Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.11.2000, Az.: 12 O 3705/00

Beschwerde; Beschwerdeverfahren; Beschwerdezulassung; Beschwerdezulassungsverfahren; PKH; Prozesskostenhilfe; Zulassung; Zulassungsverfahren

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
09.11.2000
Aktenzeichen
12 O 3705/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2000, 41990
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 26.09.2000 - AZ: 4 A 169/98

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Für das Beschwerdezulassungsverfahren und das Beschwerdeverfahren nach Versagung von Prozesskostenhilfe im ersten Rechtszug kann Prozesskostenhilfe bewilligt werden; die unbemittelte Partei hat ein Wahlrecht, ob sie das Beschwerdezulassungsverfahren und Beschwerdeverfahren in Fällen dieser Art ohne anwaltliche Vertretung oder mit anwaltlicher Vertretung mit der Folge führt, dass im zweiten Rechtszug die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht wegen der Regel, keine Prozesskostenhilfe für ein Prozesskostenhilfeverfahren, abzulehnen ist.

Gründe

1

Der Antrag, die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts zuzulassen, hat Erfolg; die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses greifen durch.

2

Für den Zulassungsgrund der §§ 146 Abs. 4, 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist für die Darlegung als Mindestvoraussetzung zu verlangen, dass geltend gemacht wird, dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung im Ergebnis unrichtig ist, und die Sachgründe hierfür bezeichnet und erläutert werden.

3

Hiernach ist für die Darlegung hinreichend, dass sich ein Antrag nicht darauf beschränkt, die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung allgemein oder unter Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens anzuzweifeln, sondern hinreichend fallbezogenen und substantiiert (insoweit hängen die Darlegungsanforderungen auch von Art und Umfang der Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ab) auf die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zu den für die Entscheidung maßgeblichen Rechts- und Tatsachenfragen eingeht, deren Unrichtigkeit mit zumindest vertretbaren, jedenfalls nicht unvertretbaren Erwägungen dartut und sich dazu verhält, dass und aus welchen Gründen die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf diesen - aus Sicht des Rechtsmittelführers fehlerhaften - Erwägungen beruht; nicht ausreichend sind Darlegungen zu Zweifeln an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente oder Sachverhaltsfeststellungen, wenn diese nicht zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses begründen (Senat, Beschl. vom 21.3.1997 - 12 M 1255/97 - und st. Rspr.). Rechts- oder Tatsachenfragen, die in der Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung keine Rolle gespielt haben oder nicht zweifelhaft waren, brauchen dabei im Rahmen des Antrages auf Rechtsmittelzulassung nicht erörtert zu werden, um eine Entscheidungserheblichkeit darzulegen (BVerfG <1. Kammer des Zweiten Senats>, Beschl. v. 15.8.1994 - 2 BvR 719/94 -, NVwZ-Beil. 1994, 65 <66> <zu § 78 Abs. 4 AsylVfG>), soweit sich ihre Entscheidungserheblichkeit nicht aufdrängte. Für das - gesondert zu prüfende - Darlegungserfordernis reicht es auch bei einer - objektiv im Ergebnis (eindeutig) unrichtigen - Entscheidung jedenfalls nicht aus, dass die Unrichtigkeit lediglich allgemein behauptet wird, sich diese aber nicht aus dem Antrag selbst, sondern erst nach einer Durchsicht der Akten erschließt. Ernstliche Zweifel i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen dann vor, wenn der Erfolg des Rechtsmittels (mindestens) ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg (vgl. Senat, Beschl. v. 18.1.1999 - 12 L 5431/98 -, NdsVBl. 1999, 93; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Januar 2000, RdNrn. 395g, h zu § 80; Kopp/Schenke, aaO, RdNr. 7 zu § 124; Happ, in: Eyermann, VwGO, 10. Aufl. 1998, RdNr. 20 zu § 124). Die Annahme, der Erfolg des Rechtsmittels müsse wahrscheinlicher sein als der Misserfolg (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.5.1997 - A 12 S 580/97 -, DVBl. 1997, 1327; Hess. VGH, Beschl. v. 4.4.1997 - 12 TZ 1079/97 -, NVwZ 1998, 195; Nds. OVG, Beschl. v. 31.7.1998 - 1 L 2696/98 -, Nds. Rpfl. 1999, 87; Meyer-Ladewig, in: Schoch/-Schmidt-Aßmann/Pietzner, aaO, RdNr. 26d zu § 124 m.w.N.; Bader, NJW 1998, 409) trifft nicht zu, sie vernachlässigt die Zweistufigkeit des Verfahrens, ist auch aus Gründen der System- und Funktionsgerechtigkeit - Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verfahrensbe-schleunigung - nicht geboten und verweigert in einer Vielzahl von Verfahren den Zugang zu dem Beschwerdeverfahren, obwohl das Rechtsmittel Erfolg haben wird. Eine solche Auslegung wird dem Anliegen des Gesetzgebers (BT-Drs. 13/3993) weniger gerecht, grob ungerechte Entscheidungen zu verhindern, und schränkt damit den Zugang zu dem Beschwerdeverfahren auf eine aus Sachgründen nicht gebotene Weise unzumutbar ein. Es reicht aus, dass ein die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, 1163).

4

Nicht zuzustimmen ist der Auffassung von Roth (VerwArch 1997, 416) und Seibert (DVBl. 1997, 932), ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung, die zur Zulassung der Berufung führen müssten, lägen bereits dann vor, wenn dieser Rechtsbehelf nicht offensichtlich aussichtslos sei, oder anders ausgedrückt, es nicht auszuschließen sei, dass die angefochtene Entscheidung unrichtig sei und das Rechtsmittel Erfolg haben werde. Diese Auffassung wird der Funktion und dem System des Beschwerdezulassungsverfahrens nicht gerecht, die Rechtsmittelverfahren zu beschleunigen (vgl. BT-Drs. 13/3993), und ist auch nicht im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geboten.

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Diese Anforderungen, die an die Darlegung eines Zulassungsgrundes zu stellen sind, sind bei dem Antrag, Prozesskostenhilfe zu gewähren, im Lichte der Art. 3 Abs. 1, 19 Abs. 4 Satz 1, 20 Abs. 3 Grundgesetz - gleicher Zugang zum Gericht für Unbemittelte sowie die Rechtsschutzgarantie - (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.3.1988 - 2 BvR 233/84 -, BVerfGE 78, 88 u. Beschl. v. 13.3.1990 - BvR 94/88 u.a. -, BVerfGE 81, 347 [BVerfG 13.03.1990 - 2 BvR 94/88]) im Hinblick auf das anwaltliche Gebührenrecht zu senken und dahin zu bestimmen, dass nur in Umrissen deutlich sein muss (so auch: BVerwG, Beschl. v. 1.9.1994 - BVerwG 11 PKH 4.94 -, FamRZ 1995, 1239 = Buchholz 436.36 § 17 BAföG Nr. 16), auf welchen Zulassungsgrund der Rechtsmittelführer sein Begehren stützt. Die Darlegung muss es einerseits ermöglichen, die Erfolgungsaussichten des Rechtsbehelfs zu prüfen, wie es die §§ 166 VwGO, 114 ZPO verlangen, andererseits muss der Arbeitsaufwand für den Rechtsanwalt im Hinblick auf das anwaltliche Gebührenrecht begrenzt sein.

6

Diesen Maßstab erfüllt der Zulassungsantrag, mit dem sich die Klägerinnen gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts wenden, ihrer Klage komme nicht ausreichende Aussicht auf Erfolg (§§ 166 VwGO, 114 ZPO) zu, weil der Beklagte ihnen im maßgebenden Zeitraum die ihnen zustehende laufende Hilfe zum Lebensunterhalt unter Berücksichtigung des ihrer Mutter gewährten Kindergeldes bewilligt habe. Dagegen tragen die Klägerinnen vor, werde für mehrere Kinder Kindergeld gewährt, sei bei der Verteilung des Kindesgeldes das "Kopfteilprinzip" dann nicht anzuwenden, wenn nicht alle Kinder Vollgeschwister (also ein Kind oder einige Kinder Halbgeschwister seien) und sich je nach dem Verteilungsprinzip die Unterhaltspflichten der Unterhaltspflichtigen veränderten (erhöhten). Hierzu habe sich die Rechtsprechung der Obergerichte und des Bundesverwaltungsgerichts noch nicht hinreichend deutlich geäußert; dies sei auch nicht in der Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (4. Senat, Urt. v. 7.3.2000 - 4 L 3272/99 -, NDV-RR 2000, 56) geschehen, in der das 'Kopfteilprinzip' als Strukturprinzip des Sozialhilferechtes angesehen worden sei. Damit haben die Klägerinnen - unter Berücksichtigung des herabgesenkten Maßstabes (s.o.) - einen Zulassungsgrund nach § 146 Abs. 4 VwGO iVm § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hinreichend dargelegt.  Richtig ist, dass die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung nicht überspannt werden dürfen, damit der unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten Partei die Rechtsverfolgung nicht unverhältnismäßig erschwert wird. Prozesskostenhilfe darf daher nicht versagt werden, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von einer schwierigen, bislang in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ungeklärten Rechtsfrage abhängt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990, aaO). Nach Auffassung des Senats ist die Rechtsfrage, inwieweit Kindergeld in Fällen der eben beschriebenen Art bei der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt zu berücksichtigen ist, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der Obergerichte nicht hinreichend geklärt. Es versteht sich nicht ohne Weiteres, dass das 'Kopfteilprinzip' auch dann Geltung beanspruchen kann, wenn die begünstigten Kinder Halbgeschwister sind, so dass sich die Frage der Anrechnung des Kindergeldes auf die Unterhaltspflicht der Unterhaltspflichtigen auswirken kann. Allerdings nimmt der Senat in diesem Zulassungsverfahren hierzu nicht abschließend Stellung, insbesondere nicht zu den Fragen der Berücksichtigung von Kindergeld im Unterhaltsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches.

7

Ist die Beschwerde bereits wegen des Bestehens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses zuzulassen, so bedarf es keines Eingehens darauf, ob die Klägerinnen auch die zusätzlich geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 146 Abs. 4 iVm § 124 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 VwGO hinreichend dargelegt haben und diese Zulassungsgründe hier vorliegen.

8

Die zugelassene Beschwerde erhält das Aktenzeichen 12 O 3876/00.

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Aus dem zu dem Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO Gesagten folgt zugleich, dass der Beschwerde stattzugeben ist, da der Klage der Klägerinnen hinreichende Aussicht auf Erfolg zukommt.

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Den Klägerinnen ist auch für das Beschwerdezulassungsverfahren und das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Allerdings gilt im Allgemeinen der Grundsatz, für die Durchführung des Prozesskostenhilfeverfahrens könne Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden, weil für eine solche Prozesskostenhilfegewährung die hinreichenden Erfolgsaussichten des ersten Prozesskostenhilfeverfahrens zu prüfen wären, die wiederum abhängig von den Erfolgsaussichten der Hauptsache sind, das Prozesskostenhilfeverfahren mithin selbst nicht der Rechtsverfolgung dient, sondern diese nur vorbereitet (vgl. Olbertz, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, aaO, RdNr. 5 zu § 166). Dieser Grundsatz muss indessen für das Beschwerdezulassungsverfahren und das Beschwerdeverfahren nach Versagung von Prozesskostenhilfe im ersten Rechtszug eine Ausnahme erleiden, weil Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dies gebietet; denn bei einer anderen Bewertung würde der unbemittelte Rechtssuchende in verfassungswidriger Weise benachteiligt (vgl. zum Gebot, eine solche Benachteiligung auszuschließen: BVerfG, Beschl. v. 17.3.1988, aaO; BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990, aaO). Nach allgemeiner Auffassung (vgl. Olbertz, aaO, RdNr. 77 zu § 166; Bader in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/v. Albedyll, VwGO 1999, RdNr. 33 zu § 146; Kopp/Schenke, VwGO, 11. Aufl. 1998, RdNrn. 3 und 19 zu  § 166 - jeweils m.w.N. aus der Rspr. der Oberverwaltungsgerichte) gebietet eine verfassungskonforme Auslegung des § 146 Abs. 1 VwGO iVm § 67 VwGO das Zulassungsverfahren und das Beschwerdeverfahren in Prozesskostenhilfesachen entweder vom Anwaltszwang freizustellen oder aber auch für das Beschwerdezulassungsverfahren und das Beschwerdeverfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe vorzusehen (vgl. hierzu OVG Saarland, Beschl. v. 6.8.1997 - 8 Y 10/97 -, NVwZ 1998, 413). Die eben geschilderten Auffassungen, die es entweder für richtig halten, das Beschwerdezulassungsverfahren und das Beschwerdeverfahren in Prozesskostenhilfesachen vom Anwaltszwang freizustellen oder aber für dieses Verfahren die Möglichkeit von Prozesskostenhilfe vorzusehen, berücksichtigen aber nicht hinreichend, die Notwendigkeit, die Vorschrift des § 146 Abs. 1 VwGO verfassungskonform auszulegen. Nimmt man an, der Anwaltszwang entfalle mit der Folge, dass auch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ausscheidet, so kann sich die unbemittelte Partei nicht anwaltlichen Rates ohne Kostenrisiko bedienen, sie müsste selbst dann, wenn sie im Beschwerdezulassungsverfahren und Beschwerdeverfahren obsiegt, die Kosten der anwaltlichen Betreuung selbst tragen. Dem Verfassungsgebot des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in der Ausprägung, die es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (aaO) erhalten hat, ist mithin nicht ausreichend Rechnung getragen, wenn die unbemittelte Partei - lediglich - darauf verwiesen wird, das Beschwerdezulassungsverfahren und Beschwerdeverfahren ohne anwaltlichen Beistand wegen Wegfall des Vertretungszwangs selbst betreiben zu können. Eine verfassungskonforme Auslegung der maßgebenden Vorschriften führt mithin dazu, dass der unbemittelten Partei ein Wahlrecht einzuräumen ist, wie sie verfährt (vgl. Atzler, NdsVBl. 1998, 153). Sie kann - ohne Kostenrisiko - das Beschwerdezulassungsverfahren und das Beschwerdeverfahren selbst betreiben, weil es - auch - richtig ist (vgl. Olbertz, aaO; Bader, aaO; Kopp/Schenke, aaO), ihr zuzubilligen, das Verfahren ohne anwaltliche Vertretung zu betreiben mit der Folge, dass sie insoweit ihr Kostenrisiko minimiert; ihr ist aber andererseits auch zuzubilligen, nicht auf anwaltlichen Rat verzichten zu müssen mit der Folge, dass sie bei hinreichender Aussicht des Beschwerdezulassungsantrages Prozesskostenhilfe erhalten kann (a.A. 4. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, Beschl. v. 3.11.2000 - 4 O 825/00).