Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 02.11.2000, Az.: 9 K 2785/98
Abfallbeseitigung; Abfallbeseitigungsgebühr; Abfallgebührensatzung; Gebühr; Grundgebühr; Müllgebühr; Normenkontrollantrag; Normenkontrolle; Normenkontrollverfahren; Zusatzgebühr
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 02.11.2000
- Aktenzeichen
- 9 K 2785/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 42040
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 47 Abs 2 S 1 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Ein gegen eine aufgehobene Abfallbeseitigungsgebührensatzung gerichteter Normenkontrollantrag ist zulässig, wenn die Rechtsphäre des Antragstellers "durch die Anwendung" der Satzung Beeinträchtigungen erleidet.
2. Zusammenfassung der Rechtsprechung des Senats zum Verhältnis der Grundgebühr zur Zusatzgebühr bei Abfallbeseitigungsgebühren.
Tatbestand:
Der Antragsteller wendet sich mit seinem Normenkontrollantrag gegen die -- neu gefasste -- Satzung über die Erhebung von Gebühren für die Abfallentsorgung im Landkreis Sch. (Abfallgebührensatzung) vom 29. April 1997, die am 1. Januar 1998 in Kraft getreten ist.
Der zwei Erwachsene und drei Kinder umfassende Haushalt des Antragstellers ist an die vom Antragsgegner als öffentliche Einrichtung betriebene Abfallentsorgung angeschlossen. Der Antragsteller hat bereits ein gerichtliches Verfahren gegen den Müllabfuhrgebührenbescheid des Antragsgegners für das Jahr 1994 durchgeführt. Mit seinem Urteil vom 26. November 1997 (-- 9 L 173/96 -- abgedruckt das Parallelverfahren 9 L 234/96 in: NSt-N 1998, 138 = ZKF 1998, 205 [OVG Niedersachsen 26.11.1997 - 9 L 234/96] = NdsMBl. 1998, 1233 (Ls)) hat der Senat seiner Berufung gegen das klagabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts vom 27. September 1995 stattgegeben und den angegriffenen Bescheid aufgehoben. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Antragsgegners ist erfolglos geblieben (BVerwG, Beschl. v. 22.5.1998 -- BVerwG 8 B 84.98 --, abgedruckt der Parallelbeschluss vom 26. Mai 1998 -- BVerwG 8 B 82.98 -- NVwZ 1998, 1186 = DVBl. 1998, 1224 (teilweise) = ZKF 1999, 63 = NuR 1999, 149). Der Antragsteller hat auch gegen den Müllabfuhrgebührenbescheid für das Jahr 1998 Widerspruch eingelegt. Die Entscheidung über seinen Widerspruch hat der Antragsgegner -- neben anderen Verfahren -- im Hinblick auf das anhängige Normenkontrollverfahren ausgesetzt.
Nach § 2 Abs. 1 der angegriffenen Abfallgebührensatzung ist Grundlage für die Berechnung der monatlichen Gebühr für die Abfallentsorgung bei Durchführung der Abfuhr unter Verwendung der dafür zugelassenen Restmüllsäcke bei Haushalten die Zahl der nach den Vorschriften des Melderechts mit Hauptwohnsitz gemeldeten Personen (Grundgebühr). Nach Abs. 3 erhebt der Antragsgegner neben der Grundgebühr nach Abs. 1 Gebühren für die Restmüllsäcke und Banderolen/Wertmarken für Grünabfallbündel (Zusatzgebühr). Grundlage für die Berechnung der Gebühr ist deren Anzahl und die Größe der Restmüllsäcke. § 3 der Abfallgebührensatzung regelt den Gebührenmaßstab und Gebührensatz bei Sackabfuhr. Entsprechend Abs. 1 beträgt die Gebühr unter Verwendung der dafür zugelassenen Abfallsäcke: a) monatlich 8,25 DM je Person (Grundgebühr); b) 1,125 DM je Restmüllsack mit 30 Liter Füllraum (Zusatzgebühr), c) 1,875 DM je Restmüllsack mit 50 Liter Füllraum (Zusatzgebühr). Mit dieser letztgenannten Regelung hat der Antragsgegner u.a. die entsprechenden Bestimmungen seiner vorausgegangenen Abfallgebührensatzung vom 14. Dezember 1993 ... von zuvor 8,50 DM Grundgebühr je Person bzw. 0,90 DM je Restmüllsack mit 30 Liter Füllraum und 1,50 DM je Restmüllsack mit 50 Liter Füllraum geändert.
Am 17. November 1998, also nach dem Urteil des Senats vom 26. November 1997, beschloss der Kreistag des Antragsgegners eine neue Abfallentsorgungs- sowie Abfallgebührensatzung, die mit Wirkung zum 1. Januar 1999 in Kraft getreten sind. Mit diesen Satzungen entwickelte der Antragsgegner ein völlig neues Müllentsorgungskonzept mit einer gänzlich anderen Gebührenstaffelung. Er stellte die bisherige Restmüllsack-Abfuhr auf eine Restabfallbehälter-Lösung um. Auch die Gebührensätze wurden neu geregelt. Neben einer Grundgebühr wird eine gleich hohe Zusatzgebühr erhoben.
Der Normenkontrollantrag hatte Erfolg.
Entscheidungsgründe
1. Der Normenkontrollantrag des Antragstellers ist zulässig, auch wenn die angegriffene Abfallgebührensatzung des Antragsgegners vom 29. April 1997 zum Jahresende 1998 außer Kraft getreten ist. Dem Beschluss des BVerwG vom 14. Juli 1978 (-- 7 N 1.78 -- BVerwGE 56, 172 = NJW 1978, 2522) ist zu entnehmen, dass § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO zwar an den Regelfall anknüpft, dass die angegriffene Norm noch gilt. Eine anerkennenswerte Beschwer kommt aber auch dann in Betracht, wenn die aufgehobene Rechtsvorschrift noch Rechtswirkungen zu äußern vermag, weil in der Vergangenheit liegende Sachverhalte nach dieser Rechtsvorschrift zu entscheiden sind. Ist -- wie hier -- eine aufgehobene Satzung Gegenstand der Normenkontrolle, bedarf es allerdings -- ähnlich wie für die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO bei Erledigung eines angefochtenen Verwaltungsaktes -- eines besonderen Rechtsschutzinteresses für die begehrte Feststellung, dass die aufgehobene Satzung ungültig bzw. nichtig (gewesen) ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Rechtssphäre des Antragstellers "durch die Anwendung" der aufgehobenen Satzung Beeinträchtigungen erleidet und er das Normenkontrollverfahren zwecks Überprüfung der Gültigkeit dieser Norm einleitet (BVerwG, Beschl. v. 14.7.1998, aaO). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der dem Antragsteller für 1998 erteilte Müllabfuhrgebührenbescheid des Antragsgegners ist nicht bestandskräftig geworden. Die Entscheidung des vom Antragsteller dagegen eingelegten Widerspruchs ist sogar ausdrücklich im Hinblick auf das eingeleitete Normenkontrollverfahren ausgesetzt worden.
Entgegen der vom Antragsgegner in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung scheitert das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers an der Durchführung des Normenkontrollverfahrens nicht daran, dass er auf das (normale) Klageverfahren gegen den Müllabfuhrgebührenbescheid verwiesen werden kann. Er hat diese Auffassung auf angeblich ergangene Rechtsprechung zum Bauplanungsrecht gestützt. Diesem Vortrag ist nicht zu folgen. Zum einen ist der oben angeführte Beschluss des 7. Senats für den Bereich des Abgabenrechts einschlägig und damit in diesem Normenkontrollverfahren auch zugrunde zu legen. Zum anderen beschränkt sich diese -- im Übrigen nicht unbestrittene -- Rechtsprechung auf das vorläufige Rechtsschutzverfahren des § 47 Abs. 8 VwGO a.F. bzw. § 47 Abs. 6 VwGO n.F.. Angesichts des im Rahmen dieser Vorschrift zu fordernden strengen Maßstabes ("schwerer Nachteil oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten") könne ein Antragsteller auch auf das Verfahren nach §§ 80, 123 VwGO verwiesen werden (vgl. insbesondere OVG Münster, Beschl. v. 26.5.1978 -- X aND 3/78 -- BRS 33 Nr. 23 = OVGE 33, 229 = DVBl. 1979, 191; Beschl. v. 25.1.1979 -- VII aND 6/78 -- BRS 35 Nr. 32 = BauR 1979, 208; Beschl. v. 23.12.1980 -- 11 aND 19/80 -- BRS 36 Nr. 40; a.A. dagegen HessVGH, Beschl. v. 12.1.1989 -- 3 NG 4239/88 -- DVBl. 1989, 887; ähnlich OVG Saarland, Beschl. v. 22.5.1984 -- 2 Q 2/84 -- DÖV 1985, 74). Hier handelt es sich nicht um die Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz im Rahmen des § 47 Abs. 6 VwGO, sondern um das Normenkontroll-(Hauptsache-)Verfahren.
Der Antragsteller erleidet durch die Anwendung der angegriffenen Abfallgebührensatzung damit Beeinträchtigungen bzw. Nachteile, die er im Rahmen eines Normenkontrollantrages klären lassen kann.
2. Der Normenkontrollantrag des Antragstellers ist auch in der Sache begründet. § 3 Abs. 1 Buchst. a), b) und c) der Abfallgebührensatzung des Antragsgegners vom 29. April 1997 ist nichtig. Er trägt -- ebenso wie die entsprechenden Bestimmungen der Vorgängersatzung vom 14. Dezember 1993 -- dem Gebot des § 12 Abs. 2 Satz 2 NAbfG, "die Gebühren so zu gestalten, dass die Vermeidung und die Verwertung von Abfällen gefördert werden", nicht hinreichend Rechnung. Die maßgeblichen Erwägungen dazu hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 26. November 1997, aaO, angestellt. Zwar lag diesem Urteil noch ein anderer Gebührenmaßstab bzw. Gebührensatz zugrunde, und zwar bei der Grundgebühr 8,50 DM bzw. bei der Restmüllsackgebühr 0,90 DM für 30 Liter bzw. 1,50 DM bei 50 Liter. Diese Gebühren sind aber durch § 3 Abs. 1 Buchst. a) bis c) der streitigen Abfallgebührensatzung nur so geringfügig verändert worden, dass sie das Verhältnis der Grundgebühr zur Zusatzgebühr allenfalls marginal berühren. Im Urteil vom 26. November 1997 ist ausgeführt:
"Der Gebührensatz von monatlich 8,50 DM je Person für die Grundgebühr ist ... nicht rechtmäßig. Die Regelung der Gebühren ... steht mit § 3 a Abs. 2 Satz 2 NAbfG Fassung 1991 (§ 12 Abs. 2 Satz 2 NAbfG Fassung 1994) nicht im Einklang. Danach sind die Gebühren so zu gestalten, daß die Vermeidung und die Verwertung von Abfällen gefördert wird. Die Gesetzesvorschrift, insbesondere das Gebot, bei der Gebührengestaltung einen Anreiz zur Abfallvermeidung zu schaffen, sind mit höherrangigem Recht vereinbar (Urt. d. Sen. v. 29.3.1995 aaO, S. 204). Der Landesgesetzgeber ist befugt gewesen vorzuschreiben, daß die Erhebung der Gebühren für die Abfallentsorgung neben der Kostendeckung auch dem Zweck zu dienen habe, daß eine abfallwirtschaftlich und umweltpolitisch relevante Verhaltenssteuerung erreicht werden soll: Der Bürger soll Einfluß auf die Höhe der von ihm zu zahlenden Abfallgebühr nehmen können und dadurch angehalten werden, möglichst wenig Abfall zu erzeugen (Urt. v. 29.3.1995 aaO). Diesem gesetzgeberischen Ziel wird eine Gebührengestaltung nur dann gerecht, wenn sie einen spürbaren Anreiz zur Abfallvermeidung schafft. § 3a Abs. 2 Satz 2 NAbfG bedeutet nicht nur, daß eine leistungsbezogene Gebühr -- etwa nach dem Behältervolumen bemessen -- entsprechend dem dargelegten Gebot der Abfallvermeidung auszugestalten ist. Die gesetzliche Vorgabe für den kommunalen Satzungsgeber hat auch Wirkung, wenn es um das Verhältnis zwischen der Höhe -- der von der Abfallmenge unabhängigen -- Grundgebühr und der Höhe der leistungsbezogenen zusätzlichen Gebühren geht. § 3a Abs. 2 Satz 2 NAbfG enthält keine Einschränkung in dem Sinne, daß sich der Gesetzesbefehl ausschließlich auf mengenabhängige Gebühren bezieht.
...
Erhebt die entsorgungspflichtige Körperschaft für die Abfallentsorgung eine Grundgebühr, so erfordert das Gebot des ... § 12 Abs. 2 Satz 2 NAbfG Fassung 1994, daß in bezug auf die Gebührenhöhe das Verhältnis zwischen Grundgebühr und mengenabhängigen zusätzlichen Gebühren so gestaltet wird, daß der Gebührenpflichtige ein Abfall vermeidendes und damit umweltfreundliches Verhalten nicht von vornherein als ohne Sinn und Nutzen ansieht, was sich aber bei einer sehr hohen Grundgebühr wie im vorliegenden Fall geradezu aufdrängt. Der erkennende Senat hält es für geboten, daß die Höhe der Grundgebühr nicht mehr als 50 v.H. der gesamten Gebührenbelastung ausmachen darf, die den Pflichtigen trifft."
Das Urteil des Senats ist mit Beschluss des BVerwG vom 22. Mai 1998, aaO, bestätigt worden. Der Senat hat seine Rechtsprechung zum Verhältnis der Grundgebühr zur Zusatzgebühr in inzwischen ständiger Rechtsprechung wiederholt bzw. fortgeschrieben (vgl. Urt. v. 24.6.1998 -- 9 L 2722/96 -- NdsVBl. 1998, 289 = NdsRpfl. 1999, 26 = KStZ 1999, 172 = ZKF 1999, 184; Urt. v. 20.1.2000 -- 9 L 2396/99 -- ZMR 2000, 713). Die vom Antragsgegner insbesondere im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgebrachten Erwägungen stellen den an § 12 Abs. 2 Satz 2 NAbfG anknüpfenden rechtlichen Ansatz des Senats nicht in Frage. Für den fünfköpfigen Haushalt des Antragstellers würde sich ein Verhältnis von 445,50 DM Grundgebühren (nämlich 8,25 DM x 12 Monate x 4 Personen = 396,-- DM + eine weitere Person mit 50% Ermäßigung (49,50 DM) = 445,50 DM) zu 135,-- DM Zusatzgebühren (unter Zugrundelegung von 15 Liter/Person/Woche = 300 Liter = 6 Restmüllsäcke a 1,875 DM/Monat x 12 Monate = 135,-- DM) ergeben. Das Verhältnis von Grund- zur Zusatzgebühr liegt damit -- grob gerechnet -- bei etwa 75% zu 25%. Dieses Verhältnis ändert sich bei anderen Haushalten allenfalls unwesentlich, und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen einköpfigen oder um einen sechsköpfigen Haushalt handelt. Das Verhältnis von Grund- zu Zusatzgebühr klafft noch mehr auseinander, wenn -- richtigerweise -- ein geringerer Müllanfall zugrunde gelegt wird. In seiner neuen Abfallentsorgungssatzung vom 17. November 1998 geht der Antragsgegner selbst nur noch von 8 Liter/Person/Woche aus. Auf Antrag kann der Restabfallbehälter sogar auf einen Bedarf von 6 Liter/Person/Woche herabgesetzt werden.
Die verfassungsrechtlichen Erwägungen des Antragsgegners, die an die Urteile des BVerfG vom 7. Mai 1998 -- 2 BvR 1876/91 u.a. -- DÖV 1998, 647 bzw. -- 2 BvR 1991/95 u.a. -- DÖV 1998, 642 [BVerfG 07.05.1998 - 2 BvR 1991/95] anknüpfen, greifen nicht. Das BVerwG hat in seinem Beschluss vom 26. Mai 1998 (-- 8 B 82.98 -- aaO) festgestellt, dass eine Regelung, die den Kommunen bei der Gebührengestaltung einen spürbaren Anreiz zur Abfallvermeidung vorschreibt, in den durch Art. 28 Abs. 2 GG geschützten Kernbestand nicht eingreift, die Selbstverwaltungsgarantie nicht unverhältnismäßig beschneidet und auch im Übrigen mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Diese Feststellungen werden durch die Urteile des BVerfG nicht in Frage gestellt.