannt oder nur infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt gewesen (vgl. § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO). Der Kläger durfte den Beitragsverzicht vielmehr als eine vertretbare Handlung der Beklagten ansehen, weil aus der Sicht der Anlieger sachliche Gründe für den Verzicht sprachen. So hatten die Ausschüsse den Verzicht im Anschluss an die Argumentation der Anlieger darauf gestützt, dass diese bereits in den 70er Jahren zu Beiträgen herangezogen worden seien und die geplante Verkehrsberuhigung im allgemeinen öffentlichen Interesse liege. Diese Gesichtspunkte vermochten in der Laiensphäre ohne weiteres den Eindruck zu erwecken, es liege ein rechtmäßiges Absehen von der Beitragserhebung im öffentlichen Interesse und/oder wegen sachlicher Unbilligkeit vor. Anhaltspunkte dafür, dass der Beitragsverzicht der geltenden Rechtslage widerspricht, bestanden für den Kläger nicht und mussten sich ihm auch nicht aufdrängen. Dies gilt im besonderen Maße auch deshalb, weil die mit fachkundigem Personal ausgestattete Verwaltung der Beklagten ihrerseits - für den Kläger erkennbar - jahrelang von der Rechtmäßigkeit des ausgesprochenen Verzichts ausging.
Der im Ratsbeschluss vom 17. Mai 1990 ausgesprochene, durch § 227 AO nicht gedeckte Vorausverzicht ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig. Er verstößt gegen die in § 83 b Abs. 2 NGO niedergelegten Grundsätze der Einnahmebeschaffung, gegen den Grundsatz der Beitragsgerechtigkeit sowie gegen das aus Art. 20 Abs. 3 GG fließende Gebot, Abgaben nur nach Maßgabe der Gesetze zu erheben; diese Beitragserhebungspflicht schließt es aus, Abgabenbefreiungen über den Rahmen der Gesetze hinaus durch Verwaltungsmaßnahmen zu gewähren. Nach dem über § 11 Abs. 1 Nr. 3 b NKAG anwendbaren § 125 Abs. 1 AO hätten diese Verstöße die Nichtigkeit des Ratsbeschlusses zur Folge, wenn bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig wäre, dass der Ratsbeschluss an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet. Hiervon kann nicht ausgegangen werden. Aus den bei der Prüfung des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO genannten Gründen war nicht ohne weiteres erkennbar, dass der Ratsbeschluss nicht durch die geltende Rechtslage gedeckt war.
Der Ratsbeschluss vom 17. Mai 1990 ist auch nicht wegen Verstoßes gegen § 63 Abs. 2 NGO a. F. nichtig. Die Vorschrift stellt Formerfordernisse auf für Erklärungen, durch die eine Gemeinde verpflichtet werden soll. Um eine tatbestandsmäßige Verpflichtungserklärung handelt es sich beim Ratsbeschluss vom 17. Mai 1990 nicht. § 63 Abs. 2 NGO a. F. erfasst nämlich lediglich Erklärungen der Verwaltung gegenüber Dritten, nicht aber Ratsbeschlüsse, die Bestandteil des gemeindlichen Willensbildungsprozesses sind. Im Übrigen unterliegt auch das Schreiben der Verwaltung vom 10. Januar 1991 nicht dem Formzwang des § 63 Abs. 2 NGO a. F.. Es enthält nämlich keine eigenständig die Beklagte verpflichtende Willenserklärung der Stadtverwaltung, sondern teilt lediglich die vom Rat getroffene Regelung - wenn auch nunmehr mit Außenwirkung gegenüber dem Bürger - mit.
Nach alledem macht der zwar rechtswidrige, aber nicht zurückgenommene oder nichtige Ratsbeschluss vom 17. Mai 1990 die streitige Beitragserhebung rechtswidrig.