Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 06.10.2003, Az.: 1 B 45/03

Einstweiliger Rechtsschutz gegen eine Abschiebung; Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens; Berücksichtigung einer exilpolitischen, durch vietnamesische Stellen registrierten Betätigung; Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen bei einer Abschiebung ins Heimatland

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
06.10.2003
Aktenzeichen
1 B 45/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 30934
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2003:1006.1B45.03.0A

Fundstelle

  • NVwZ-RR 2004, 217-218 (Volltext mit amtl. LS)

Das Verwaltungsgericht Lüneburg -1. Kammer - hat
am 6. Oktober 2003
durch
den Einzelrichter...
beschlossen:

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage 1 A 320/03 wird angeordnet.

Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei.

Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.

Gründe

1

Der 1965 geborene Antragsteller vietnamesischer Staatsangehörigkeit (Volkszugehörigkeit der Kinh) verließ nach eigenen Angaben im April 2000 sein Heimatland, reiste im Mai 2000 in das Bundesgebiet ein und stellte hier am 8. Mai 2000 einen Asylantrag. Dieser Antrag wurde nach einer Anhörung des Antragstellers vom 11. Mai 2000 durch Bescheid vom 14. Juni 2000 abgelehnt und zugleich festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorliegen. Noch im Jahre 2000 wurde der Antragsteller aus der ZASt Braunschweig dezentral nach Lüneburg umverteilt. Die erhobene Klage wurde durch Urteil des VG Braunschweig - Einzelrichter - vom 30.07.2001 -1 A 143/00 - abgewiesen, der Antrag auf Zulassung der Berufung durch Beschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 21.08.2001 - 9 LA 2811/01 - abgelehnt.

2

Am 10. September 2003 hat der Antragsteller einen Asylfolgeantrag gestellt, den er mit exilpolitischen Aktivitäten und seiner Mitgliedschaft in der "Demokratischen Organisation Vietnams" begründete; er habe mehrfach an Demonstrationen und Veranstaltungen in Hannover und Berlin teilgenommen. Mit Bescheid vom 17. September 2003 - zustellungshalber abgesandt am 17. September 2003 - wurde der Antrag ohne weitere Anhörung des Antragstellers abgelehnt, dieser aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche zu verlassen und ihm die Abschiebung nach Vietnam angedroht, falls er nicht fristgerecht freiwillig ausreise. Am 26. September 2003 hat der Antragsteller bei der Kammer um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht.

3

Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 1 A 320/03 hat Erfolg.

4

1.

Im Verfahren des § 80 Abs. 5 VwGO sind regelmäßig die beiderseitigen Interessen im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG gegeneinander abzuwägen. Geht jedoch - wie hier - dem Rechtsschutzantrag eine behördliche Vollzugsanordnung gem. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nicht voraus, weil nach der Einschätzung des Gesetzgebers auf dem Sachgebiet generell ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht (vgl. § 75 AsylVfG), ist analog § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO zu entscheiden (Finkelnburg/Jank, NJW-Schriften Bd. 12, 4. Auflage 1998, Rdn. 849ff./851; Schoch/Schmidt-Aßmann-Pietzner, VwVG-Kommentar, Bd I / Std: Jan. 2000, § 80 Rdn. 252 m.w.N.) - es sei denn, es besteht hinsichtlich des Maßstabes eine gesetzliche Spezialregelung. Eine solche liegt mit § 36 Abs. 4 AsylVfG vor, ohne dass damit allerdings der Maßstab des§ 80 Abs. 4 S. 3 VwGO verändert worden wäre. Denn auch hiernach kommt es auf ernstliche Zweifel an, die dann anzunehmen sind, wenn "Unklarheiten, Unsicherheiten und vor allem Unentschiedenheit bei der Einschätzung der Sach- und Rechtslage" bestehen (Schoch u.a., a.a.O.., Rdn. 194), sodass Erfolg wie Misserfolg des Hauptsacheverfahrens gleichermaßen wahrscheinlich sind. Solche Zweifel liegen hier vor.

5

Auf diese Weise wird - auf der Grundlage einer prognostischen Risikoeinschätzung - zugleich auch Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 07.12.2000 (Amtsblatt 2000/C 364/01 d. Europ. Gemeinsch.) und damit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK Rechnung getragen, demzufolge niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen werden darf, in dem für ihn das "ernsthafte Risiko" u.a. einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht. Ein solches Risiko besteht hier (dazu unten).

6

2.

Die genannten Zweifel im Verfahren des § 80 Abs. 5 VwGO sind hier deshalb gegeben, weil bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 71 Abs. 1 AsylVfG und 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht von der Hand zu weisen ist.

7

a)

Für ein Wiederaufgreifen gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 VwVfG genügt es, dass im mehrstufigen Wiederaufnahmeverfahren (vgl. dazu BayVGH, Inf-AusIR 1997, 47o m.w.N.; VG Lüneburg, InfAusIR 2000, S. 47) eine nachträgliche Änderung der Sachlage (oder Rechtslage) fristgerecht vorgetragen und die vorgetragenen Gründe, es - analog § 42 Abs. 2 VwGO - nur möglich erscheinen lassen, dass ein günstigeres Ergebnis erzielt werden kann (BayVGH, a.a.O., m.w.N.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, Std: Sept. 2000, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAusIR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234; 44, 338; 77, 325; BGH NJW 1982, 2128; OVG Münster DÖV 1984, 901). Das Gesetz verlangt in dieser 1. Stufe - der Vorprüfung - nur, eine neue Entscheidung müsse zu Gunsten des Betroffenen ergehen können, wobei "können" iSv Eignung und Möglichkeit gemeint ist (Kopp/ Schenke, VwGO-Komm., 12. Auflage, Rdn. 66 m.w.N.; Funke-Kaiser, a.a.O., Rdn. 83, 89 u. 106 m.w.N.; vgl. HambOVG, NVwZ 1985, 512: "gute Möglichkeit einer Asylanerkennung"). Nicht zu verlangen ist, dass "die Veränderung der Sachlage zur Überzeugung des Bundesamtes oder Verwaltungsgerichts auch tatsächlich eingetreten ist" (Funke-Kaiser, a.a.O.., Rdn. 85). Schon diese Erheblichkeitsprüfung gehört zum Kern des eigentlichen Folgeverfahren (Funke-Kaiser, a.a.O., Rdn. 84). Noch viel weniger kann im Vorprüfungsverfahren mit seiner bloßen Anstoßfunktion (Funke-Kaiser, a.a.O., Rdn. 89.1) verlangt werden, dass die Verfolgungsfurcht in der Sache geprüft wird.

8

Das wird außer Acht gelassen, wenn im Bescheid in eine Würdigung der (unstreitigen) exilpolitischen Tätigkeit und der Erkenntnisquellen eingetreten (S. 3 u. 4 d. angef. Bescheides) und das Folgeverfahren bereits mit der Erwägung entschieden wird, der Antragsteller sei mit seinen Aktivitäten nicht genügend hervorgetreten und lasse die kommunistische Regierung in Vietnam noch nicht "das Gesicht verlieren", sodass er voraussichtlich nicht bestraft werde - eine Annahme, die sich angesichts der neueren Nachrichten aus Vietnam (dazu s.u.) und der dortigen Willkürlichkeiten für das Asylfolgeverfahren so nicht mehr halten lassen dürfte. Darüber hinaus ist es nicht erforderlich, dass solche Aktivitäten in Vietnam öffentlich bekannt werden (OVG Weimar, Urteil v. 06.03.2002 - 3 KO 428/99 -a.a.O..). Damit dürfte insgesamt ein entsprechender "Anstoß" (s.o.) für die Durchführung eines Folgeverfahrens gegeben sein.

9

Ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens (im Verfahren der Hauptsache, das hier im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO nicht zur Prüfung steht) ist nur abweisbar, wenn ein hinreichend substantiiertes Vorbringen nach jeder nur denkbaren Betrachtung völlig ungeeignet ist, wobei verfassungsrechtlich sogar die erforderliche "Richtigkeitsgewissheit" vorliegen muss (BVerfG, InfAusIR 1995, 342 und InfAusIR 1995, 19). Ist das nicht der Fall, so ist erst in der eröffneten 2. Stufe des Folgeverfahrens (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., Rdn. 77.2) sachlich zu prüfen, ob die vorgetragenen Gründe tatsächlich tragen und eine asylrelevante Verfolgung oder aber die Voraussetzungen für Abschiebungsverbote oder -hindernisse vorliegen (BayVGH, a.a.O. m.w.N.; 1. Kamm, des 2. Senats des BVerfG, AuAS 1993, 189/190; Funke-Kaiser, a.a.O., Rdn. 77.2, 84, 89.1). An die Substantiierungspflicht sind schon aus verfassungsrechtlichen Gründen selbstverständlich "keine überspannten Anforderungen" zu stellen (Funke-Kaiser, a.a.O., Rdn. 89.1).

10

Da es für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die "politische Einstellung des Betroffenen" abzielen und sich als Verfolgung darstellen, stets auf die "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland" ankommt und dortige Veränderungen die im Rahmen von § 51 Abs. 1 AuslG zu prüfende (bloße) Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung nahe legen können (so BVerwG, InfAusIR 1994, S. 286 / S. 288), ist eine nachträgliche Änderung der Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, a.a.O., Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland", aber auch bei einer Veränderung der behördlichen Reaktion auf politisches Engagement in Vietnam gegeben. Die These, Auslandsaktivitäten seien nur in Ausnahmefällen - bei besonders exponierter Betätigung mit breiter Auslandswirkung ("Gesichtsverlust") - als Anstoß für Verfolgungsmaßnahmen zu werten, bedarf angesichts dessen der Überprüfung, dass in Vietnam eine abweichende politische Gesinnung - mag sie auch zuvor im Ausland erlangt sein - nicht geduldet, sondern vielmehr ganz eindeutig bekämpft wird (Lagebericht des a.A. v. 01.04.2003). Eine solche Gesinnung / Kursabweichung könnte damit nachhaltige Verfolgungsmaßnahmen nach sich ziehen (s.u.), wobei es offenbar keine Rolle spielt, in welchem Maße diese Gesinnung nach außen getreten ist und Breitenwirkung erzielt hat. Dafür spricht u.a. auch die Verweigerung der Einreise einer Reihe von langjährig im Ausland verbliebenen Vietnamesen durch vietnamesische Behörden (vgl. dazu die sog. "N-Listen" beim Nds. Landeskriminalamt und die offenkundigen Rückführungsschwierigkeiten bei der Grenzschutzdirektion Koblenz, s. dazu Urt. des VG Lüneburg, InfAusIR 2002, 367 m.w.N.).

11

b)

Hier liegt es so, dass sich einerseits die "Gesamtverhältnisse" in Vietnam verschärft haben dürften (vgl. den ai-Jahresbericht 2003, S. 625, "Drangsalierung von Regierungskritikern" und S. 626 "Schwäche und mangelnde Unabhängigkeit der Justiz"), was sich schon als neuer Sachverhalt iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG und damit als "Anstoß" zu einer weiteren Prüfung darstellt, und andererseits die unstreitige Mitgliedschaft des Antragstellers in den gen. Organisationen unter Berücksichtigung seiner exilpolitischen, durch vietnamesische Stellen registrierten Betätigung in Deutschland (vgl. S. 3 d. angef. Bescheides und Zeitungsartikel "Vietnams Spitzel entscheiden..." in taz v. 01.10.2003) im rechts-hängigen Klageverfahren durchaus eine Gefährdung für den Fall seiner Rückkehr nach Vietnam belegen könnten, was wiederum eine Veränderung der Sach- u. Rechtslage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (im Sinne einer Handlungseinheit) sein könnte. Dabei ist prognostisch die Möglichkeit von Verfolgungsmaßnahmen einzubeziehen, die ihren Grund darin haben könnten, dass der Antragsteller exilpolitisch aktiv war und ist. Es könnten daher - soweit z.Z. im vorläufigen Rechtsschutzverfahren des § 80 Abs. 5 VwGO überschaubar - im maßgeblichen Klageverfahren unter Geltung des § 86 Abs. 1 VwGO durchaus die Voraussetzungen eines Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG anzunehmen sein.

12

Dem Antragsteller könnte somit in Verbindung mit seinen früheren und seinen heutigen politischen Aktivitäten bei einer Rückkehr nach Vietnam die von ihm befürchtete Verfolgung inzwischen auf Grund der sich in Vietnam geänderten Gesamtverhältnisse drohen (vgl. Lagebericht a.A. v. 01.04.2003 unter II 7; ai-Jahresbericht 2003, a.a.O.). Das ist im hier vorliegenden Eilverfahren auch unter Berücksichtigung der im Bescheid angenommenen (hohen) Schwelle exilpolitischer Tätigkeit derzeit zu Gunsten des Antragstellers beachtlich (§ 80 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 S. 3 VwGO, s.o.) - zumal unklar ist, wann diese angenommene Schwelle durch welche Tätigkeiten im Einzelnen konkret erreicht werden soll: "Ohne detaillierte Kenntnis der jeweiligen Aktionen und Publikationen der Betroffenen ist der Grad der Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht zu beurteilen" (so a.A. v. 26.02.1999, S. 7). Die These, ein Verfolgungsinteresse vietnamesischer Behörden werde in allen Fällen nur dann geweckt, wenn die kommunistische Regierung in Vietnam einen "Gesichtsverlust" erleiden könnte, - wobei offen bleibt, wann das der Fall sein soll - stellt sich als unbewiesene Annahme dar, die an der Realität vorbei gehen (siehe dazu noch unten) und verkennen könnte, dass das Verhalten des Antragstellers zumindest als "Frechheit" angesehen werden könnte, der mit Gewalt und Einschüchterung zu begegnen sei (so der fachkundige Sachverständige Dr. Will v. 14.09.2000): Allein das "Lesen" regierungskritischer Zeitungen kann schon Verfolgungsmaßnahmen nach sich ziehen (IGFM Januar 1997, S. 23; Lagebericht des a.A. v. 01.04.2003). Im Übrigen ist inzwischen sehr zweifelhaft, ob die gen. hohe Schwelle im Herkunftsland Vietnam noch gilt oder sie sich nur als eine Annahme aus deutscher Sicht darstellt (vgl. ai-Jahresbericht 2002, S. 604: "Schikanierung von Kritikern der Regierung"; Lagebericht des a.A. v. 01.04.2003). Allein schon das Schmuggeln von Flugblättern mit antikommunistischen Inhalten reicht dabei für Verurteilungen aus (so ai-Jahresbericht 2002, S. 604). Der Sachverständige Dr. Will hält demgemäß an seiner schon früher geäußerten (fachkundigen) Auffassung fest, dass Rückkehrer nachöffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. auch Dr. Will v. 14.09.2000, S. 1).

13

Daneben aber schaffte eine einmal vollzogene Abschiebung - u.U. im Widerspruch zu Art. 19 Abs. 2 der EU-Grundrechts-Charta (s.o.) und Art. 19 Abs. 4 GG - endgültig vollendete Tatsachen zu Lasten des Antragstellers und Klägers, die im Hauptsacheverfahren nicht mehr revidierbar wären. Auch das ist z.Z. ein gewichtiger Abwägungsgesichtspunkt.

14

c)

Das Bedrohungs- und Verfolgungsrisiko in Vietnam ist auf der Grundlage des geänderten und neu gefassten VietStGB z.Z. sehr schwer einzuschätzen, weil die Reaktionsweise vietnamesischer Behörden "ständigen, zum Teil sehr irrationalen Veränderungen unterworfen" ist (so die sachverständige Stellungn. von Dr. G. Will, Hamburg, vom 14.09.2000, S. 3). So kann Rückkehrern "im Einzelfall eine Bestrafung wegen Propaganda gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung nach dem StGB drohen" (Lagebericht des a.A. v. 09.07.2001, S. 7). Ein Verbot der Doppelbestrafung ist im VietStGB nicht enthalten (so a.A. an VG Leipzig v. 08.08.2001). Eine Prognose, Verhaftungen, Bestrafungen, Umerziehungsmaßnahmen und Zwangsarbeit würden in Vietnam ausschließlich bei "besonders hervorgetretener" regimekritischer Betätigung im Ausland vorgenommen, ist heute u.U. nicht mehr möglich und geht an der Irrationalität und der dem Zufall verhafteten Willkürlichkeit des vietnamesischen "Rechtssystems" vorbei. Vielmehr

"müssen all diejenigen vietnamesischen Staatsbürger, die im Ausland öffentliche Kritik an dem Regierungssystem ihres Landes bzw. an der Politik ihrer Regierung geübt haben, bei ihrer Rückkehr nach Vietnam mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen" (so Dr. G. Will in seiner gutachterl. Stellungn. v. 14.09.2000,8. 1).

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Allein schon der Besitz antikommunistischer Flugblätter kann für eine Verurteilung ausreichen, Kritiker der regierungsamtlichen Politik werden schikaniert (ai-Jahresbericht 2002, S. 604). Die im August 2001 erlassene Verordnung zu Niederlassungsverbot u. Hausarrest schränkt u.a. den Zugang zum Internet weiter ein (Jahresbericht ai 2002, a.a.O.). Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich diesbezüglich wie folgt zur Lage in Vietnam gutachterlich geäußert (Stellungn. v. 14.09.2000 an 29. Kammer des Bay. VG München, S. 3):

"Berücksichtigt man all diese Faktoren, so wird zumindest erklärbar, warum manche auch gegenüber ausländischen Medien geäußerten Auffassungen prominenter Oppositioneller ohne nennenswerte Sanktionen und Repressionen hingenommen werden, während kritische Anmerkungen eines unbekannten Bürgers sehr schwer wiegende Bestrafungen nach sich ziehen können."

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Aktivitäten unbekannter Bürger, die mit im Ausland operierenden Oppositionsgruppen in Zusammenhang gebracht werden können, werden "meist mit Landesverrat gleichgesetzt" (so Dr. G. Will, a.a.O..). Oppositionelles Verhalten wird "schlicht als Unbotmäßigkeit bzw. Frechheit angesehen, der mit körperlicher Gewalt und massiver Einschüchterung zu begegnen" ist (Dr. G. Will, a.a.O..). Diese gutachterlichen Äußerungen gehen auf eine fachkundige Beobachtung der tatsächlichen vietnamesischen Verhältnisse zurück/die zudem indizieren, dass der Rechtssektor "weit gehend unterentwickelt" ist (so auch a.A. v. 01.04.2003 und v. 26.02.1999). Nach der Einschätzung der IGFM (Pressemitteilung v. 18.10.2001) "entpuppt sich Vietnam als ein 'rechtsbeugender Staat'". Gerichtsverfahren verlaufen in aller Regel unfair (ai-Jahresbericht 2002, S. 603), unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern wird die Einreise verweigert (Jahresbericht, a.a.O.., S. 603 und S. 605), damit Misshandlungen, Folterungen und Rechtsbeugungen unerkannt bleiben. Vier Journalisten sind im Juli 2002 "überfallartig verhaftet" worden und werden allein wegen der Unterzeichnung eines Protestbriefes - nach eintägigem Verhör durch den vietn. Staatssicherheitsdienst - an unbekannten Orten gefangen gehalten, u.zw. ohne jedes rechtsstaatlich-justizielle Verfahren (so IGFM v. 25.07.2002). Daher üben viele Journalisten inzwischen "Selbstzensur" (Lagebericht des a.A. v. 01.04.2003), werden staatlich missbilligte Nachrichten nicht verbreitet oder veröffentlicht.

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d)

Anknüpfungspunkt für Maßnahmen gegen den Antragsteller könnte heute (anders als noch 1994) die Tatsache sein, dass es in Vietnam sog. "administrative Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31 -CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.02.1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheiderbrief v. Febr. 1999). Ein neueres Dekret v. 23.08.2001 (Nr. 53/2001/ND-CP) sieht zudem die Möglichkeit eines 5-jährigen Hausarrestes im Anschluss an eine Haftstrafe vor (Lagebericht des a.A. v. 01.04.2003). Auch das ist eine relevante Veränderung der Verhältnisse in Vietnam, die zur Überwindung der 1. Verfahrensstufe ausreicht (s.o., vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., Rdn. 85). Das Instrument administrativer Haft entstammt der französischen Kolonialzeit und dient eindeutig der "Ausschaltung unliebsamer 'Konterrevolutionärer Gegner'" (so der Lagebericht des a.A. v. 26.02.1999). Es greift in Bürgergrundrechte wie z.B. Art. 72 ein und widerspricht dem Int. Pakt über bürgerliche u. politische Rechte (AA v. 26.02.1999, S. 3). Strafen werden mithin administrativ verhängt, ohne dass sie von einer unabhängigen 3. Gewalt auf ihre Berechtigung hin kontrolliert werden. Entsprechende Strafmaßnahmen tragen deutliche Anzeichen reiner Willkür (Dr. G. Will, S. 3 der Stellgn. v. 14.09.2000). Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich dazu wie folgt geäußert:

"Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um eine Maßnahme handelt, derer sich die vietnamesischen Behörden vor allem in den etwas abgelegeneren Provinzen gerne bedienen, um missliebige Kritiker aus dem Verkehr zu ziehen und einzuschüchtern." (Dr. G. Will, Stellung, v. 14.09.2000, a.a.O.. S. 5).

18

Allerdings sind Erkenntnisse über die vietnamesische Praxis in diesem Bereich angesichts der journalistischen Selbstzensur "nur schwer zu erhalten" (so Lagebericht des a.A. v. 26.02.1999), sodass unklar ist, wer dorthin verbracht und "abgestraft" wird. In der FAZ v. 21.01.1999 heißt es insoweit:

19

Ein im Westen ausgebildeter Jurist war mehr als zehn Jahre in Haft, auf Grund administrativer Entscheidungen und ohne je ein Gericht gesehen zu haben. "Sie schlagen nicht, sie stecken dich in Einzelhaft oder in ein Arbeitslager - bis du die Gesetze des Klassenkampfs endlich eingesehen hast", sagt er... (FAZ v. 21.01.1999).

20

e)

Auf Grund solcher Gesamtverhältnisse Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden heute nicht mehr abzugeben. Es ist dem Zufall überlassen, ob jemand repressiv "behandelt", schikaniert, gefoltert oder abgestraft wird. Willkürliche Verhaftungen finden statt, wobei das nur formale Recht, einen Beistand hinzuzuziehen, nicht einmal eingehalten wird (so im Verfahren gegen Pfarrer Ly, vgl. IGFM-Presse-mitt. v. 22.10.2001; so auch der Einzelentscheider-Brief Febr. 1999). Eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden abzugeben, ist im Einzelfall völlig unmöglich:

"Da das Vorgehen der vietnamesischen Behörden und auch der Justiz, wie oben bereits ausgeführt, ganz wesentlich politisch beeinflusst und im Übrigen in hohem Maße korrupt ist, ist eine objektive Beurteilung, ob sich die zuständigen Stellen von den...geschilderten Erwägungen bei der Entscheidung über das Ob und Wie einer Bestrafung des Betroffenen leiten lassen, praktisch unmöglich." - ai-Stellungnahme v. 02.02.1999 (ASA 41-97.145).

21

Damit ist zweifelhaft, ob der Antragsteller - von künftigen Veränderungen in Vietnam während des Klageverfahrens abgesehen - im Hauptsacheverfahren als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG noch so ohne weiteres abgelehnt werden könnte. Nach den gegenwärtigen Erkenntnissen ist vielmehr prognostisch eine Wahrscheinlichkeit für Verfolgungsmaßnahmen gegenüber dem Antragsteller gegeben. Deshalb ist ihm - mit Blick auf die angedrohte und letztlich weit gehend irreparable Abschiebung - zunächst angesichts von Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechts-Charta und mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG (und Art. 47 EU-Grundrechts-Charta) jedenfalls vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren.

22

3.

Im Übrigen stehen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht ausnahmsweise besonders gewichtige Gründe entgegen, die es erlaubten, schon vor Abschluss des Verfahrens der Hauptsache die vollendete Tatsachen schaffende Abschiebung durchzuführen, die von der Antragsgegnerin angedroht worden ist (Pkt. 3 des Bescheides). Denn der Rechtschutzanspruch eines Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG ist umso stärker, je gewichtiger die Ihm abverlangte Belastung - hier die Abschiebung - ist (BVerfGE 35, 382 / 4o2; BVerfGE, NVwZ 1985, 4o9; BVerfG (3. K. des 2. Senats) NVwZ-Beilage 1996, 19 m.w.N.). Deshalb ist sein Rechtsschutzantrag nur im Falle eindeutiger und unumstößlicher Richtigkeit (BVerfG, InfAusIR 1995, 19) abweisbar, die regelmäßig erst im Hauptsacheverfahren zu erlangen ist:

23

Droht... dem Ast. bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt werden kann, so ist -... - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (so die 3. Ka. des 2. Senats des BVerfG, Beschl. v. 27.10.1995, NVwZ-Beilage 3/1996, S. 19 m.w.N.)

24

An solcher unumstößlichen Richtigkeit fehlt es hier. Vielmehr ist angesichts des neuen Sachvortrags im Folgeverfahren wie auch der Veränderungen in Vietnam (Lagebericht des a.A. v. 01.04.2003) eine Bedrohung insbesondere von Freiheitsrechten iSv. § 51 AuslG und eine Verfolgung des Antragstellers denkbar und möglich, der ergangene Bescheid nicht frei von ernstlichen Zweifeln.

25

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.

Dietze