Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 22.09.2005, Az.: 1 A 32/02
Abschiebungsverbot; Asylverfahren; Folgeverfahren; Nachfluchtgrund; Normumsetzungsfrist; Opferbetrachtung; Täterbetrachtung; Umsetzungsfrist; Vietnam; Wiederaufgreifen; Wiederaufnahme; Wiederaufnahmeverfahren
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 22.09.2005
- Aktenzeichen
- 1 A 32/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 51020
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs 1 AufenthG 2004
- § 71 Abs 1 AsylVfG 1992
- § 51 Abs 1 VwVfG
- § 51 Abs 2 VwVfG
- § 51 Abs 3 VwVfG
- § 28 Abs 2 AsylVfG 1992
- Art 1 EGRL 83/2004
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. § 60 Abs. 1 AufenthG ist unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/83/EG, die schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist heranziehbar ist, grundrechtsbewahrend und im Sinne einer Opferbetrachtung auszulegen.
2. § 28 Abs. 2 AsylVfG ist als Ausnahme zu verstehen und sehr zurückhaltend - äußerst eng - auszulegen (Anschluss an Urt. d. VG Stuttgart v. 18.4.2005, InfAuslR 2005, 345).
Tatbestand:
Dem Kläger geht es um die Feststellung eines Abschiebungsverbots bzw. von Abschiebungshindernissen gem. § 60 AufenthG.
Der 1966 geborene Antragsteller vietnamesischer Staatsangehörigkeit streng buddhistischen Glaubens, der in Vietnam aus Angst vor Musterung und Militärdienst untergetaucht und 1988 durch Bestechung in die ehem. CSFR entsandt worden war, kam - nach mehrjährigem Aufenthalt in der CSFR (1988-1991) - im September 1991 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte am 26.9.1991 erstmals einen Asylantrag. Dieser wurde - unter verschiedenen Geburtsdaten, bei Vorlage von zwei Arbeitsausweisen mit Fotos des Klägers - zweifach angelegt und aufgenommen, der Kläger am 26. September 1991 zweimal angehört, wobei er beim zweiten Mal u.a. auf das zuvor abgegebene „Statement“ Bezug nahm. Die beiden Anträge wurden durch die Bescheide des Bundesamtes vom 30. September 1991 (unter richtigen Personalien) sowie vom 27. April 1992 (unter falschem Vornamen und falschen Geburtsdaten) jeweils abgelehnt. Die dagegen gerichteten Klagen wurden durch die rechtskräftigen Urteile der Kammer vom 27. Juni 1994 - 1 A 862/91 -) und vom 29. Juli 1994 - 1 A 553/92 - abgewiesen. Ein Antrag auf Zulassung der Berufung im erstgenannten Verfahren hatte keinen Erfolg (Beschl. d. Nds.OVG v. November 1994 - 9 L 4523/94 - , Tag im Beschluss nicht benannt).
Am 17. Dez. 2001 stellte der Kläger mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, er sei 1998 nach Vietnam zurückgekehrt, dort zu seinen Tätigkeiten in Deutschland verhört und anschließend ohne gerichtliches Verfahren zu unentgeltlicher Zwangsarbeit gezwungen worden. Er sei ständig überwacht und bei einem Besuch in der Stadt Thai Binh entdeckt und sogleich wieder in sein Dorf zurückgewiesen worden, das er nicht habe verlassen dürfen, wo ihm zugleich auch der Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz bis Anfang 2001 verboten worden sei. Nachdem bei ihm im Jahre 2001 ausländische Zeitungen entdeckt worden seien, sei er aus Angst vor Haft und weiterer Zwangsarbeit erneut nach Deutschland geflohen. Hier wurde er auf Antrag der zuständigen Ausländerbehörde vorübergehend in Abschiebehaft genommen. Am 19. Dezember 2001 gab er im Rahmen des Abschiebehaftverfahrens beim Amtsgericht Winsen/L. an, sein richtiger Vorname sei Van Con, er sei am 6.6.1966 geboren und er habe in der Bundesrepublik bereits mehrere Jahre unter falschem Namen gelebt; er sei 1998 nach Vietnam ausgereist und in der Nacht zum 30.11.2001 über Dresden wieder in das Bundesgebiet eingereist, nachdem er sich im September an der chinesischen Grenze befunden habe; Schleuser hätten ihn - wohl über die Ukraine - nach Europa gebracht. Anschließend erging ein Abschiebehaftbeschluss, der Antragsteller wurde in die JVA Hannover gebracht. Mit Bescheid vom 15. Januar 2002 (2 726 069-432) - zugestellt per Übergabe-Einschreiben (abgesandt am 17.1.02) - lehnte die Beklagte die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen. Es wurde festgestellt, dass der Antragsteller nach Ablauf einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung aus der Haft heraus nach Vietnam abgeschoben werde. Für den Fall der Haftentlassung wurde der Antragsteller aufgefordert, das Bundesgebiet binnen 1 Woche nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen, wobei ihm für den Fall der Nichteinhaltung dieser Frist die Abschiebung angedroht wurde. Außerdem wurde ihm eine solche Abschiebung im Falle einer erneuten, unerlaubten Wiedereinreise angedroht.
Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 25. Januar 2002 bei der erkennenden Kammer Klage erhoben und zugleich - erfolgreich (Beschluss der Kammer v. 6.2.2002 -1 B 9/02) - um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung vertieft er seinen Standpunkt, er müsse bei einer Rückkehr nach Vietnam mit all dem rechnen, was er dort bereits erlebt habe - wahrscheinlich aber jetzt auch mit Haft und Gefängnis. Er habe sich immer schon regimekritisch verhalten und sei dafür drangsaliert und in Zwangsarbeit genommen worden.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15. Januar 2002 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt sind.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid und dessen Gründe.
Der Einzelrichter hat Beweis über die Echtheit der vom Kläger vorgelegten Dokumente vom 15. Januar 1999 erhoben, u.zw. durch Einholung einer Stellungnahme des Auswärtigen Amtes (Beweisbeschluss v. 1. Juni 2005). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 29. Juli 2005 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage, über die im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist insoweit begründet, als es dem Kläger um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.
Im Übrigen - wegen der ursprünglich begehrten Anerkennung als Asylberechtigter gem. Art. 16 a Abs. 1 GG - ist die Klage nach der Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung kostenpflichtig einzustellen (§§ 92 Abs. 3, 155 Abs. 2 VwGO).
1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist jener der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 AsylVfG, für den eine Gleichsetzung retrospektiv-politischer Verfolgung iSv Art. 16 a GG mit einer prognostischen Bedrohung iSv § 60 AufenthG angesichts des hier vorliegenden Zeitabstandes von rd. 7 Jahren nicht möglich ist.
2. Das Folge- und Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG ist gestuft: Voraussetzung ist lediglich ein glaubhafter und substantiierter Vortrag, aus dem sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergeben können muss (HambOVG, NVwZ 1985, 512: „gute Möglichkeit einer Asylanerkennung“; h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. BayVGH, aaO, m.w.N.; VGH Baden-Württ., Urt. v. 16.3. 2000, AuAS 2000, 152 f.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; Renner, aaO. § 71 AsylVfG Rn. 24; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; BGH NJW 1982, 2128 [BGH 29.04.1982 - IX ZR 37/81]; OVG Münster DÖV 1984, 901; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217 [VG Lüneburg 06.10.2003 - 1 B 45/03]). Für ein Wiederaufgreifen bedarf es nicht zugleich auch irgendeines Beweises. Noch weniger kann in dieser 1. Stufe mit seiner bloßen Anstoßfunktion (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 89.1) verlangt werden, dass die Verfolgungsfurcht in der Sache selbst schon nachgewiesen und sachlich geprüft wird (BVerfG, NVwZ 2000, Beilage Nr. 7 S. 78 f. [BVerwG 24.03.1999 - BVerwG 8 C 27/97]). Das Bundesamt hat lediglich eine Schlüssigkeitsprüfung durchzuführen und - bei schlüssiger Darlegung von Veränderungen - ein weiteres Asylverfahren zu eröffnen und durchzuführen (HessVGH, ESVGH 38, 235). Daher ist es bedeutungslos, ob der neue Vortrag zutrifft, ob die Verfolgungsfurcht begründet und die Annahme einer asylrelevanten Motivierung der Verfolgung gerechtfertigt ist. Alle diese Fragen sind Gegenstand der 2. Stufe des Folge- und Wiederaufnahmeverfahrens. Nur dann, wenn ein Vorbringen von vorneherein nach jeder nur denkbaren Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot iSv § 60 Abs. 1 AufenthG zu verhelfen, kann ein Folgeantrag als unbeachtlich gewertet werden. Eine solche Ausnahme beschränkt sich allerdings auf Einzelfälle, deren fehlende Asylerheblichkeit auf der Hand liegt (BVerfG, DVBl. 1994, 38 [BVerfG 11.05.1993 - 2 BvR 2245/92]; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Ein derartiger Einzelfall liegt hier nicht vor.
Soweit im Bescheid die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG angesprochen sind und dabei bezüglich der Rückreise und des Aufenthalts des Klägers in Vietnam dessen Unglaubwürdigkeit in den Mittelpunkt gerückt worden ist (S. 3 / 4 d. angef. Bescheides), kann inzwischen davon ausgegangen werden, dass die Ausführungen und Darstellungen des Klägers in ihrem Kern zutreffen: Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 1. Juni 2005 vorgelegten Dokumente sind nämlich nach der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 29. Juli 2005 tatsächlich von der örtlichen Polizei in Vietnam gesiegelt und unterschrieben worden, die Dokumente also ihrer Form nach echt. Somit kann nicht mehr daran festgehalten werden, dass seine Einlassungen „reichlich unverfroren“ seien und „offenkundige Zweifel an der Glaubwürdigkeit“ des Klägers bestünden (S. 4 d. angef. Bescheides). Vielmehr dürften seine Angaben, er sei nach Vietnam zurückgekehrt und habe versucht, dort bei seinen Eltern zu wohnen, in ihrem Kern richtig sein und zutreffen (Bl. 106 ff., 111 GA). Der entsprechende Antrag auf Erteilung einer Wohnerlaubnis - für ein Wohnen bei seiner Familie - ist vom Vater des Klägers als dem insoweit verpflichteten Familienvorstand beim vietnamesischen Meldeamt nachweislich gestellt worden.
Im Übrigen ist es so, dass neben länderspezifischen (neueren) Einschätzungen und Gutachten sowie tatsächlichen Feststellungen von Gerichten, die als neue Beweismittel iSv § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG gelten (Marx, Kommentar zum AsylVfG, 3. Aufl., § 71 Rdn. 37-39), auch asylrelevante Veränderungen der politischen Verhältnisse und Reaktionen im Heimatland des Asylbewerbers dann als Änderung der Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu berücksichtigen sind, wenn sie erst im Laufe des Verfahrens deutlicher hervorgetreten sind (vgl. Lagebericht des AA v. 12.2.2005 sowie vom 28.8.2005). Zudem war der Kläger als vietnamesischer Staatsbürger im Ausland ohne Verschulden außerstande, sämtliche einschlägigen Tatsachen zu Änderungen in Vietnam rechtzeitig vorzutragen, so dass ihm antragslos Wiedereinsetzung zu gewähren sein dürfte, § 32 Abs. 2 S. 4 VwVfG.
Schließlich hat die Verwaltungsbehörde bei nicht durchgreifenden Gründen iSv § 51 Abs. 1 VwVfG (und damit dem Fehlen eines Anspruchs auf ein Wiederaufgreifen) stets ein Wiederaufgreifen im Ermessenswege gem. §§ 51 Abs. 5, 48 f. VwVfG zu prüfen; bei hinreichend schwerwiegenden Gründen ist sie dazu sogar iSe Ermessenreduzierung verpflichtet (Kopp/Ramsauer, VwVfG-Kommentar, 8. Aufl. § 51 Rdn. 24 m.w.N.; BVerwGE 111, 77; BVerwG, Beschl. v. 15.1.2001 - 9 B 475.00 -).
Letztlich und vor allem ist aber zu berücksichtigen, dass es um den Kerngehalt asylrechtlichen Schutzes - ein aktuelles Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 1 AufenthG für das Jahr 2005 - geht, mithin eine „möglichst grundrechtsbewahrende Auslegung“ geboten ist (vgl. Renner, Ausländerrecht, 7.Aufl. § 28 AsylVfG Rdn. 7 u. 8 m.w.N.).
3. In diesem Fall, dass nämlich die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG erfüllt sind, kommt in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.) eine Zurückverweisung des Verfahrens an das Bundesamt nicht mehr in Betracht. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht selbst in der Sache durchzuentscheiden (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO).
4. Die Anerkennung als Flüchtling (Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention, § 60 Abs. 1 AufenthG) setzt voraus, dass dem Kläger bei einer Rückführung in seinen Heimatstaat (§ 13 Abs. 1 AsylVfG) bei prognostischer Einschätzung für den Zeitpunkt September 2005 eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung droht. Denn gem. § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat zurückgeführt oder abgeschoben werden, in dem sein Leben oder auch nur seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Auch eine Bedrohung der in den Art. 3, 4, 7 und 8 EMRK genannten Rechtsgüter oder aber der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) führt zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. Nr. 10 der Gründe Richtlinie 2004/83/ EG v. 29.4.2004; BVerwGE 89, 296; Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 51 AuslG, Rdn. 4 m.w.N.). Die Verfolgung kann vom Staat ausgehen, aber auch von anderen Akteuren (§ 60 AufenthG).
Mit § 60 AufenthG hat sich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/83/EG v. 30.9.2004 - L 304/12 - ein Perspektivwechsel weg von der Täter- hin zu einer Opferbetrachtung vollzogen, der sich dem Sinn und Zweck der gen. Richtlinie entsprechend auch inhaltlich auswirkt. Vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.:
„Ferner ergibt sich die oben genannte Sichtweise des § 60 I AufenthG aus einer Auslegung, die sich an der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. „Qualifikationsrichtlinie“, ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 ff.) orientiert. Diese Auslegung ist geboten, auch wenn die Umsetzungsfrist des Art. 38 I der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist (Umsetzung bis 10.10.2006). Denn mit § 60 I AufenthG sollte das deutsche Recht schon insoweit an die genannte Richtlinie angepasst werden (ebenso bzgl. § 60 I S. 4 AufenthG: Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministerium des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: Dezember 2004, Zif. 60. 1.4; Renner, ZAR 266 ff. (269); Duchrow, ZAR, 2004, S. 339 ff. (340); Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73). Daher liegt es nahe, § 60 I AufenthG schon jetzt richtlinienkonform auszulegen, zumal eine Richtlinie auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist insoweit Beachtung verlangt, als es einem Mitgliedstaat verboten ist, ihre rechtzeitige Umsetzung durch kontraproduktive Maßnahmen zu vereiteln (vgl. EuGH, Urteil v. 18.12.1997 - Rs. C-129/96 - „Inter-Environnement Wallonie ASBL“, Slg. 1997, S. I-7411 ff., Rn. 40 ff.). Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 c), Art. 6-8 jedoch nicht vom deutschen Begriff der „politischen Verfolgung“ i.S. der sog. „Zurechnungslehre“, sondern von dem in der Genfer Konvention zugrunde gelegten Flüchtlingsbegriff i.S. der sog. „Schutztheorie“ aus (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.).“
Soweit § 60 Abs. 1 AufenthG voraussetzt, dass der Ausländer im Herkunftsland in diesem Sinne "bedroht" ist, lässt er erkennen, dass (nur) eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dieser Rechtsgutsverletzung bestehen muss. Es muss nicht etwa eine „Sicherheit“ dafür gegeben sein. Da inzwischen die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten ist, sind heute in Übereinstimmung mit dem gen. Urteil des VG Stuttgart auch deren Standards im Wege der Auslegung beachtlich (vgl. auch EuGH, Urt. v. 9.3.2004 - C 397/01 - Pfeiffer, Rn. 101 ff), obwohl die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (vgl. dazu Hoffmann im Asylmagazin 4/2005). Denn
„es steht dem Richter frei, im Hinblick auf Art. 10 EG schon ab Inkrafttreten einer Richtlinie insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe des nationalen Rechts bereits - wenn auch ohne Berufung auf den gemeinschaftsspezifischen Anwendungsvorrang und nicht im Gegensatz zu sonstigen nationalen Vorschriften - richtlinienkonform auszulegen (...)“
- so VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - , Asylmagazin 9/2005, S. 28 m.w.N.
Mit dem VG Braunschweig (Urt. v. 8.2.2005 - 6 A 541/04 -), dem VG Stuttgart (aaO.) sowie dem VG Karlsruhe (Urt. v. 14.3.2005 - A 2 K 10264/03 -) ist daher davon auszugehen, dass die gen. Richtlinie bereits heranziehbar ist.
Soweit diese Richtlinie in Art. 2 c) und Art. 4 Abs. 4 die subjektive „Furcht des Antragstellers vor Verfolgung“ zum Ausgangspunkt nimmt und so in § 60 Abs. 1 AufenthG ein - schon früher in § 51 Abs. 1 AuslG enthaltenes (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. § 51 AuslG Rdn. 4) - subjektives Element trägt, ist es so, dass auch diese Furcht sachlich „begründet“ sein muss (Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie). Auch der in der Richtlinie angesprochene subjektive Wille, nicht in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren (Art. 2 c), muss auf eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ zurückgehen.
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bedrohung ist somit aufgrund einer individuellen Prüfung (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie) sprechenden Umstände nach Lage der Dinge ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen unter Wertungsgesichtspunkten qualitativ überwiegen (vgl. dazu BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389 [BVerwG 03.11.1992 - BVerwG 9 C 21/92]; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 ).
Ein solches Überwiegen der für eine Verfolgungsfurcht sprechenden Umstände ist hier gegeben.
4.1 Ausgangspunkt dabei ist, dass es einen objektiven Nachfluchttatbestand darstellt, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Betätigungen verändert (so BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat veränderte Verhältnisse herrschen. Denn hierauf hat der Asylbewerber keinen Einfluss. Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen in besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen bis hin zu Repressionen im Heimatstaat stets im Rahmen des § 28 Abs. 2 AufenthG als objektiver Nachfluchttatbestand heranziehbar und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedrohungsrelevant sind.
Zudem ist es hier so, dass der Kläger als Sohn von Eltern, die keine Parteifunktionäre, sondern sehr strenggläubige Buddhisten (mit einem Hausaltar) sind, den Militärdienst verweigert hat, das Haus seiner Eltern daher in seiner Jugend „sehr oft“ durchsucht wurde, und er wegen dieser Erfahrungen schon frühzeitig der Ansicht war, dass die Menschen in Vietnam unter der kommunistischen Regierung „keine Freiheit“ haben (Anhörung v. 26.9.1991), vor allem keine Religionsfreiheit. Er wurde wegen seiner Proteste gegen ein polizeiliches Einschreiten (im Zusammenhang mit dem buddhistischen Hausaltar) von der Polizei sogar für einen Tag inhaftiert (Anhörung, aaO.). Somit ist der Kläger aus sehr nachvollziehbaren Gründen exilpolitisch aktiv geworden, u.zw. vor allem auch im Hinblick auf ein Fehlen von Religionsfreiheit in Vietnam (Bl. 46, 47 u. Bl. 64, 66 GA), an der dem Kläger offenbar sehr viel liegt. Vietnam brauche - so der Kläger in einem Internet-Artikel - „dringend pluralistische Demokratie“ (Bl. 66 GA). Deshalb ist es auch nachvollziehbar, dass er im Jahre 2002 Mitglied des „Vereins der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg e.V.“ geworden ist (Bl. 63 GA), nämlich aufgrund seiner Erfahrungen in Vietnam, die er während seines Aufenthaltes dort gemacht hat. Er hat mit Engagement begonnen, sich für Demokratie und vor allem Religionsfreiheit einzusetzen. Angesichts dessen, dass es ohnehin stets einer wertenden Einzelfallbetrachtung bedarf, ob bei synergistischer Zusammenschau von objektiven und subjektiven Nachfluchtgründen legitime Absichten - wie etwa eine religiöse oder politische Überzeugung, Eheschließung oder Kindererziehung - im Vordergrund stehen (vgl. dazu Marx, Kommentar zum AsylVfG, 3. Aufl., § 28 Rdn. 15), ist die in Vietnam ersichtlich drohende Verfolgung aus Gründen politischer, schon in der Jugend des Klägers wurzelnder Überzeugung vorliegend auch rechtlich als ein objektiver Nachfluchttatbestand zu bewerten.
Damit handelt es sich bei der exilpolitischen Betätigung des Klägers in Deutschland, die offenbar einer in Vietnam schon gewachsenen, tiefen Überzeugung entspricht, nicht um einen erst „nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Entschluss“ (neu) geschaffenen Nachfluchttatbestand iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG, sondern vielmehr um eine Betätigung, welche sich auf eine „Überzeugung“ (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) bzw. „Ausrichtung“ (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie) gründet, die bereits in Vietnam ihre Wurzeln hat („Ausdruck und Fortsetzung“ einer entsprd. „Ausrichtung“, Art. 5 Abs. 2). Somit kann hier keine Rede davon sein, dass der Kläger sein Folgevorbringen etwa auf „Umstände“ iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG stützt, die überhaupt erst nach Ablehnung seines früheren Antrages (neu) entstanden sind (§ 28 Abs. 2 AsylVfG) und die sich als solche darstellen, die er erst nach Verlassen des Herkunftslandes „aus eigenem Entschluss“ sich selbst geschaffen hat (§ 28 Abs. 1 AsylVfG).
Im Übrigen ist der neu eingefügte § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht nur im Hinblick auf die Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EU L 304/12) äußerst einschränkend auszulegen (vgl. dazu die Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urteile v. 29.6.2005 - 1 A 212/02 - , S. 5 d. Urt.-Abdr., und v. 6.7.2005 - 1 A 4/02 - sowie v. 17.8.2005 - 1 A 233/02 -), sondern auch deshalb, weil er andernfalls mit dem Refoulementverbot des Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) und mit dem - dieses Verbot ausdrücklich umsetzenden - Sinngehalt des § 60 Abs. 1 AufenthG erheblich kollidierte:
„In der Begründung zu § 28 II AsylVfG (BT-Drucksache 15/538 zu Art. 3 Nr. 18) ist zwar ausgeführt, dass durch die Versagung auch des „Kleinen Asyls“ nach § 60 I AufenthG keine Schutzlücke entstehe, weil es noch andere Rechtsgrundlagen für Schutz vor Abschiebungen bei konkreten Gefahren gebe und die Genfer Flüchtlingskonvention „lediglich - bei Vorliegen der Voraussetzungen des Artikels 33 I GFK - einen Abschiebungsschutz für die Dauer der Bedrohung garantiert“. Dabei wird aber übergangen, dass Art. 33 I GFK gerade durch § 60 I AufenthG umgesetzt werden soll, nicht etwa durch § 60 Abs. 7 AufenthG, der nicht einmal ein striktes Abschiebungsverbot enthält.
Sollte also § 28 II AsylVfG bewirken, dass § 60 I AufenthG einer Abschiebung nicht entgegensteht, obwohl Art. 33 I GFK entgegensteht, widerspräche sich das Zuwanderungsgesetz selbst, da es § 60 I AufenthG und § 28 II AsylVfG gleichzeitig in Kraft gesetzt hat. Dieser Widerspruch lässt sich dadurch ausräumen, dass bei einem Verstoß gegen Art. 33 I GFK eine Ausnahme von der Regel des § 28 II AsylVfG gemacht wird. Dadurch wird zwar die Ausnahme zur Regel, denn der Anwendungsbereich des § 28 II AsylVfG bleibt auf etwaige Fälle beschränkt, in denen der Abschiebungsschutz des § 60 I AufenthG über Art. 33 I GFK hinausgeht. Das dürfte aber nicht schwer wiegen, denn § 28 II AsylVfG könnte ohnehin kaum die Erwartung des Gesetzgebers erfüllen, dass der „bislang bestehende Anreiz“ entfällt, durch Folgeverfahren mit neu geschaffenen Nachfluchtgründen zu einem dauerhaften Aufenthalt zu gelangen (BTDrucks.15/538 a.a.O.). Auch bei Gefahren i.S. des § 60 II, 3, 5 oder 7 AufenthG, die nicht unter Art. 33 I GFK fallen, soll nämlich eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, die schließlich zur Niederlassungserlaubnis führen kann (§§ 25 III S. 1, 26 IV AufenthG).“
- so VG Stuttgart, Urt. v. 18.4.2005 - A 11 K 12040/03 - , InfAuslR 2005, S. 345 -
Somit ist § 28 Abs. 2 AsylVfG im Gesamtzusammenhang des geltenden Normengefüges (Art. 16 a Abs. 1 GG, Art. 33 GFK, Richtlinie 2004/83/EG, Sinn und Zweck des § 60 AufenthG) rechtsmethodisch nur - wenn überhaupt (vgl. VG Stuttgart, aaO.) - sehr zurückhaltend und als äußerst eng zu interpretierende Ausnahme anwendbar. Anderenfalls gingen auf dem Hintergrund der Richtlinie 2004/83/EG die Gesetzesziele und -zwecke des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der GFK (hier Art. 33) verloren.
4.2 Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung stellt sich hier die Sach- und Rechtslage gegenüber dem Zeitpunkt der bundesamtlichen Verwaltungsentscheidung so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam sehr deutlich verschärft haben. Weiterhin ist inzwischen die Richtlinie 2004/83/EG und daneben das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. Teil I 2004, S. 1950) am 1. Januar 2005 in Kraft getreten.
Bei der individuellen Prüfung aller Angaben des Klägers sowie seiner allgemeinen und persönlichen Umstände ergibt sich somit, dass der Kläger sich um einen kohärenten und im Kern plausiblen Vortrag hinsichtlich seiner Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime schon in den 80er-Jahren, aber auch in der Zeit von 1998-2001 sowie schließlich hinsichtlich seines Einsatzes für Demokratie und Religionsfreiheit in Vietnam bemüht hat, so dass insgesamt die Glaubwürdigkeit des Klägers festgestellt werden kann (Art. 4 Abs. 5 Richtlinie). Damit bedürfen die Angaben und Aussagen des Klägers, der in der mündlichen Verhandlungen einen überzeugenden Eindruck hinterließ, keines weiteren, über die Aussagen und die vorgelegten, vom Auswärtigen Amt einer Prüfung zugeführten Dokumente etwa noch hinausgehenden Nachweises (Art. 4 Abs. 5 der gen. Richtlinie; vgl. BVerwGE 55, 82).
4.2.1 Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die „politische Einstellung des Betroffenen“ abzielen und sich als Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen, kommt es stets auf die „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“ an sowie auf dortige (objektive) Veränderungen. Diese können die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage - unter Berücksichtigung der EMRK (§ 60 Abs. 5 AufenthG) und der Richtlinie 2004/83/EG - im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“, aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]).
4.2.1.1 Für eine solche Gesamtschau reicht es methodisch nicht aus, lediglich die Lageberichte des AA in den Blick zu nehmen. Denn „Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ)“, „Deutschland ist einer der größten bilateralen Geber Vietnams“ (so die ständig aktualisierte Darstellung des Auswärt. Amtes zu den deutsch-vietnamesischen Beziehungen / Stand: Juli 2005). Hiervon abgesehen berücksichtigt z.B. der jüngste Lagebericht des AA vom 28.8.2005 nach eigener Darstellung weder den ai-Jahresbericht 2005 (Vietnam, S. 356) noch denjenigen des US-Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2004 - Vietnam - v. 28. Febr. 2005. Vielmehr werden vom Auswärtigen Amt anstelle der aktuellen Berichte nur die jeweils älteren Berichte des Vorjahres einbezogen. Der Menschenrechtsreport 38 der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ - GfbV - v. 28. April 2005 und der IGFM-Jahres-bericht 2004 werden weder erwähnt noch verwertet. Es ist fraglich, ob sonstige Pressemitteilungen berücksichtigt sind. Damit ist die Aussagekraft der Lageberichte stark eingeschränkt, da die neuere Entwicklung in Vietnam, wie sie von anderen Seiten berichtet wird, nur - wenn überhaupt - sehr unzureichend wahrgenommen und dargestellt ist.
Somit müssen gerade mit Blick auf die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam und die unzureichende Aussagekraft der Lageberichte des AA auch andere Erkenntnisse - nach Möglichkeit solche aus einer breit gestreuten Vielfalt von Quellen - in eine richterlich ausgewogene Bewertung einbezogen und ausgewertet werden.
4.2.1.2 Aber auch nach den letzten Lageberichten des AA (v. 28.8.2005 und v. 12.2.2005) ist es so, dass regierungskritische Aktivitäten in Vietnam mit „größter Aufmerksamkeit“ und ggf. sogar eben auch mit „polizeilich-justiziellen Maßnahmen verfolgt“, öffentliche Kritik an Partei und Regierung und die Wahrnehmung von Grundrechten nicht toleriert werden und Dissidenten selbstverständlich Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt sind. Aktive Gegner des Sozialismus können nach den weit gefassten und weit verstandenen Vorschriften jederzeit inhaftiert und bestraft werden. Auch einige Amnestien des Jahres 2005 (vgl. dazu die Pressemitteilung des AA v. 8.9.2005) verweisen insoweit „nicht auf einen grundsätzlichen Wandel“ der Lage in Vietnam (Lagebericht AA v. 28.8. 2005).
4.2.1.3 Für die erforderliche Gesamtschau und -bewertung ist daneben die folgende Einschätzung von Sachkennern der vietnamesischen Verhältnisse zu berücksichtigen:
„Aufsehenerregende Maßnahmen wie willkürliche Verhaftungen, Haft ohne Folter, Folter in der Haft usw. werden so weit wie möglich vermieden. Dafür gab es jede Menge Terror- und Einschüchterungsmaßnahmen sowie Einschränkungen der persönlichen Freiheit in kleineren Portionen und über die Jahre verteilt, die die Betroffenen zum Aufgeben zwingen sollen...
In einer Welt, die nach Sensationen jagt, werden diese heimtückischen Einzelmaßnahmen nicht als `Verfolgung` wahrgenommen und erregen deshalb auch nicht die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Der Schutz der Opfer wird vernachlässigt - und genau das ist das Ziel der gegenwärtigen Menschenrechtspolitik Vietnams. “ - Vu Quoc Dung, „Terror subtiler Art“, in Zeitschrift „Menschenrechte“ v. Mz-Juni 1998.
Weiterhin heißt es im Sinne einer aktuelleren Lagebeschreibung im Report der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ - GfbV - v. 28.4.2005:
„Die vietnamesische Staatsführung reagiert nicht nur gereizt auf jede internationale Kritik an der katastrophalen Menschenrechtslage und weist schroff Berichte des US-Außenministeriums über die fortgesetzte Verletzung der Religions-. Meinungs- und Versammlungsfreiheit als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Vietnams zurück. Auch in den Vereinten Nationen zeigt Hanoi keine Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog über die Defizite bei der Durchsetzung der Menschenrechte im eigenen Land. Ganz im Gegenteil, kaum ein Staat reagiert in der UN-Menschenrechtskommission so entrüstet auf Kritik an der Menschenrechtslage.“
Übereinstimmend hiermit berichtet die FR in der Ausgabe v. 29.4.2005, S. 1:
„Die Kommunisten lassen keine Meinungs-, Versammlungs- oder Gewerkschaftsfreiheit zu, unterdrücken jede Opposition, kontrollieren Medien und Internet. ´Vietnams elende Menschenrechtslage ist in neue Tiefen gesunken´, schrieb 2003 die Organisation Human Rights Watch. 2004 berichtete HRW, die Lage habe sich noch verschlimmert. Dissidenten würden verhaftet, manche gefoltert. Besonders gefährlich lebten Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten, vor allem Buddhisten und Christen im Hochland“.
Das politische Engagement eines Einzelnen ist somit offenkundig nur ein Anknüpfungspunkt für staatliche Registrierungen, (Gegen-) Aktionen, Reaktionen und Repressionen. Politische Opposition wird nämlich in Vietnam nicht toleriert: „Dissidenten sind Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt“ (so Lagebericht AA v. 28.8.05 und v. 12.2.05, S. 5). Insoweit ist heute - 2005 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam inzwischen „als eines der repressivsten Regime in Asien“ erwiesen hat (so D. Klein in „Aus Politik und Zeitgeschehen“, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5):
„Vietnam erwies sich auch 2003 als eines der repressivsten Regime in Asien...; offene Gewalt auf der Straße, Telefonterror und willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien“ (Klein, aaO., S. 5)
Weiterhin ist insoweit zu berücksichtigen, dass nach den derzeitigen Erkenntnissen aktive Gegner des Sozialismus und des „Alleinherrschaftsanspruchs der KPV“ bzw. solche, die nur dafür gehalten werden, inhaftiert oder bestraft werden - und hieran „auch das neue StGB nichts ändert“ (Lageberichte v. 12.2.05 und v. 28.8.05). In Vietnam werden demgemäß „alle elektronischen und Printmedien des Landes durch die Regierung überwacht, das Internet eingeschlossen“ (Lagebericht v. 12.2.05):
„Dessen Kontrolle wurde durch einen neuen Erlass - gemeinsam unterzeichnet von den Ministerien für Öffentliche Sicherheit, Kultur, Planung und Telekommunikation! - am 14.07.2005 weiter verschärft. Danach müssen die Betreiber von Internet-Cafés (wo die überwältigende Mehrheit der Vietnamesen Zugang zum Internet hat) die Personalien der Nutzer und die von ihnen aufgesuchten Webpages registrieren.“ (so Lagebericht des AA v. 28.8.05).
Seit Juli 2005 gilt somit in Vietnam eine Ausweispflicht in Internet-Cafes, wobei die Betreiber verpflichtet sind, die Ausweisdaten der Besucher zu notieren und „deren Verhalten im Internet zu kontrollieren“ (netzeitung v. 26.7.2005). Viele Journalisten üben schon „Selbstzensur“, so dass sachkundige Berichte über die Verhältnisse in Vietnam nicht mehr in den Medien auftauchen. Versuche, mit politischen Flugblättern oder Zeitungen Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, „werden strikt unterbunden“ (Lagebericht v. 12.2.05,. S. 6).
Nach einer Meldung der Evang. Allianz (Stuttgart) v. 11.8.2004 ist es in Vietnam wie folgt:
„Wer sich nicht beugt, wird verfolgt“.
In Übereinstimmung hiermit heißt es im IGFM-Jahresbericht 2004 (v. Febr. 2004) u.a.:
„Unter Berufung auf den Schutz der nationalen Sicherheit hat die vietnamesische Regierung seit Anfang 2002 das Recht auf Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit erheblich eingeschränkt. Die Veröffentlichung und Verbreitung von Kritik an der politischen Führung oder an der Politik der herrschenden Kommunistischen Partei Vietnams, der Versand von Menschenrechtsberichten in das Ausland sowie Kontakte mit Auslandsvietnamesen werden den Betroffenen zur Last gelegt. Es wurde massiv gegen sie vorgegangen...
Spionagetätigkeiten werden in Vietnam mit hohen Strafen - auch mit der Todesstrafe geahndet. Die IGFM zweifelt an dem Rechtfertigungscharakter dieses Vorwurfs, weil er sehr weit ausgelegt und in den letzten Monaten exzessiv gegen Dissidenten angewandt wurde, die Informationen über das Internet verbreitet hatten. Für die vietnamesische Strafverfolgung ist nicht die Art, sondern allein der Nutzungszweck der übermittelnden Informationen relevant. Allein das Ansammeln und Weiterleiten von Informationen aus öffentlichen bzw. offiziellen Quellen, die der Empfänger für seine Kritik an der Politik des vietnamesischen Staates nutzen könnte, erfüllen den Tatbestand "Spionage". Nguyen Khac Toan, Pham Hong Son und Nguyen Vu Binh wurden sogar für Kontakte mit vietnamesischen Oppositionellen im Exil bestraft. Der Fall von den drei Verwandten des katholischen Pfarrers Nguyen Van Ly, die kurz nach seiner Verhaftung im Juni 2001 ebenfalls festgenommen wurden, verdeutlicht die Willkür und den politischen Charakter dieser Verfolgung. Ihnen wurde anfangs Spionage vorgeworfen, weil sie Berichte über die Verfolgung der Religionsgemeinschaften in Vietnam an einen Radiosender und eine Menschenrechtsorganisation in den USA weitergegeben hatten. Infolge weltweiter Proteste wurde der Prozess zweimal verschoben, die Anklage wegen Spionage später fallen gelassen und auf "Missbrauch der freiheitlich demokratischen Rechte" (mit Strafmaß zwischen sechs Monaten und sieben Jahren) umgeändert. Im Revisionsverfahren im November 2003 wurden die im September 2003 verhängten Haftstrafen von drei, vier und fünf Jahren auf entsprechend vier Monate, und zwei mal 32 Monate reduziert. In einem weiteren Revisionsverfahren im August 2003 wurde die Strafe von Dr. Pham Hong Son nach weltweiten Protesten auf fünf Jahre Haft und drei Jahre Hausarrest reduziert.“
Dabei schreckt die vietnamesische Polizei und Justiz auch vor Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK / Verbot der Folter) keineswegs zurück, wie die Meldung der IGFM (kath.net) v. 17.12. 2004 zeigt:
„Mindestens fünf der sechs inhaftierten mennonitischen Christen in Vietnam sind im Gefängnis fortgesetzt misshandelt worden. Zwei vor kurzem freigelassene Mennoniten berichteten der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), dass auch die infolge von Misshandlung psychisch krank gewordene Le Thi Hong Lien vor Schlägen nicht verschont blieb. Die IGFM wirft der vietnamesische Polizei vor, dass sie in allen ihren Gefängnissen die Gewalt bewusst eingesetzt hat, um falsche Geständnisse zu erzwingen. Die sechs Mennoniten um Pastor Nguyen Hong Quang waren Mitte November wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" zu Haftstrafen zwischen neun Monaten und drei Jahren verurteilt worden. Die Brüder Nguyen Huu Nghia und Nguyen Thanh Nhan kamen am 2. bzw. 3. Dezember frei, nachdem sie am 2. März dieses Jahres verhaftet worden waren. Ihre Zeugenaussagen, die der in Frankfurt ansässigen IGFM vorliegen, belegen die Gewaltanwendungspraxis der vietnamesischen Polizei und der Justizbehörden.
Polizei und Staatsanwalt hatten versucht, die Gefangenen zu zwingen, Pastor Quang als Anstifter und Rädelsführer der März-Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Mennoniten zu denunzieren. Sie wurden zum Verhör bestellt, meist nachdem kriminelle Häftlinge sie schwer geschlagen hatten. Den Brüdern wurden vorgefertigte Verhörprotokolle zur Unterschrift vorgelegt, in dem sie ihre angeblichen Straftaten zugeben und Reue zeigen. Weil die Gefangenen dies nicht taten, wurden sie misshandelt. Heute können die beiden Brüder infolge der Misshandlungen nicht mehr arbeiten. Im Gefängnis wurden sie mehrmals ins Gesicht bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Ihre Nasenbeine wurden gebrochen. Nhan wurde gezwungen, vier Monate lang auf Zehenspitzen zu hocken. Das lange Sitzen und die Schläge auf die Wirbelsäule im Lendenbereich haben zur Nervenschädigung geführt. Das linke Bein von Nhan ist heute gelähmt und er kann nicht mehr schmerzfrei sitzen. Zwei Monate verbrachte er in Isolationshaft, in einer kleinen Zelle ohne Fenster und Belüftung. Zweimal wurde er bewusstlos aus der Zelle getragen. Sein Bruder Nghia leidet infolge von Schlägen und Tritten auf Brust und Kopf an schweren Atembeschwerden, chronischen Schwindelgefühlen und Kopfschmerzen. Die Gefängniswärter sollen kriminelle Mitgefangene angestiftet haben, ihn zu misshandeln. Bis zu seiner Freilassung wurde er fast zwei Monate lang in der Krankenstation des Gefängnis Chi Hoa behandelt. Übereinstimmend berichteten Nhan und Nghia von weiteren Misshandlungen an zwei anderen inhaftierten Mennoniten, Pham Ngoc Thach und Nguyen Van Phuong, ihre Schmerzschreie und Hilferufe seien in allen Gefängniszellen zu hören gewesen. Nhan und Nghia trafen die Mennonitin Le Thi Hong Lien zum ersten Mal wieder am Prozesstag 12.11.2004. Frau Lien war in einer sehr schlechten körperlichen und seelischen Verfassung. Sie redete nicht und weinte andauernd.“
Pastor Quang befindet sich inzwischen im 5. Gefängnis seit seiner Festnahme am 8. Juni 2004 und ist jetzt aufgefordert worden, ein Dokument zu unterschreiben, in dem er sich in allen Anklagepunkten für schuldig erklärt (so Jesus.ch vom 25.8.2005). Er hat das abgelehnt und erklärt sich weiterhin für unschuldig.
Dass in Vietnam nach wie vor kritische bzw. abweichende Meinungen mit Härte unterdrückt und ggf. verfolgt werden, ergibt sich auch aus dem Jahresbericht 2005 von amn. Intern. - ai - (Vietnam, S. 356 ff.), wo dargestellt ist, dass unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern sogar der Zugang zum Land verweigert wird (S. 357 r. Spalte). Die am 1. Juli in Kraft getretene neue Strafprozessordnung Vietnams richtet sich mit einem „ganzen Bündel neuer Bestimmungen“ gegen die Nutzung des Internets und vor allem gegen den Zugang zu Websites vietnamesischer Oppositionsgruppen. Sämtliche Dokumente, die im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren gegen Personen stehen, denen Verstöße gegen die sog. „nationale Sicherheit Vietnams“ zur Last gelegt werden, sind seit kurzem sogar per Erlass als „Staatsgeheimnisse“ eingestuft - was für sich spricht. Im letzten Jahr wurden offiziell über 80 Todesurteile verhängt, davon 64 vollstreckt. Informationen hierüber sind inzwischen ebenfalls zum „Staatsgeheimnis“ erklärt worden (ai-Jahresbericht 2005, S. 359), so dass auch darüber nicht mehr in Medien berichtet werden darf.
Die von einem Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2005 (in der Sache 1 A 70/02) vorgelegte Polizeizeitung vom 23. März 2005, in der eine Kooperation zwischen China und Vietnam hinsichtlich der „Sabotage der feindlichen Gruppierungen im In- und Ausland“ gefordert wird, ist deutlicher Beleg dafür, dass von der vietnamesischen Parteilinie abweichende Gesinnungen und Meinungen mit Härte verfolgt werden sollen.
Denn Meinungs- und Gesinnungsfreiheit wird in Vietnam als Gefährdung des Staates verstanden. Schon öffentliche Stellungnahmen für „Demokratie“ werden mit unverhältnismäßig hohen (Verfolgungs-)Strafen belegt (vgl. dazu den Country Report des Englischen „Home Office“ v. April 2004), etwa mit 13-jähriger Gefängnisstrafe, die vom vietnam. Supreme court auf dann immer noch 5 Jahre herabgesetzt wurde. Vgl. hierzu die IGFM-Pressemitteilung v. 6.10.2004:
„Unmittelbar nach dem Vietnambesuch von Bundeskanzler Schröder im Mai 2003 wurde Dr. med. Pham Hong Son wegen des Vorwurfs der Spionage zu insgesamt 16 Jahren Haft und Hausarrest verurteilt. Er war Ende März 2002 verhaftet worden, weil er die Broschüre "What is Democracy?" übersetzt hatte. Die IGFM hatte Bundeskanzler Schröder bei seinem Vietnam-Besuch in Mai 2003 gebeten, sich für Dr. Son einzusetzen. Nach internationalen Protesten wurde die Strafe in der Berufungsinstanz auf insgesamt 8 Jahre Haft und Hausarrest reduziert.“
Vgl. hierzu auch die Meldung von news (heise-online v. 26.8. 2003):
„Ein vietnamesisches Berufungsgericht hat die Haft für einen Dissidenten, der einen Artikel über Demokratie im Internet veröffentlicht hatte, von 13 auf 5 Jahre verringert. Das teilte ein Justiz-Sprecher am Dienstag in der Hauptstadt Hanoi mit. Phan Hong Son war im Juni nach den Gesetzen des kommunistischen Landes der Spionage für schuldig befunden worden, weil er einen Aufsatz des US- Außenministeriums mit dem Titel "Was ist Demokratie?" übersetzt und ins Netz gestellt hatte. Der Haftstrafe soll sich allerdings ein dreijähriger Hausarrest anschließen, sagte der Sprecher.
Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch rief die vietnamesische Führung auf, Son umgehend freizulassen. Das Verfahren sei nicht fair und widerspreche internationalen Vereinbarungen über die Menschenrechte. "Verteidiger können nichts ausrichten, weil es ein politischer Prozess ist", sagte Regionaldirektor Brad Adams.“
Die Stellungnahme des „Arbeitskreises für Gerechtigkeit und Frieden an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt“ v. Juni 2004 bestätigt das, der zufolge nämlich
„Menschenrechtsverletzungen an Andersdenkenden und Intellektuellen sowie die Unterdrückung von ethnischen und religiösen Minderheiten ... an der Tagesordnung sind“.
Nach einer Meldung von amnesty international v. 2.1.2004 wurde beispielsweise Dr. Nguyen Dan Que lediglich aufgrund einer Stellungnahme zum Fehlen von Informationsfreiheit festgenommen, nachdem er 1998 aufgrund einer Amnestie frei gekommen war und sich zuvor für die Wahrung der Menschenrechte eingesetzt und deshalb in der Vergangenheit ca. 18 Jahre in vietnamesischen Gefängnissen zugebracht hatte (vgl. dazu auch ai-Jahresbericht 2004, S. 416).
4.2.1.4 Gegen diese äußerst negative Gesamteinschätzung spricht nicht, dass der vietnamesische Pater Nguyen Van Ly - Shalom-Preisträger des Jahres 2004 -, der sich beharrlich für Religions- und Meinungsfreiheit in Vietnam eingesetzt hat und seit 1983 wiederholt willkürlich angeklagt und verurteilt wurde, jetzt (2005) offenbar vorzeitig aus der Haft entlassen wurde - einer Haft, die er zeitweise unter menschenunwürdigen Bedingungen in Isolationshaft verbringen musste (so die Eichstätter Ortsgruppe von ai v. Febr. 2005). Denn die allgemeine Menschenrechtslage, wie sie von sachkundigen Beobachtern der Lage in Vietnam beurteilt wird, hat sich dadurch nicht grundlegend verändert. Diese Einschätzung wird sogar im jüngsten Lagebericht des AA v. 28.8.05 geteilt.
Gleiches gilt für die Freilassung der 21-jährigen Christin Le Thi Hong Lien in Ho Chi Minh Stadt zum 30. April 2005 (vgl. die Pressemitteilung der IGFM v. 27.4.2005 ; siehe dazu auch obige Meldung der IGFM v. 17.12.2004):
„Die durch Folter psychisch schwer erkrankte Christin Le Thi Hong Lien soll nach Informationen der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) am 30. April aus vietnamesischer Haft freikommen. Die mennonitische Lehrerin war im November zusammen mit anderen Christen zu zwölf Monaten Haft verurteilt worden. Der IGFM liegen Augenzeugenberichte vor, daß die Verurteilten wiederholt gefoltert wurden, oft bis zur Bewußtlosigkeit. Die IGFM führt die Freilassung auf internationale Proteste zurück. idea und die IGFM hatten die 21jährige im Dezember als „Gefangene des Monats“ benannt“ (Evangeliums-Rundfunk Österreich - ERF/ Evangelische Nachrichtenagentur, idea v. 3.5.2005).
Das Schicksal der Freigelassenen belegt vielmehr die vietnamesische Verfolgungspraxis gegen Oppositionelle bzw. gegen solche Menschen, die dafür vom Staat gehalten werden - einschließlich menschenrechtswidriger Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK).
4.2.2 Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer erhöhten Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, entspricht das zum einen nicht mehr den neueren Tatsachen, wie sie aus Vietnam von Sachverständigen berichtet werden (s.o.) und steht das zum andern im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/EG, derzufolge es „unerheblich“ sein soll,
„ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.“
Gegenüber den Verhältnissen der 90-er Jahre haben sich somit die maßgeblichen Entscheidungskomponenten gerade in den letzten Jahren gravierend verändert - was bei Betrachtung der Nachrichtenlage und der geltenden Vorschriften offenkundig ist.
Unmaßgeblich für die vorliegende Entscheidung ist in diesem Zusammenhang einer verschiedentlich geforderten Tätigkeitsschwelle, ob die exilpolitischen Betätigungen von Auslandsvietnamesen und deren Kritik am vietnamesischen Regime in Vietnam selbst wahrgenommen werden und dort ggf. eine mehr oder weniger „breite Öffentlichkeitswirkung“ entfalten bzw. einen „nennenswerten Einfluss auf die Öffentlichkeit“ haben: Entscheidend sind allein die Ängste und Befürchtungen des vietnamesischen Regimes im Falle der Rückkehr von Exilvietnamesen nach Vietnam. Das Regime bekämpft in Vietnam selbst ganz offenkundig schon die abweichende Gesinnung Einzelner mit Härte, ohne hierbei darauf abzustellen, in welchem Maße deren Engagement oder abweichende Gedanken bereits von Deutschland aus vorab eine Breitenwirkung erzielt haben. Das Regime befürchtet, Exilvietnamesen könnten in Vietnam - sind sie erst einmal in ihr Heimatland zurückgekehrt - Gedanken über Demokratie, Freiheit und Pluralismus verbreiten. Deshalb kommt es auf eine Öffentlichkeits- und Breitenwirkung von Deutschland aus gar nicht an. Nicht diese wird vom vietnamesischen Regime gefürchtet, sondern die authentische Vermittlung von Gedanken über Demokratie und Freiheit in Vietnam selbst.
4.2.3 Die dem Kläger als einem „Andersdenkenden“ bzw. Dissidenten bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte dürften seine leibliche Unversehrtheit, seine physische Freiheit sowie seine Versammlungs- und Meinungsfreiheit und vor allem seine „politische Überzeugung“ zum Gegenstand haben (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie). Er ist in Deutschland in vielfacher und mehrfacher Hinsicht exilpolitisch aktiv gewesen und noch aktiv (vgl. die im Verfahren vorgelegten Unterlagen und Fotos), was den vietnamesischen Sicherheitskräften nicht verborgen geblieben sein dürfte. Er ist seit vielen Jahren Mitglied des „Vereins der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg“ und hat sich vor allem für eine Religionsfreiheit engagiert. Er hat an vielen exilpolitischen Tätigkeiten teilgenommen und war bei zahlreichen Demonstrationen dabei. Auf diese Weise ist er den vietnamesischen Sicherheitskräften bekannt, ist er als „Abweichler“ und Dissident bereits datentechnisch erfasst und registriert.
Hierbei ist es unter Berücksichtigung der gen. Richtlinie an sich „unerheblich“, ob der Kläger aufgrund seiner „Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung“ in irgendeiner Weise „tätig geworden ist“ (2.4.2). Auch die politische Überzeugung Andersdenkender ist gem. Art. 10 der Richtlinie 2004/ 83/EG schon als solche geschützt. Dabei ist davon auszugehen, dass der gesamte Vortrag des Kläger eine politische Überzeugung widerspiegelt, die auf die Wahrnehmung von Menschen- und Freiheitsgrundrechten zurückgeht:
„Politische Überzeugung“ sollte im weitesten Sinn verstanden werden und jede Meinung zu jeder Angelegenheit einschließen, auf die der Staatsapparat, die Regierung, die Gesellschaft oder die Politik Einfluss nehmen. Dazu kann auch eine Meinung zu den Rollenbildern der Geschlechter gehören. Auch unangepasstes Verhalten, das den Verfolger veranlasst, der Person eine politische Überzeugung zuzuschreiben, fällt in diese Kategorie. An sich gibt es in diesem Sinn keine immanent politische oder immanent unpolitische Tätigkeit, doch kann ihr Wesen anhand des Gesamtbildes des Falles bestimmt werden. Ein mit politischer Überzeugung begründeter Antrag setzt hingegen voraus, dass der Antragsteller oder die Antragstellerin Auffassungen vertritt oder vermeintlich vertritt, die von den Behörden oder der Gesellschaft nicht toleriert werden, da sie Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber ihrer Politik, Tradition oder Methodik sind. Voraussetzung ist ferner, dass diese Ansichten den Behörden oder den betreffenden Teilen der Gesellschaft zur Kenntnis gelangt sind oder gelangen könnten oder von diesen den Antragstellenden unterstellt werden. Eine solche Meinung muss nicht unbedingt zum Ausdruck gebracht worden sein, und es ist auch nicht erforderlich, dass bereits irgendeine Form von Diskriminierung oder Verfolgung stattgefunden hat. Unter diesen Umständen müssten bei der Entscheidung, ob begründete Furcht vorliegt oder nicht, die Folgen berücksichtigt werden, die Antragstellende mit einer bestimmten politischen Einstellung zu tragen hätten, wenn sie in dieses Land zurückkehren würden.“
(UNHCR Richtlinie zum internationalen Schutz v. 7.5.2002 / HCR/GIP/ 02/01 Rdn. 32):
Bei einer derartigen Folgenbetrachtung ist hier für den Kläger einzubeziehen, dass in Vietnam gerade die (politische) Gesinnung, das Denken, die Einstellung äußerst genau kontrolliert und akribisch überwacht wird (vgl. Lagebericht v. 28.8.05, ebs. schon Lagebericht v. 12.2.05). Die Aktivitäten haben - entgegen der Auffassung der Beklagten - weniger Gewicht und können nicht an einer „Schwelle“ gemessen werden. Ein Staatsbürger, der bereits durch abweichendes Verhalten, durch Verfassen von kritischen Zeitungsartikeln und durch sonstige exilpolitische Aktivitäten aufgefallen ist und der sich engagiert betätigt hat, dürfte mit sehr großer Wahrscheinlichkeit aus Gründen seiner abweichenden politischen Gesinnung und Einstellung erheblich diskriminiert, verfolgt und ggf. auch gefoltert, zumindest mit Härte „umerzogen“ werden. Entsprechende Lager und die dort praktizierten Methoden sind gerichtsbekannt.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig dargestellt, dass sein Engagement und seine Teilnahme an Demonstrationen (vgl. die diversen Bescheinigungen in den Akten und Beiakten) letztlich darauf abzielen, eine pluralistische Demokratie mit mehr Menschenrechte und mehr Freiheit in Vietnam zu erreichen. Sein Engagement wurzelt in Erfahrungen und Ausgrenzungen, die der Kläger früher schon und danach nochmals in der Zeit von 1998-2001 in Vietnam erlebt hat (Zwangsarbeit, Hausarrest, Betätigungsverbot, Polizeivernehmungen usw.). Seine Aktivitäten zielen auf eine Änderung der Verhältnisse in Vietnam. Deshalb hat er in den letzten Jahren an Mahnwachen und an Kundgebungen in Berlin teilgenommen. Deshalb hat er Artikel verfasst, die in das Internet gestellt worden sind. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass all diese Tätigkeiten des Klägers in Vietnam als eine „zersetzende Propaganda“ eingeschätzt werden dürfte, er als „Landesverräter“ angesehen werden wird, seine Tätigkeiten zum einen den Sicherheitsorganen bekannt geworden sind und diese zum anderen harte Strafen in Vietnam nach sich ziehen werden. Zu Recht ist der Kläger daher der Meinung, dass man ihm diese Aktivitäten bei einer Rückführung nach Vietnam vorhalten, er zumindest im Gefängnis landen werde. Möglicherweise würde er auch keine Arbeit bekommen, was im zentral gelenkten Vietnam seine Existenzgrundlage menschenrechtswidrig in Frage stellte (BVerwG, NVwZ 1986, 572 [BVerwG 18.02.1986 - BVerwG 9 C 104/85]; NVwZ 1987, 701). Dabei kann davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei Demonstrationen gefilmt worden ist, die Botschaft also weiß, wer er ist und was er denkt. Zudem dürfte bekannt sein, dass er langjähriges Mitglied des gen. Vereins in Hamburg ist. Als überzeugter Anhänger einer demokratisch-freiheitlichen Gesellschaftsform ist er daher in einem sehr hohen Maße gefährdet. Seine Meinung angepasst zurückzuhalten, kann ihm nicht angesonnen werden. Der Kläger wird im Hinblick auf sein Demonstrationsverhalten in Vergangenheit und Gegenwart wie im Übrigen auch durch seine Asylantragstellung somit als aktiver Regimegegner, als Andersdenkender, als Abweichler und Dissident angesehen werden.
Solche politische Betätigung - ob nun im In- oder Ausland - wird in Vietnam nach wie vor regelmäßig verfolgt und hart bestraft. Vgl. dazu das Gutachten von G. Will v. 2. Mai 2003:
„Bis zu dem oben unter 1) geforderten Beweis des Gegenteils muss davon ausgegangen werden, dass Verfasser regimekritischer Internetbeiträge wie Verfasser regimekritischer Zeitschriftenbeiträge im Falle einer Rückkehr nach Vietnam mit einer Bestrafung rechnen müssen. Die entsprechenden Artikel des vietnamesischen StGB lassen hier keine Zweifel zu. Für die Erhebung einer Anklage spielt das Ausmaß der regimekritischen Aktivitäten keine entscheidende Rolle. Wichtiger ist vielmehr, ob der oder die Beschuldigte gute Beziehungen zu hohen Führungspersönlichkeiten hat, die bereit sind, ihn zu schützen oder ob der oder die Beschuldigte selbst zur Nomenklatura gehört bzw. gehört hatte, sodass eine Anklageerhebung und Verurteilung zu unerwünschten politischen Folgen führen könnten. Das Ausmaß der regimekritischen Aktivitäten wird allenfalls bei der Zumessung des Strafmaßes Berücksichtigung finden.“
Für Verfolgungsmaßnahmen in Vietnam ist die abweichende, nicht mehr „linientreue“ Gesinnung entscheidend, die hinter den entsprechenden Aktivitäten mehr oder minder großen Umfangs steht. Hierbei sind unbekannte und weniger prominente Bürger - wie der Kläger - sehr viel eher gefährdet als Personen, die im Licht und unter Beobachtung der Öffentlichkeit stehen (so zutreffend VG München, Asylmagazin 2003, S. 30; Dr. Weggel, Stellungn. v. 10.8.2003 an VG Darmstadt).
4.2.4 Verfolgungsmaßnahmen könnten dem Kläger aber auch deshalb drohen, weil er buddhistischen Glaubens ist: Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden die Tendenzen religiöser Orientierung in Nord-, Nordwest- und Mittelvietnam „als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen“ (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6). Mehr als 150.000 Angehörige des Hmong-Volkes z.B. sind zum christlichen Glauben übergetreten. „Die Unruhen im zentralen Hochland Vietnams im Februar 2001 müssen im Kontext dieses religiösen Konflikts gesehen werden...“ (AA v. 12.2.05). Die Bedrohungslage ergibt sich dabei auch aus Strafvorschriften, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften stark beschränken (Art. 81 c vietn StGB - Verbreitung von Zwietracht - und Art. 199 vietn-StGB - Betreiben abergläubischer Praktiken -). Sämtliche kirchlichen Aktivitäten, vor allem soziale, unterliegen einer Registrierungspflicht und bedürfen einer gesonderten Genehmigung (AA an VG Darmstadt v. 18.2.2002). Inzwischen ist zudem ein neuer „Religionserlass“ in Kraft getreten, der als „Festschreibung der staatlichen Kontrolle über alle Aspekte des religiösen Lebens“ verstanden und kritisiert wird (ai-Jahresbericht 2005, S. 358). Denn die sozialen Probleme haben zugenommen, so dass sich die Menschen den Religionsgemeinschaften zuwenden (vgl. schon Lagebericht AA v. 9.7.2001, S. 6).
Nach einer Pressemitteilung der IGFM v. 13.12.2001 sind im Laufe des Jahres 2001 alle bedeutenden Persönlichkeiten der buddhistischen, evangelischen und der katholischen Religionsgemeinschaften sowie der Hoa-Hao-Religion in Vietnam - ohne jedes Gerichtsverfahren - inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt worden. Versammlungen von Religionsgemeinschaften seien von der Volkspolizei und der Armee „brutal aufgelöst“ worden. Aus Protest gegen die religiöse Unterdrückung haben sich im Jahre 2001 zwei Buddhisten selbst verbrannt, weitere Selbstverbrennungen sind angekündigt worden.
„Besonders rigide war das Vorgehen der Behörden gegen Gläubige der verbotenen Vereinigten Buddhistischen Kirche Vietnams (VBKV), deren führende Vertreter nach wie vor unter Hausarrest standen“ - so ai-Jahresbericht 2005, S. 358.
Der Kläger dürfte deshalb im Falle seiner Rückkehr aller Wahrscheinlichkeit nach schon wegen seines buddhistischen Glaubens, der in seiner Familie, die einen Hausaltar hatte bzw. hat, stark verwurzelt ist, einer sehr deutlichen Gefährdung ausgesetzt sein. Nach einer IGFM-Pressemitteilung vom 18.7.2001 häufen sich die Berichte aus Vietnam über Misshandlungen, Schikanen und Folter der Behörden gegenüber Gläubigen. Schüler eines Pfarrers seien wegen ihres Engagements „bereits mehrmals verhaftet, zusammengeschlagen und gefoltert“ worden, „um falsche Geständnisse zu erpressen“. Politisches, soziales oder sonstiges Engagement ist den Religionsgemeinschaften daher inzwischen strikt untersagt und wird staatlich verfolgt. Vgl. insoweit auch das Schicksal des religiösen Truong Vinh Chau, der jetzt im August 2005 in die USA ausreisen konnte (Jesus.ch v. 25.8.2005).
Vgl. dazu auch schon Dr. Will in seiner Stellungnahme v. 16.6.1999 an das VG Freiburg:
“ In den vergangenen Monaten ist außerdem eine zunehmende Nervosität der staatlichen Behörden Vietnams gegenüber den Religionsgemeinschaften zu beobachten. Da die wirtschaftliche Entwicklung längst nicht mehr so gut läuft wie zu Beginn der neunziger Jahre, die sozialen Probleme aber rasant zugenommen haben und die sozialistische Ideologie durch die wirtschaftliche Reformpolitik erheblich an Glaubwürdigkeit verloren hat, ist in Vietnam eine wachsende Orientierungslosigkeit entstanden, die viele Vietnamesen dazu bewogen hat, sich Religionsgemeinschaften zuzuwenden, die ein gültiges System von Werten und Erlösung aus der gegenwärtigen Misere versprechen. Von staatlicher Seite wird dies jedoch nur als Versuch gesehen, die staatliche Ordnung mit Hilfe und unter dem Deckmantel der Religion zu untergraben. Die vietnamesische Regierung sah sich daher auch veranlaßt, am 19.4.1999 ein Dekret über die Zulässigkeit religiöser Aktivitäten zu erlassen, in dem gefordert wird, die entsprechenden Vorschriften rigoros anzuwenden, um jeden Mißbrauch der Religion im Kampf gegen die Volksmacht zu unterbinden.” (...)
Vgl. dazu auch ai-Jahresbericht 2004 S. 417:
„Ungeachtet aller Bemühungen der Regierung, die Verbreitung unliebsamer Informationen zu verhindern, wurden immer wieder Vorwürfe über repressive Maßnahmen publik: So sollen vor allem im Zentralen Hochland Mitglieder verbotener protestantischer Kirchen bei Dorfversammlungen zur Abgabe von Erklärungen über den Verzicht auf ihren Glauben gezwungen worden sein.“
Der Kläger dürfte im Hinblick auf seine religiöse Orientierung und seine Asylantragstellung somit als aktiver Regimegegner, als Andersdenkender, als Dissident angesehen werden (vgl. insoweit auch VG Meiningen, B. v. 18.6.2002 - 2 E 20341/02.Me -).
4.2.5 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. „administrative Haftstrafen“ auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999). Die Präsidenten der „Volkskomitees“ auf Provinzebene dürfen hiernach jede Person bis zu 2 Jahren ohne Gerichtsverfahren inhaftieren - und auch verbannen (AA Lagebericht v. 12.2. 2005, S. 6). Es ist allerdings unklar, welche Personen aufgrund welcher Erkenntnisse in die unstreitig existierenden Arbeits- und Verbannungslager verbracht und dort - durch welche Methoden auch immer - „abgestraft“ werden. Erkenntnisse über die vietnamesische Praxis in diesem Bereich sind „nur schwer zu erhalten“ (so Lagebericht des AA v. 26.2. 1999),. In der FAZ v. 21.1.1999 heißt es insoweit:
Ein im Westen ausgebildeter Jurist war mehr als zehn Jahre in Haft, auf Grund administrativer Entscheidungen und ohne je ein Gericht gesehen zu haben. „Sie schlagen nicht, sie stecken dich in Einzelhaft oder in ein Arbeitslager - bis du die Gesetze des Klassenkampfs endlich eingesehen hast“, sagt er... (FAZ v. 21.1. 1999).
Angesichts des engagierten Verhaltens des Klägers bei Demonstrationen in Deutschland liegt es sehr nahe, dass er bei einer Rückkehr mit Gefängnis oder einer längeren Administrativhaft oder vergleichbaren Maßnahmen belegt werden wird (vgl. auch Report der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ - GfbV - v. 28. April 2005; US-Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2004 - Vietnam - v. 28. Febr. 2005). Schon durch die ai-Stellungnahme gegenüber dem VG Neustadt/Wstr. vom 7.1.1997 wird bestätigt, dass „regimekritisches“ Verhalten, wozu in Einzelfällen auch schon humanitäre Hilfsaktionen zugunsten von Überschwemmungsopfern im Mekong-Delta zählen können (siehe FR v. 17.8.1995), ggf. hart bestraft wird, u.zw. auf der Grundlage der Staatsschutzvorschriften oder administrativer Haft. Auch andere Erkenntnisquellen belegen diese Tendenz der harten Bestrafung oppositioneller und „antisozialistischer Tätigkeit“ (HRW, country summary, Januar 2005; ai-Jahresbericht 2005, S. 358; ai-Jahresbericht 2004, S. 414 f.; Menschenrechtsreport 38 der GfbV v. 28.4.2005; US-Departement of State, Country report on human rights practices v. 28.2.2005; ai-Stellungn. v. 2.2. 1999, IGFM-Jahresbericht 2004 v. Febr. 2004; ai-Schr. v. 5.11.1996 an VG Frankf./Oder; Prof. Lulei, Schr. v. 24.2.1998 an VG Frankfurt/Oder; Stellungn. Dr. G. Will an VG Berlin v. 17. Nov. 1999; AA Lagebericht v. 28.8.05 und v. 12.2. 2005).
Nach einem Artikel des Sicherheitsministers in der Parteizeitung Nhân Dân vom 18.8. 2000 müsse die Regierung den „feindlichen Kräften unter den im Ausland lebenden Vietnamesen“ mit der ganzen Härte des Gesetzes begegnen. Von einer Schwelle exilpolitischer Betätigung oder Exponiertheit als Voraussetzung für staatliche Maßnahmen ist hier keineswegs die Rede gewesen, so dass potentiell jeder engagiert Andersdenkende, der das einmal gezeigt hat, betroffen sein und verfolgt werden kann.
Es bedarf keiner weiteren Ausführungen dazu, dass durch administrative Maßnahmen der in Vietnam zugelassenen Art gegen Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) verstoßen wird: Derartige Maßnahmen „unterminieren die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte“ (AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 5).
Aktive und überzeugte Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP sind somit stets gefährdet und werden als „politische Straftäter“ härter als andere abgestraft (durch Isolationshaft, Limitierung von Besuchen, Briefzensur), vgl. Lagebericht des AA v. 28.8.2005 und v. 12.2.2005; Report der „Gesellschaft für bedrohte Völker“, aaO.; US-Department of State, aaO.). Da Vietnam bislang nicht der VN-Anti-Folter-konvention beigetreten ist, können zudem Folterungen bzw. „einzelne Übergriffe von Sicherheitsorganen“ (Lagebericht AA v. 12.2.2005) in keiner Weise ausgeschlossen werden. Für harte, völlig überzogene Strafen reicht schon das Schmuggeln von Flugblättern mit antikommunistischen Inhalten aus (so ai -Jahresbericht 2002, S. 604) oder „häufiges Agitieren auf Versammlungen“ einer Volksgruppe (so ai- Jahresbericht 2005, S. 358).
4.2.6 Aufgrund dieser vielschichtigen Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden bei der Anwendung des vietStGB und der Befugnis zur administrativen Haft nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. „An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert“ (Lagebericht v. 28.8.2005). Es ist dem Zufall überlassen, ob jemand repressiv „behandelt“ , schikaniert, gefoltert oder abgestraft wird. Willkürliche Verhaftungen finden statt, wobei das nur formale Recht, einen Beistand hinzuzuziehen, nicht einmal eingehalten wird (so im Verfahren gegen Pfarrer Ly, vgl. IGFM-Pressemitt. v. 22.10. 2001; so auch der Einzelentscheider-Brief Febr. 1999). Eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden abzugeben, ist im Einzelfall völlig unmöglich:
„Da das Vorgehen der vietnamesischen Behörden und auch der Justiz, wie oben bereits ausgeführt, ganz wesentlich politisch beeinflußt und im übrigen in hohem Maße korrupt ist, ist eine objektive Beurteilung, ob sich die zuständigen Stellen von den...geschilderten Erwägungen bei der Entscheidung über das Ob und Wie einer Bestrafung des Betroffenen leiten lassen, praktisch unmöglich.“ - ai-Stellungnahme v. 2.2.1999 (ASA 41-97.145).
Staatliche Repressionen hängen dabei oft noch von lokalen Gegebenheiten ab (Lagebericht AA v. 12.2.2005, S. 9; Report der GfbV v.28.4.2005).
Auf die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren kommt es angesichts solcher Willkür nicht mehr an: Der Sachverständige Dr. Will hält an seiner schon früher geäußerten Auffassung fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9.2000, S. 1). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8.2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass eine Oppositionshaltung, die „irgendwo im fernen Ausland“ offenbart worden sei, dann in Vietnam verfolgungsrelevant werden könnte, wenn „Publikationen aus dem Umfeld des Innenministeriums.... Witterung bei bestimmten Personen aufgenommen und sich auf sie eingeschossen“ hätten. Dabei geht dieser Sachverständige davon aus, dass das Rückübernahmeabkommen von 1995 (nebst Briefwechsel) sich „als Schlag ins Wasser erwiesen“ und die „vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg“ gelegt habe: „Beim Besuch der BMZ-Ministerin in Hanoi (Oktober 2000) wurde das Abkommen von 1995 nicht einmal noch der Erwähnung für wert befunden.“ Die „völkerrechtlichen Verpflichtungen“ sind damit, da sie in Vietnam missachtet werden, bedeutungslos. Vgl. dazu ai-Jahresbericht 2003 u. Lagebericht des AA v. 1.4.2003: „Aushöhlung“ des Dreierabkommens UNHCR-Vietnam-Kambodscha durch den vietnamesischen Staat.
Schon der Besitz antikommunistischer Flugblätter kann für eine Verurteilung ausreichen, Kritiker der regierungsamtlichen Parteilinie werden willkürlich verfolgt und schikaniert (ai-Jahresbericht 2002, S. 604). Vgl. dazu den IGFM-Jahresbericht 2004:
„In den letzten zwei Jahren wurden die politischen Dissidenten wie bei einer Entführung festgenommen. Die Familien der Opfer wurden von der Verhaftung nicht informiert und erhielten monatelang weder Information über den Verhaftungsgrund noch den Haftort.
Die Untersuchungshaft überschreitet in der Regel die vom Gesetz vorgegebene Frist. Während der Untersuchungshaft (in einigen Fällen bis zu 16 Monaten) durften die politischen Gefangenen ihre Familien nicht sehen, um den Druck auf sie zu verstärken. So durften die Ehefrauen von Dr. Pham Hong Son und Herrn Nguyen Vu Binh ihre Ehemänner 15 bzw. 16 Monaten lang nicht besuchen. “
Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich diesbezüglich wie folgt geäußert (Stellgn. v. 14.9.2000 an VG München, S. 3):
„Berücksichtigt man all diese Faktoren, so wird zumindest erklärbar, warum manche auch gegenüber ausländischen Medien geäußerte Auffassungen prominenter Oppositioneller ohne nennenswerte Sanktionen und Repressionen hingenommen werden, während kritische Anmerkungen eines unbekannten Bürgers sehr schwerwiegende Bestrafungen nach sich ziehen können.“
Vgl. insoweit auch VG München, Urt. v. 13.8.2003 - M 17 K 03.50661 - Asylmagazin 2003, S. 30:
„In den genannten Gutachten ist überzeugend ausgeführt, dass keine Differenzierung danach stattfindet, ob die entsprechenden Taten im Inland oder im Ausland begangen werden, dass aber wohl eine Differenzierung stattfinden kann, ob die Kritik von Prominenten oder weniger Prominenten geäußert wird. Da der Kläger zu Letzteren gehört, ist er eher einer Bestrafung ausgesetzt....
Die Auffassung des Auswärtigen Amtes, vor einer Bestrafung sei mit der Verweigerung der Einreise zu rechnen, spielt keine Rolle. Das Gericht hat die Verfolgungswahrscheinlichkeit für den Fall einer tatsächlichen Rückkehr zu beurteilen.“ (so VG München, aaO.)
Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände ist es daher hier (prognostisch) beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Vietnam „bedroht“ ist (§ 60 Abs. 1 AufenthG). Er ist folglich als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG anzuerkennen. Es ist festzustellen, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.
5. Eine Entscheidung zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG kann im Hinblick auf die zuvor dargestellte Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG unterbleiben (§ 31 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylVfG analog). Die Abschiebungsandrohung ist insoweit rechtswidrig, als eine Abschiebung nach Vietnam angedroht worden ist (§ 59 Abs. 3 AufenthG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.