Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.09.2022, Az.: 1 ME 71/22

Baugenehmigung; Bauherr; Jahresfrist; Nachbar; nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis; Rechtsnachfolge; Rechtsnachfolger; Treu und Glauben; Verwirkung; Widerspruch

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
29.09.2022
Aktenzeichen
1 ME 71/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59647
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 15.06.2000 - AZ: 4 B 258/22

Fundstellen

  • IBR 2022, 649
  • JA 2023, 86

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Es bleibt offen, ob und inwieweit es für den Beginn der Jahresfrist nicht bloß auf die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen einer Baugenehmigung ankommt, sondern zusätzlich zu fordern ist, dass der Nachbar hierdurch ausgelöste Risiken und Beeinträchtigungen konkret erkennt oder erkennen muss.
2. Ist das Widerspruchsrecht nach Ablauf der Jahresfrist gegenüber dem ursprünglichen Bauherrn verwirkt, lebt es auch gegenüber dessen Rechtsnachfolger nicht wieder auf.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 15. Juni 2022 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf jeweils 12.500 EUR festgesetzt; die Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts wird dementsprechend geändert.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen eine der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Bürohauses auf dem nördlich angrenzenden Nachbargrundstück.

Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstücks A-Straße im Stadtgebiet der Antragsgegnerin. Nördlich grenzt das Grundstück F. G. der Beigeladenen an. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 1583 „F. -Nord“, der für das Grundstück der Beigeladenen ein Mischbiet, eine Grundflächenzahl von 0,4 und eine Geschossflächenzahl von 0,8 sowie eine geschlossene, im Höchstmaß zweigeschossige Bebauung mit einer zwingend einzuhaltenden Höhe von 9 m über der Bürgersteiganschlusshöhe festsetzt und mittels Baugrenzen straßenseitige und rückwärtige Freiflächen sicherstellt.

Unter dem 14. Februar 2019 erteilte die Antragsgegnerin der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Bürogebäudes mit Tiefgarage. Eingeschlossen waren Befreiungen von den Festsetzungen zur Grund- und Geschossflächenzahl. Im Oktober 2020 begannen Erdarbeiten in Gestalt eines Abtrags des Oberbodens und dessen Verladung.

Die Antragstellerin erhob am 23. November 2021 einen bislang unbeschiedenen Widerspruch und beantragte vorläufigen Rechtsschutz. Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht Hannover mit dem angegriffenen Beschluss vom 15. Juni 2022 abgelehnt. Er sei unzulässig, weil die Baugenehmigung der Antragstellerin gegenüber bestandskräftig geworden sei. Mit Beginn der Erdarbeiten habe sich der Antragstellerin in der Gesamtschau mit den übrigen Gegebenheiten des Einzelfalls das Vorliegen einer Baugenehmigung und die Möglichkeit einer daraus folgenden Rechtsbeeinträchtigung aufdrängen müssen, sodass sie sich binnen Jahresfrist bei der Antragsgegnerin über das Vorliegen und den Inhalt einer Baugenehmigung hätte erkundigen müssen.

Dagegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde, der Antragsgegnerin und Beigeladene entgegentreten.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses.

1.

Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass für einen Nachbarn, dem eine ihn beschwerende Baugenehmigung nicht amtlich bekanntgegeben worden ist, weder in unmittelbarer noch in analoger Anwendung der §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO eine Widerspruchsfrist läuft. Hat er jedoch gleichwohl sichere Kenntnis von der Baugenehmigung erlangt oder hätte er sie erlangen müssen, so kann ihm nach Treu und Glauben die Berufung darauf versagt sein, dass sie ihm nicht amtlich mitgeteilt wurde. Dann läuft für ihn die Widerspruchsfrist nach den vorgenannten Vorschriften so, als sei ihm die Baugenehmigung in dem Zeitpunkt amtlich bekannt gegeben, in dem er von ihr sichere Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen können. Der Zeitpunkt, zu dem der Nachbar von der Baugenehmigung zuverlässige Kenntnis nehmen konnte, tritt ein, wenn sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste - beispielsweise aufgrund eines sichtbaren Beginns der Bauausführung - und es ihm möglich und zumutbar war, sich hierüber - etwa durch Anfrage bei dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde - Gewissheit zu verschaffen (vgl. nur Senatsbeschl. v. 14.4.2021 - 1 ME 140/20 -, NVwZ-RR 2021, 1049 = juris Rn. 16 m.w.N.). Das zieht auch die Antragstellerin im Grundsatz nicht in Zweifel.

2.

Ohne Erfolg wendet die Antragstellerin ein, das Verwaltungsgericht habe bei Anwendung der obigen Grundsätze nicht ausreichend berücksichtigt, dass es für den Beginn der Jahresfrist nicht bloß auf die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen einer Baugenehmigung ankomme, sondern zusätzlich zu fordern sei, dass der Nachbar hierdurch ausgelöste Risiken und Beeinträchtigungen erkennt oder erkennen muss. Ob und inwieweit dies zutrifft und nicht - wie Antragsgegnerin und Beigeladene mit einiger Berechtigung einwenden - die in der Rechtsprechung betonte Erkundigungspflicht nach dem genauen Inhalt der Baugenehmigung eingreift, kann offenbleiben. Denn auch diese Voraussetzung ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat - erfüllt. Die Antragstellerin beruft sich im Wesentlichen auf einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme aufgrund unzumutbarer Einsichtnahmemöglichkeiten, Verschattung sowie erdrückender Wirkung. Damit wendet sie sich gegen Beeinträchtigungen, die unmittelbar daraus resultieren, dass die Beigeladene ein Bauvorhaben errichtet, welches die Festsetzungen des Bebauungsplans ausnutzt.

Ziel der planerischen Festsetzungen für das Mischgebiet am F. war es, das nördlich gelegene Gewerbegebiet von dem südlichen Wohngebiet mittels eines straßenparallelen Gebäuderiegels abzugrenzen und - insbesondere mit Blick auf den Immissionsschutz - eine störungsfreie Nachbarschaft zwischen Wohnen und Gewerbe sicherzustellen (vgl. Planbegründung S. 4 unten/S. 5 oben). Dieser Zielsetzung entsprechen die Festsetzungen der geschlossenen Bauweise und der zwingenden Gebäudehöhe von 9 m. Zu rechnen war deshalb unter Berücksichtigung des Zuschnitts des Baugrundstücks insbesondere damit, dass das als rund 9 m hoher Riegel ausgeführte Gebäude mit seinen wesentlichen Aufenthaltsräumen nach Süden orientiert sein und die überbaubaren Grundstücksflächen ausschöpfen würde. Auch eine gewerbliche/freiberufliche Nutzung war angesichts der Festsetzung als Mischbiet und des nördlich angrenzenden Gewerbegebiets zu erwarten. Vor diesem Hintergrund lag es in dem Moment, in dem die Antragstellerin von der Erteilung einer Baugenehmigung Kenntnis haben konnte und musste, mehr als nahe, dass ein Gebäude an der Stelle und mit den Ausmaßen des hier in Streit stehenden errichtet werden würde. Die Auffassung der Antragstellerin, sie habe bei Beginn der Erdarbeiten die konkret drohenden Beeinträchtigungen nicht erkennen können, trifft deshalb ungeachtet der fraglichen rechtlichen Relevanz schon im Tatsächlichen nicht zu; im Gegenteil musste die Antragstellerin genau damit rechnen.

3.

Die Antragstellerin meint weiter, das Verwaltungsgericht habe ihren Anspruch auf effektive Rechtsschutzgewähr (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) verletzt; die Annahme, die Baugenehmigung hätte nur innerhalb einer bereits abgelaufenen Jahresfrist angefochten werden können, erschwere den Rechtsschutz in unzumutbarer Weise. Tatsächlich habe zwischen ihr und der Beigeladenen kein nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis bestanden, das eine Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben rechtfertigen könne; die Beigeladene sei vielmehr erstmals im Gerichtsverfahren als Eigentümerin erkennbar gewesen. Einen Vertrauenstatbestand habe sie, die Antragstellerin, niemandem gegenüber geschaffen. Auch das trifft nicht zu.

Soweit sie in Abrede stellt, dass zwischen ihr und der Eigentümerin des benachbarten Grundstücks F. G. ein nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis besteht, ist darauf hinzuweisen, dass dieses Gemeinschaftsverhältnis nach vom Senat geteilter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allein daraus folgt, dass zwei Grundstücke aneinandergrenzen. In der bis heute maßgeblichen Entscheidung, deren Bedeutung die Beigeladene zu Recht hervorgehoben hat, heißt es (Urt. v. 25.1.1974 - IV C 2.72 -, BVerwGE 44, 294 = juris Rn. 24):

„In dem weiten Kreise der Rechtsverhältnisse, die durch Verwaltungsakte mit Doppelwirkung bestimmt werden und zu Klagen Drittbetroffener führen können, dem Kreise, dem auch die baurechtliche ‘Nachbarklage’ zuzuordnen ist, nehmen eine besondere Stellung die Rechtsverhältnisse zwischen den Inhabern einander unmittelbar benachbarter Grundstücke ein, wie hier zwischen der beigeladenen Bauherrin und dem Kläger als ihrem Grenznachbarn. Diese Rechtsverhältnisse sind in aller Regel durch ein besonderes ‘nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis’ gekennzeichnet, das nach Treu und Glauben von den grenznachbarlich Verbundenen besondere Rücksichten gegeneinander fordert. Dieses nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, als Anwendungsfall der Grundsätze von Treu und Glauben auf den besonderen Tatbestand des nachbarlichen Zusammenlebens vom Reichsgericht und vom Bundesgerichtshof für zivilrechtliche Nachbarstreitigkeiten herausgearbeitet (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9. Juli 1958 - V ZR 202/57 - in NJW 1958, 1580 <1581> mit weiteren Hinweisen), ist auch im öffentlichen Bau- und Bodenrecht von Bedeutung. Wie z.B. das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem Urteil vom 4. März 1970 - VII A 401/68 - (BRS 23 Nr. 168 S. 250/251) zutreffend ausgeführt hat, verpflichtet das ‘nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis’ den Nachbarn, ‘durch ein zumutbares aktives Handeln mitzuwirken, einen wirtschaftlichen Schaden des Bauherrn zu vermeiden oder den Vermögensverlust möglichst niedrig zu halten’; der Nachbar muß dieser ‘Verpflichtung dadurch nachkommen, daß er nach Erkennen der Beeinträchtigung durch Baumaßnahmen ungesäumt seine nachbarlichen Einwendungen geltend macht, wenn ihm nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegengehalten werden soll, weil er ohne ausreichenden Grund mit seinen Einwendungen länger als notwendig zugewartet hat’.“

Vor diesem Hintergrund besteht ein nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis zwischen den jeweiligen Eigentümern; eben dieses ist - wie die Antragsgegnerin zu Recht vorgetragen hat - auch Grundlage des Nachbarantrags der Antragstellerin. Nach einem Eigentümerwechsel tritt der Rechtsnachfolger in den Rechte- und Pflichtenkreis ein, der sich aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis ergibt. Mit Blick auf die Baugenehmigung ist vor diesem Hintergrund maßgeblich, dass diese gemäß § 70 Abs. 6 NBauO für und gegen die Rechtsnachfolger der Bauherrin oder des Bauherrn und der Nachbarn gilt. Die Baugenehmigung wirkt mit anderen Worten grundstücksbezogen (vgl. näher Senatsurt. v. 7.7.2022 - 1 LB 36/21 -, juris Rn. 48 und 51), und zwar für den Bauherrn und den Nachbarn gleichermaßen. Ist demzufolge das Widerspruchsrecht gegenüber dem ursprünglichen Bauherrn verwirkt, lebt es auch gegenüber dessen Rechtsnachfolger nicht wieder auf.

Einen Vertrauenstatbestand gegenüber dem Bauherrn und nach den vorstehenden Ausführungen auch gegenüber der Beigeladenen als seiner Rechtsnachfolgerin hat die Antragstellerin allein dadurch gesetzt, dass sie binnen Jahresfrist keinen Widerspruch eingelegt hat. Soweit sie unter Verweis auf die fehlende fortlaufende Bauüberwachung meint, gegenüber der Antragsgegnerin keinen Vertrauenstatbestand geschaffen zu haben, kommt es hierauf nicht an.

4.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Der Senat orientiert sich im Ausgangspunkt ebenso wie das Verwaltungsgericht an Nr. 17 b), 7a) der seit dem 1. Juni 2021 geltenden Streitwertannahmen (NdsVBl. 2021, 247). Allerdings sieht der Senat keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Schwere der geltend gemachten Beeinträchtigungen gegenüber dem Durchschnitt signifikant geringer ausfällt. Mithin ist ein Hauptsachestreitwert von 25.000 EUR anzusetzen (Nr. 7 am Ende i.V.m. Nr. 1 a) der Streitwertannahmen), der im Eilverfahren zu halbieren ist. Die Änderung der verwaltungsgerichtlichen Festsetzung folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).