Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 13.06.2001, Az.: 9 L 1587/00
Erreichbarkeitsanforderung; Fußgängertunnel; Hinterliegergrundstück; Kurklinik
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 13.06.2001
- Aktenzeichen
- 9 L 1587/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 40483
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 04.11.1999 - AZ: 4 A 1706/99
Rechtsgrundlagen
- § 6 Abs 1 S 1 KAG ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ist ein Kurklinikgrundstück von einer ausgebauten Straße (nur) durch einen unterirdischen Tunnel fußläufig erreichbar, bietet der Ausbau dieser Straße der Kurklinik keinen besonderen wirtschaftlichen Vorteil i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 1 NKAG.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen den Bescheid der Beklagten über die Festsetzung einer Vorausleistung auf den Straßenausbaubeitrag für die Verbesserung der "K-straße" in Bad N. in Höhe von 126.418,99 DM.
Die Klägerin betreibt auf den beiden Grundstücken K-straße 9 (Flurstück 68/107) und W-straße 2 (Flurstück 64/9) eine Kurklinik. Das Hauptgebäude der Kurklinik steht auf dem -- größeren und hier allein im Streit stehenden -- Grundstück W-straße 2 mit 8.926 qm. Das 1.265 qm große Flurstück 68/107 grenzt unmittelbar an die ausgebaute K-straße an, das Flurstück 64/9 hingegen nicht. Die Gebäude auf den beiden Flurstücken sind durch einen ca. 50 m langen, etwa 3 m breiten und mehrfach winklig angelegten unterirdischen Fußgängertunnel miteinander verbunden. Der Aufgang zum Kurklinikgebäude W-straße 2 wird durch eine über Eck gebaute (Keller-)Treppe ermöglicht. Das (Haupt-)Grundstück der Kurklinik liegt im Geltungsbereich eines seit dem 1. Juli 1982 rechtsverbindlichen Bebauungsplanes, der für das gesamte Plangebiet "WA" festsetzt. Für das etwa die Hälfte des Plangebietes einnehmende Grundstück W-straße 2 ist -- zusätzlich -- die Festsetzung "Kurklinik" mit bis zu vier Geschossen sowie -- im Norden -- "Sanatorium" aufgenommen. Die im Bebauungsplan festgesetzte "Zufahrt" ist (nur) zur W-straße vorgesehen.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage -- aus prozessualen Gründen -- abgewiesen.
Die vom Senat zugelassene Berufung der Klägerin hatte Erfolg.
Entscheidungsgründe
Der Vorausleistungsbescheid der Beklagten verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Ausbau der K-straße in der Form der Verbesserung dieser öffentlichen Einrichtung bietet der Klägerin hinsichtlich des Grundstücks W-straße 2 (Flurstück 64/9) keine besonderen wirtschaftlichen Vorteile (§ 6 Abs. 1 Satz 1 NKAG).
Gemäß § 6 Abs. 7 Satz 1 NKAG kann eine Gemeinde auf die künftige Beitragsschuld angemessene Vorausleistungen verlangen, sobald mit der Durchführung der Maßnahme begonnen worden ist. Voraussetzung für die Erhebung von Vorausleistungen ist damit, dass überhaupt eine Beitragsschuld entstehen kann. Dies setzt voraus, dass der Klägerin gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 NKAG durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme der ausgebauten K-straße besondere wirtschaftliche Vorteile geboten werden. Dies ist nicht der Fall.
Die Besonderheit des vorliegenden Falles besteht darin, dass das Flurstück 64/9 kein Anliegergrundstück zur K-straße ist, es vielmehr zum ebenfalls im Eigentum der Klägerin stehenden Grundstück K-straße 9 eher als ein -- wenn auch versetztes -- sog. Hinterliegergrundstück bezeichnet werden kann, bei dem die Verbindung der beiden Flurstücke -- getrennt durch das dritte Flurstück 68/101 -- (nur) durch den unterirdischen Fußgängertunnel erreicht wird. Im Erschließungsbeitragsrecht ist anerkannt, dass ein Hinterliegergrundstück, das durch ein im Eigentum derselben Person stehendes, selbständig bebaubares Anliegergrundstück von der abzurechnenden Anbaustraße getrennt wird, durch diese Straße erschlossen wird, wenn -- etwa infolge einer einheitlichen Nutzung beider Grundstücke -- nach der schutzwürdigen Erwartung der übrigen Beitragspflichtigen mit einer Inanspruchnahme der Anbaustraße (auch) durch das Hinterliegergrundstück zu rechnen ist (BVerwG, Urt. v. 15.1.1988 -- 8 C 111.36 -- DVBl. 1988, 896 = KStZ 1988, 110 = BVerwGE 79, 1; BVerwG, Urt. v. 30.5.1997 -- 8 C 27.96 -- ZMR 1998, 57 = NVwZ-RR 1998, 67). Die einheitliche Nutzung soll vor allem durch eine grenzüberschreitende Bebauung oder eine Zufahrt bzw. einen Zugang zum Hinterliegergrundstück dokumentiert werden. Der Senat hat in seinem Beschluss vom 13. Juni 2000 (9 M 1349/99 -- Nds.Rpfl. 2000, 296 = NSt-N 2000, 242) klargestellt, dass diese Grundsätze im Rahmen des § 6 Abs. 1 Satz 1 NKAG -- wenn überhaupt -- nur eingeschränkt heranzuziehen sind. "Entscheidend ist vielmehr, ob dem Eigentümer des Hinterliegergrundstücks durch den Straßenausbau ein beitragsrelevanter Vorteil i.S.d. § 6 Abs. 1 NKAG geboten wird, weil er vom Hinterliegergrundstück eine dauerhafte Möglichkeit zur Inanspruchnahme der ausgebauten Straße besitzt. Diese Möglichkeit besteht in Fällen der Eigentümeridentität beim Vorliegen einer einheitlichen Nutzung immer. Sie setzt diese aber nicht zwingend voraus, sondern ist -- außer bei einer unterschiedlichen Nutzung (z.B. einerseits zum Wohnen und andererseits als Gewerbebetrieb) -- vielmehr in allen Fällen vorhanden, in denen die Straße vom Hinterliegergrundstück aus erreicht werden kann. Der Zugang zur Straße vom Hinterliegergrundstück ist dann regelmäßig schon wegen der Eigentümeridentität (unabhängig vom Vorhandensein einer einheitlichen Nutzung) gewährleistet". Allein die Erwähnung des Wortes "Zugang" führt aber nicht dazu, dass schon deswegen -- gewissermaßen generell -- auch nur die fußläufige Erreichbarkeit eines Grundstücks für die Annahme eines Vorteils i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 1 NKAG ausreicht. Vielmehr hängen die an die Erreichbarkeit zu stellenden Anforderungen von der zulässigen bzw. der durch einen Bebauungsplan zugelassenen baulichen Ausnutzbarkeit des Grundstücks ab. Die Annahme eines "besonderen wirtschaftlichen Vorteils" kann nicht losgelöst von der auf dem Grundstück ausgeübten zulässigen bzw. zugelassenen Nutzung gesehen werden. Für das Flurstück 64/9 setzt der einschlägige Bebauungsplan zwar zunächst "WA", also allgemeines Wohngebiet (§ 4 BauNVO), fest. Von dieser Festsetzung ausgehend wäre -- vom Grundsatz her und unter Vernachlässigung der Besonderheit der Erreichbarkeit nur durch einen unterirdischen Tunnel -- allein der Zugang, also das Heranfahrenkönnen, von der K-straße an das Flurstück 68/107 ausreichend, um auch für das Flurstück 64/9 einen beitragsrelevanten Vorteil zu bejahen. Von einer derartigen bauplanerischen Festsetzung sind bislang die Beteiligten -- und offensichtlich auch das Verwaltungsgericht -- ausgegangen. Der Bebauungsplan beschränkt sich aber keineswegs nur auf die Festsetzung "WA", sondern setzt -- gerade und nur für das Grundstück der Klägerin -- darüber hinaus eine qualifizierte Nutzung in der Form einer "Kurklinik" fest.
Damit stellt sich die Frage, welche Festsetzung bei der Vorteilsbemessung im Rahmen des § 6 Abs. 1 Satz 1 NKAG zugrunde zu legen ist. Gemäß § 4 Abs. 1 BauNVO dienen allgemeine Wohngebiete vorwiegend dem Wohnen. Zulässig sind nach Abs. 2 dieser Vorschrift -- nur dies bedarf hier einer näheren Erwägung -- u.a. Anlagen für gesundheitliche Zwecke.
Auch diese Anlagen unterliegen dabei in gleicher Weise der Gebietsverträglichkeit wie alle andere Nutzungen in einem Wohnbaugebiet. Zu den Anlagen für gesundheitliche Zwecke zählen beispielhaft etwa Institute für Heilgymnastik, Massage und medizinische Bäder, Sauna- und Fitnessanlagen, jedenfalls aber nicht Kurkliniken in der auf dem Grundstück der Klägerin betriebenen Größenordnung. Diese sind typischerweise in sonstigen Sondergebieten, also in Kurgebieten (§ 11 Abs. 2 Satz 2 BauNVO), unterzubringen. Angesichts der grundsätzlichen Gebietsunverträglichkeit dieser beiden Nutzungen zu einander, in der mündlichen Verhandlung ist von "Widerspruch" die Rede gewesen, ist entweder von einer Nichtigkeit beider oder der Nichtigkeit von nur einer der beiden Festsetzungen auszugehen.
Der einschlägige Bebauungsplan weist eine Nutzungsgrenze zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil des Plangebietes auf. Für den westlichen Teil ist nur "WA", für den östlichen "WA" und "Kurklinik" festgesetzt. Planziel und Planinhalt sind erklärterweise das -- planungsrechtlich zulässige -- Nebeneinander eines allgemeinen Wohngebietes und einer Kurklinik gewesen. Dieser tatsächliche und rechtliche Hintergrund legt die Feststellung -- zwingend -- nahe, dass die Festsetzung "WA" für den östlichen Teil des Bebauungsplanes nichtig ist. Diese Festsetzung hat der Plangeber gewissermaßen gar nicht gewollt. Sein eigentliches Ziel für diesen Teil des Bebauungsplanes war die planungsrechtliche Festschreibung der "Kurklinik". Diese hat daher -- und zwar auch allein -- Bestand.
Damit ist die Festsetzung "Kurklinik" für die Bewertung des "Vorteils" im Rahmen des § 6 Abs. 1 Satz 1 NKAG maßgeblich. Diese Form der zugelassenen baulichen Nutzung ist nicht Wohnnutzung, sondern eine gewerbliche oder ihr gleichzusetzende Nutzung. Die Nutzung als Kurklinik hat zur Folge, dass, im Verhältnis zu Wohngrundstücken, gesteigerte Anforderungen an die Erreichbarkeit zu stellen sind (ähnlich bereits der Senat mit Urteil vom 20. Juli 1999 -- 9 L 3496/98 -- Nds.Rpfl. 2000, 214 für den Bereich des Erschließungsrechts, in dem für eine im Bebauungsplan festgesetzte Nutzung Sondergebiet "Lehrbaustelle der Bauindustrie" auch eine besonders qualifizierte Anfahrbarkeit gefordert wurde). Die fußläufige Erreichbarkeit des Flurstück 64/9 von der K-straße aus -- hier in der besonderen Form der Erreichbarkeit (nur) durch einen unterirdischen Tunnel -- reicht nicht aus, um die bestimmungsmäßige Nutzung als Kurklinik in hinreichendem Umfang über die K-straße zu ermöglichen. Der Betrieb einer Kurklinik fordert wegen der ihm besonderen Eigenart der Nutzung, insbesondere auch wegen des Alters und/oder der besonderen körperlichen Befindlichkeit seiner Nutzer, eine weitergehende und umfassendere Erreichbarkeit, als sie durch einen begehbaren unterirdischen Tunnel gewährleistet wird. Damit scheidet auch die Annahme eines besonderen wirtschaftlichen Vorteils aus.