Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.06.2001, Az.: 9 LA 907/01

Anliegeranteil; Anliegerstraße; Beitragserhebung; Beitragserhebungspflicht; Kommunalabgabe; Obergrenze; Straßenausbaubeitrag; Untergrenze; Vorteil; Vorteilsprinzip

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
06.06.2001
Aktenzeichen
9 LA 907/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 40396
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 25.01.2001 - AZ: 4 A 4882/00

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Eine Rechtspflicht der Gemeinden zur Erhebung von Straßenausbaubeiträgen besteht nicht (Frage des "Ob"). Schafft aber eine Gemeinde durch den Erlass einer Straßenausbaubeitragssatzung die Voraussetzungen für die Erhebung von Beiträgen, ist sie hinsichtlich des "Wie(viel)" den rechtlichen Bindungen des NKAG, insbesondere dem Vorteilsprinzip, unterworfen.

2. Bei Anliegerstraßen bringt das Vorteilsprinzip nicht nur eine Obergrenze, sondern auch eine Untergrenze mit sich; der Anliegerteil muss jedenfalls über 50 % des beitragsfähigen Aufwandes liegen.

Gründe

1

Der Zulassungsantrag der Beklagten hat keinen Erfolg.

2

Rechtsgrundlage für die streitige Beitragserhebung ist § 4 Abs. 1 und Abs. 2 der Satzung der Beklagten über die Erhebung von Beiträgen nach § 6 NKAG für straßenbauliche Maßnahmen (Straßenausbaubeitragssatzung). Mit dieser Vorschrift hat die Beklagte für die Vorteilsbemessung bei Straßenausbaumaßnahmen die folgende Regelung getroffen:

§4

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Vorteilsbemessung

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(1) Die Stadt H. trägt zur Abgeltung des öffentlichen Interesses den Teil des Aufwandes, der auf die Inanspruchnahme der Einrichtungen durch die Allgemeinheit entfällt. Der übrige Teil des Aufwandes ist von den Anliegern zu tragen, dazu gehört auch die Stadt H. als Grundstückseigentümerin bzw. Erbbauberechtigte.

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(2) Der Anteil der Anlieger am Aufwand beträgt demnach

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1.  bei öffentlichen Einrichtungen, die überwiegende dem Durchgangsverkehr dienen sowie bei Gemeindestraßen nach § 47 Nr. 2 NStrG

7
a)Für Fahrbahnen, Trenn-, Seiten-, Rand- und20 v.H.
Sicherheitsstreifen sowie Böschungen, Schutz- und
Stützmauern
b)für Rinnen und andere Einrichtungen der25 v.H.
Oberflächenentwässerung sowie für
Beleuchtungseinrichtungen
c)für Randsteine und Schrammborde, für Rad- und Gehwege35 v.H.
sowie für Grünanlagen als Bestandteil der Anlage
d) für Parkflächen40 v.H.
2.bei öffentlichen Einrichtungen mit starkem
innerörtlichen Verkehr
a)für Fahrbahnen, Trenn-, Seiten-, Rand- und25 v.H.
Sicherheitsstreifen sowie Böschungen, Schutz- und
Stützmauern
b)für Rinnen und andere Einrichtungen der35 v.H.
Oberflächenentwässerung sowie für
Beleuchtungseinrichtungen
c)für Randsteine und Schrammborde, für Rad- und Gehwege40 v.H.
sowie für Grünanlagen als Bestandteile der Anlage
d) für Parkflächen45 v.H.
3.bei öffentlichen Einrichtungen, die überwiegend dem50 v.H.
Anliegerverkehr dienen sowie bei verkehrsberuhigten
Wohnstraßen sowie bei Gemeindestraßen i.S. von § 47
Nr. 3 NStrG
4. bei Fußgängerzonen35 v.H.
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Die von der Beklagten gegen das klagestattgebende Urteil des VG Hannover vom 25. Januar 2001 (-- 4 A 2844/00 -- ZMR 2001, 405) dargelegten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 VwGO führen nicht zur Zulassung der Berufung.

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Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zu. Grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne weist eine Rechtsstreitigkeit dann auf, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärte rechtliche oder tatsächliche Frage aufwirft, die über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung zugänglich ist und dieser Klärung bedarf. Nicht klärungsbedürftig ist dagegen eine Frage, deren Beantwortung sich ohne weiteres (unmittelbar) aus dem Gesetz ergibt oder bereits in der Rechtsprechung so geklärt ist, dass eine grundsätzliche und klärungsbedürftige Bedeutung der aufgeworfenen Frage nicht mehr bejaht werden kann.

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Vom Letzteren ist hier auszugehen. Zwar trifft mit dem Vortrag des Zulassungsantrages zu, dass der erkennende Senat bislang zur Auslegung des in der landesrechtlichen Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 NKAG gewählten Begriffes des "Vorteils" keine in diesem Sinne ausdrückliche Entscheidung dazu getroffen hat, ob diesem Tatbestandsmerkmal nicht nur eine Obergrenze, sondern auch eine Untergrenze für die Festlegung des Anliegeranteilssatzes zu entnehmen ist. Ähnliches gilt für die zweite Frage, ob damit das der Gemeinde bei der Bemessung der Anteilssätze eingeräumte Ermessen eingeengt wird. Die Beantwortung dieser Fragen lässt sich aber auf der Grundlage der vorliegenden Rechtsprechung des Senats eindeutig positiv -- und damit zu Lasten der Beklagten -- beantworten. Der Senat geht auf der Grundlage seiner bisherigen Rechtsprechung zur Bemessung des Anliegeranteilssatzes (vgl. insoweit OVG Lüneburg, Urt. v. 27.2.1980 -- 9 C 2.79 --, DVBl. 1980, 760 = KStZ 1981, 89; Urt. v. 12.1.1988 -- 9 C 2.87 -- V.n.b.; Urt. v. 10.3.1998 -- 9 L 2841/96 --, NdsVBl. 1998, 260 = NSt-N 1998, 327; Beschl. v. 11.6.1999 -- 9 M 2210/99 --, NdsVBl. 2000, 32) von folgenden Grundsätzen aus: Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 NKAG können die Gemeinden zur Deckung ihres Aufwandes für die Herstellung, Anschaffung, Erweiterung, Verbesserung und Erneuerung ihrer öffentlichen Einrichtungen Beiträge von Grundstückseigentümern erheben, wenn die Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser öffentlichen Einrichtungen besondere wirtschaftliche Vorteile bietet. Die Fassung dieser Vorschrift (... können ...) überlässt es der freien Entscheidung der Gemeinde, ob sie überhaupt Beiträge erheben wollen. Dies ist jedenfalls vom Gesetzgeber durch den neu eingefügten Satz 2 des § 83 Abs. 2 NGO durch das 3. Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Kommunalabgabengesetzes vom 17. Dezember 1991 (GVBl. S. 363) klargestellt worden. Danach besteht eine Rechtspflicht der Gemeinden zur Erhebung von Straßenausbaubeiträgen nicht. Die Vorstellungen des Gesetzgebers gingen ausdrücklich dahin, den Kommunen in Zukunft die Möglichkeit einzuräumen, im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung auch über das "Ob" einer Straßenausbaubeitragssatzung selbst entscheiden zu können (Nds. Landtag, 12. Wp, Drs. 12/2275, S. 28).

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Andererseits hat der Senat festgestellt, dass die den Gemeinden eingeräumte Entscheidungsfreiheit über das "Ob" nicht im gleichen Umfang auch das "Wie" der Beitragserhebung einbezieht. Schafft nämlich eine Gemeinde durch eine Straßenausbaubeitragssatzung die Voraussetzungen für die Erhebung von Beiträgen, so ist sie hinsichtlich des "Wie(-viel)" den rechtlichen Bindungen des NKAG unterworfen (z.B. Urt. v. 12.1.1988, aaO; auch bereits Beschl. v. 31.10.1979 -- IX A 185/77 -- KStZ 1980, 150). Der Senat hat die Anforderungen wie folgt weiter umschrieben: "Jedenfalls müssen die von den Gemeinden erhobenen Beiträge im richtigen Verhältnis zu den besonderen wirtschaftlichen Vorteilen stehen, die den beitragspflichtigen Grundstückseigentümern durch die Inanspruchnahme der öffentlichen Einrichtung geboten werden ("Vorteilsprinzip"). Auch insoweit ist allerdings davon auszugehen, dass der Gemeinde ein ortsgesetzgeberisches Ermessen zusteht, insbesondere also bei der Bestimmung des "Gemeindeanteils", durch den der Vorteil der öffentlichen Einrichtung für die Allgemeinheit abgegolten wird und der zusammen mit dem Anteil der Grundstückseigentümer (bei Straßen: Anliegeranteil) die Gesamtkosten der Einrichtung zu decken bestimmt ist; das niedersächsische Recht kennt insoweit -- anders als dasjenige anderer Bundesländer -- keine speziellen Vorschriften zur Bemessung der Gemeinde- bzw. Anliegeranteilssätze. ... Als Fehler der gemeindlichen Ermessensausübung kommen insbesondere Verstöße gegen das in § 6 Abs. 1 NKAG begründete Vorteilsprinzip oder gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in Betracht. Das Vorteilsprinzip erfordert ... eine Berücksichtigung der Verkehrsbedeutung der ausgebauten Straßen und der ausgebauten Teileinrichtungen; jedenfalls muss -- erstens -- zumindest nach reinen Wohnstraßen (Anliegerstraßen), Straßen mit starkem innerörtlichen Verkehr (Haupterschließungs- oder Innerortsstraßen) und Straßen mit Durchgangsverkehr (Hauptverkehrs- oder Durchgangsstraßen) und im Übrigen -- zweitens -- wenigstens nach Fahrbahnen und Gehwegen unterschieden werden. Der Gleichheitsgrundsatz erfordert eine plausible Abstufung der insoweit bestimmten Anteilssätze, also eine hinreichende "Stimmigkeit" der Anteilssätze untereinander" (OVG Lüneburg, Urt. v. 12.1.1988, aaO). Das Differenzierungsgebot hinsichtlich der Teileinrichtungen gilt für Anliegerstraßen allerdings allenfalls eingeschränkt, weil diese Straßen in erster Linie der Benutzung durch die Eigentümer der anliegenden Grundstücke zu dienen bestimmt sind.

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Der Rechtsprechung des Senats ist ferner zu entnehmen, dass Grundlage für die von der Gemeinde im Rahmen des § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 NKAG zu treffende "abwägende" Ermessensentscheidung das Vorteilsprinzip bildet. Die Gemeinde hat das Maß der schätzungsweise zu erwartenden Benutzung der ausgebauten Straße durch die Anlieger einerseits und durch die Allgemeinheit andererseits gegenüber zu stellen und dementsprechend die jeweiligen Anteilssätze festzulegen. Dabei gilt das Vorteilsprinzip nicht nur im Verhältnis der Beitragspflichtigen untereinander, sondern auch im Verhältnis der Allgemeinheit zur Gesamtheit der Anlieger. Daraus hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 27. Februar 1980 (aaO) gefolgert, dass aus diesem Grunde selbst die Festlegung eines "hohen, einheitlichen Gemeindeanteils (z.B. 80 v.H.)" unzulässig ist. Diese Erwägungen sind mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts dahin klarzustellen, dass das Ermessen der Gemeinde bei der Bemessung der auf die Anlieger entfallenden Anteile durch das in § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 NKAG niedergelegte Vorteilsprinzip begrenzt wird. M.a.W.: Zwar steht den Gemeinden im Straßenausbaurecht die Entschließungsfreiheit darüber zu, Beiträge überhaupt zu erheben (Beitragserhebungsfreiheit). Erlässt die Gemeinde aber eine Straßenausbaubeitragssatzung, steht es ihr nicht frei, die Höhe des Gemeindeanteils bzw. die des Anliegeranteils nach ihrem Ermessen -- gewissermaßen unbeschränkt -- festzulegen. Vielmehr ist sie dabei den Vorgaben des NKAG, insbesondere dem in § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 NKAG niedergelegten Vorteilsprinzip unterworfen. Die bestehende Beitragserhebungsfreiheit verdichtet sich zu einer Beitragserhebungspflicht (so bereits Beschl. d. Sen. v. 31.10.1979 -- IX 185/77 -- aaO). Das Vorteilsprinzip erschöpft sich nicht darin, den Beitragspflichtigen nur vor zu hohen, nicht vorteilsgerechten Beiträgen zu schützen (sog. Obergrenze). Die Gemeinde übt das ihr zustehende Einschätzungsermessen bei der Festsetzung des Anliegeranteils (und damit korrespondierend des Allgemeinanteils) auch nur dann sachgerecht aus, wenn die durch den Erlass der Straßenausbaubeitragssatzung erklärte Verpflichtung zur Beitragserhebung durch eine angemessene Vorteilsbemessung Rechnung getragen wird. Daraus folgt auch die Anerkennung einer Untergrenze der Vorteilsbemessung.

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Diese rechtliche Bewertung wird aus dem Wortlaut des § 6 Abs. 1 Satz 1 NKAG einerseits und dem des § 6 Abs. 5 Satz 1 NKAG andererseits bestätigt. Während nämlich § 6 Abs. 1 Satz 1 NKAG davon spricht, dass die Gemeinden zur Deckung ihres Aufwandes Beiträge erheben "können", geht demgegenüber § 6 Abs. 5 Satz 1 NKAG davon aus, dass -- im Falle des Erlasses der Straßenausbaubeitragssatzung -- die Beiträge dann nach den Vorschriften zu bemessen "sind". Diese unterschiedliche Wortwahl bestätigt -- im Zusammenhang mit § 83 Abs. 2 Satz 2 NGO -- das Ergebnis, dass der Gesetzgeber den Gemeinden zwar beim Erlassen von Straßenausbaubeitragssatzungen einen Entscheidungsfreibereich einräumen wollte, bei der Bemessung des Anliegeranteils aber das Vorteilsprinzip gilt (so im Ergebnis auch in jüngster Zeit VG Dessau, Urt. v. 7.9.2000 -- 2 A 756/99 DE -- NVwZ-RR 2001, 326 mit überzeugender Begründung; zustimmend dazu Driehaus, Kommunalabgabenrecht (Stand: März 2001), § 8 RdNr. 492).

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Die Übertragung dieser Grundsätze auf sog. Anliegerstraßen bedeutet das Folgende: Bei überwiegend dem Anliegerverkehr dienenden Straßen handelt es sich um solche Straßen, die überwiegend der Erschließung der angrenzenden oder durch eine Zuwegung mit ihr verbundenen Grundstücke dienen. "Als Anliegerverkehr ist derjenige Verkehr anzusehen, der zu diesen Grundstücken hinführt und von ihnen ausgeht. Dieser sog. Ziel- und Quellverkehr hinsichtlich der angrenzenden Grundstücke ist nicht nur in Bezug auf Kraftfahrzeuge erheblich, sondern hinsichtlich aller Formen der Fortbewegung, also beispielsweise auch in Bezug auf den Fußgänger- und Fahrradverkehr. Denn die Straße dient auch diesen Verkehrsformen. Nur wenn der so beschriebene Anliegerverkehr insgesamt "überwiegt", also mehr als 50 % ausmacht, handelt es sich um eine Anliegerstraße. Sind der Anliegerverkehr und der übrige Verkehr, also derjenige, der nicht Ziel- und Quellverkehr in Bezug auf die angrenzenden Grundstücke ist, hingegen in etwa gleich stark oder überwiegt letzter, so scheidet eine Einstufung als Anliegerstraße aus. In solchen Fällen kann eine Straße mit starkem innerörtlichem Verkehr vorliegen, nämlich vor allem dann, wenn die Straße in erheblichem Maße dem Verkehr innerhalb von Baugebieten oder Ortslagen dient" (OVG Lüneburg, Urt. v. 10.3.1998, aaO). Dient eine Straße aber überwiegend dem Anliegerverkehr, muss sich -- ausgehend vom Vorteilsprinzip -- auch die Vorteilsbemessung daran ausrichten, m.a.W., der Vorteil der Anlieger muss jedenfalls über 50 %, der Vorteil der Allgemeinheit, also der Gemeindeanteil, unter 50 % liegen. Der Senat hat für Anliegerstraßen mehrfach einen Anliegeranteil von 75 % akzeptiert (so bereits Urt. v. 27.2.1980, aaO). Von einem derartigen Anliegeranteil ist der Senat vom Grundsatz her auch in seinem Beschluss vom 11. Juni 1999 (9 M 2210/99, aaO) ausgegangen, wenn auch mit der Besonderheit, dass bei Anliegerstraßen mit atypischen Verhältnissen es rechtlich geboten sein kann, den Anliegeranteil in einer Sondersatzung mit einem besonderen Anliegeranteil (möglicherweise zwischen 55 oder 60 %) festzulegen. Welche Vorteilsbemessung die Beklagte für ihren städtischen Bereich als zutreffend ansieht, bleibt dabei ihrem Einschätzungsermessen überlassen.