Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 01.12.2006, Az.: 1 B 47/06
Abschiebung; Abschiebungshindernis; Abschiebungsverbot; Asyl; Asylantrag; Asylfolgeantrag; Bedrohung; Bedrohungslage; Dauersachverhalt; Dissident; Ermessen; ernstliche Zweifel; exilpolitische Betätigung; Flüchtling; Flüchtlingsanerkennung; Flüchtlingsstandard; Folgeantrag; Folterung; Fristbeginn; Grundrecht; Interessenabwägung; Internet-Nutzer; Kumulierung; Menschenrecht; Nachfluchtgrund; Nachfluchttatbestand; Pressefreiheit; Qualifikationsrichtlinie; Rechtschutzanspruch; Rechtslage; Repression; Rückkehr; Schutzlücke; Sperrwirkung; staatliche Repression; Strafrecht; Umsetzungsfrist; Verfolgungspraxis; Verfristung; Verschärfung; Vietnam; vorläufiger Rechtsschutz; Vorwirkung; Wiederaufgreifen; Zuwanderungsgesetz; Zweitantrag
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 01.12.2006
- Aktenzeichen
- 1 B 47/06
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 53242
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 123 VwGO
- § 28 Abs 2 AsylVfG
- § 71 AsylVfG
- § 51 VwVfG
- Art 9 Abs 1b EGRL 83/2004
- Art 10 Abs 1e EGRL 83/2004
- Art 10 Abs 2 EGRL 83/2004
- § 60 Abs 1 AufenthG
- § 60 Abs 7 AufenthG
- Art 33 FlüAbk
- Art 7 MRK
- Art 10 MRK
- Art 19 Abs 4 GG
Gründe
Der 1967 geborene Antragsteller vietnamesischer Staatsangehörigkeit und buddhistischen Glaubens stellte Anfang der 90-er Jahre einen Asylantrag, der durch Bescheid des Bundesamtes vom 17. Mai 1993 abgelehnt wurde. Seine dagegen erhobene Klage war nach damals geltendem Recht und nach dem damaligen Sach- und Streitstand erfolglos (Urteil der Kammer v. 15.3.1995 - 1 A 609/93 -).
Im Juli 2006 stellte er einen Asylfolgeantrag, der mit einer Änderung der Rechtslage (Richtlinie 2004/83/EG und Zuwanderungsgesetz vom 30.7.2004), hier vor allem mit Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie, und den geänderten vietnamesischen Verhältnissen sowie mit zahlreichen exilpolitischen Aktivitäten der letzten Jahre begründet wurde. Er verwies darauf, dass das Verfolgungs- und Bestrafungsrisiko in Vietnam bei einer Gesamtschau der Verhältnisse hoch sei, da es eine drastische Verfolgungspraxis einschließlich menschenrechtswidriger Folterungen (Art. 3 EMRK) gegen Oppositionelle bzw. gegen solche Menschen gäbe, die dafür vom Staat gehalten würden. In Vietnam gehe es willkürlich zu und werde ein Gesinnungsstrafrecht praktiziert.
Dieser Antrag wurde nach der Anhörung des Antragstellers vom 24. August 2006, in der er darauf hinwies, dass er im Oktober 2005 durch die vietnamesische Polizei in B. verhört worden sei, durch den angefochtenen Bescheid vom 19. September 2006 - am 20. September 2006 als Einschreiben zur Post gegeben - abgelehnt. Zugleich wurde der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 17. Mai 1993 bezüglich der „Feststellung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG“ abgelehnt. Eine erneute Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung erging mit Rücksicht auf die Vollziehbarkeit der früheren Abschiebungsandrohung und die Änderung des § 71 Abs. 5 AsylVfG (Streichung der 2-Jahresfrist) nicht.
Am 12. Oktober 2006 hat der Antragsteller um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit der Begründung nachgesucht, die Verweigerung eines Folgeantragsverfahrens sei unberechtigt, wie seine Ausführungen und Beweismittel im Klageverfahren deutlich aufzeigten.
Der zulässige Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat im vorliegenden Fall vor allem im Hinblick auf Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560) - GFK - Erfolg (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG, Art. 13 der Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 / Amtsblatt der EG v. 30.9.2004, L 304/12).
1. Der Antrag, Eilrechtsschutz gem. § 123 VwGO zu gewähren, weil erst noch ein Asylfolgeverfahren (1 A 245/06) durchzuführen sei, ist bei der vorliegenden Fallgestaltung der zutreffende Antrag, da eine Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung nicht mehr - wie noch nach der alten Rechtslage - ergangen ist (S. 8 / Pkt. 3 des angefochtenen Bescheides). In diesem Fall gebietet es Art. 19 Abs. 4 GG iVm § 123 VwGO, das Eintreten vollendeter Tatsachen jedenfalls dann zu unterbinden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der behördlichen Maßnahmen bestehen (VG Stuttgart, Urt. v. 12.6.2003 - A 4 K 11624/03 -; VGH Mannheim, NVwZ-Beilage I 2001, S. 8). Derartige Zweifel liegen hier vor.
2. Die erhobene Klage ist nicht etwa verfristet: Der angefochtene Bescheid vom 19. September 2006 ist zwar schon am 20. September 2006 als Einschreiben zur Post gegeben und die Klage erst am 12. Oktober 2006 per Fax erhoben worden, jedoch ist der Bescheid ausweislich des Eingangsstempels der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers erst am 28. September 2006 in C. zugestellt worden (vgl. den am 16.11.06 eingegangen Schriftsatz nebst Anlage) - was seinen Grund darin haben dürfte, dass der Prozessbevollmächtigte in dieser Zeit (gerichtsbekannt) innerhalb D. in ein neues Büro umgezogen ist.
3. Gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG ist ein weiteres Asylverfahren dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Das ist der Fall, wenn sich die Sach- und Rechtslage entscheidungserheblich zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), wenn neue Beweismittel vorliegen (Nr. 2) oder wenn Wiederaufnahmegründe entsprd. § 580 ZPO gegeben sind (Nr. 3 aaO.).
Im Übrigen ist bei nicht durchgreifenden Gründen iSv § 51 Abs. 1 VwVfG stets noch ein Wiederaufgreifen im Ermessenswege gem. §§ 51 Abs. 5, 48 f. VwVfG zu prüfen (BVerwGE 111, 77), u.zw. insbesondere hinsichtlich des Vorliegens von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, die jetzt in der Regel zum Zuge kommen sollen. Bei hinreichend schwerwiegenden Gründen ist die Verwaltungsbehörde zum Wiederaufgreifen iSe Ermessenreduzierung sogar verpflichtet (Kopp/ Ramsauer, VwVfG-Kommentar, 8. Aufl. § 51 Rdn. 24 m.w.N.).
Hiervon ausgehend erweist sich der angefochtene Bescheid als mit erheblichen Zweifeln behaftet.
4. Die rechtliche Prüfung im Folge- und Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG hat in Anlehnung an die Vorwirkungen der Richtlinie 2005/85/ EG d. Rates v. 1. Dezember 2005grundsätzlich in Stufen zu erfolgen (h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217 [VG Lüneburg 06.10.2003 - 1 B 45/03]). Davon geht zu Recht auch die Beklagte aus (S. 3 des angef. Besch.). Dieser Vortrag kann jedoch nur dann als unbeachtlich verworfen werden, wenn er nach jeder Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot zu verhelfen (BVerfG, DVBl. 1994, 38 [BVerfG 11.05.1993 - 2 BvR 2245/92]; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor.
4.1 Der Antragsteller hat nämlich unstreitig neue, sich nach dem Urteil der Kammer vom 15. März 1995 ereignete Rechtsänderungen (u.a. Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie 2004/ 83/EG) und Sachänderungen einschließlich eines schärferen Umgangs des vietnamesischen Staates mit Minderheiten/ „Abweichlern“ - sogar deren Folter - vorgetragen. Daneben hat er unter Vorlage zahlreicher Belege auf seine exilpolitischen Betätigungen zugunsten von Freiheitsrechten verwiesen, die ebenso wenig schon Gegenstand des gen. Bescheides sein konnten wie die vorgetragenen Änderungen der Sachlage aus den Jahren 2005/2006.
Dieser gesamte Vortrag erscheint keineswegs ungeeignet, das viele Jahre zurückliegende Erstbegehren in einem anderen Lichte erscheinen zu lassen und so den erforderlichen „Anstoß“ zu einem Folgeverfahren zu geben. Der Vortrag hat Relevanz für die zu treffenden flüchtlingsrechtlichen Entscheidungen (vgl. dazu die Beilage zum Asylmagazin 6/2006 m.w.N.): Nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ist der Vortrag hier nämlich nicht schon von vorneherein ungeeignet, zu einem Abschiebungsverbot iSv § 60 Abs. 1 AufenthG oder jedenfalls zu einem Abschiebungshindernis iSv § 60 Abs. 7 AufenthG (mit der „Soll“-Regelung) zu verhelfen. Vgl. insoweit auch die Rechtsprechung der Kammer (z.B. Urteil v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 -). Das gilt vor allem im Hinblick auf die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/ EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EG v. 30.9.2004, L 304/12), die seit dem 11. Oktober 2006 - nach Ablauf der Umsetzungsfrist - uneingeschränkt zu Gunsten des Antragstellers anzuwenden ist (Art. 38 der Richtlinie). Hiervon abgesehen hat sich auch der Kerngehalt des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erheblich geändert (Urteile der Kammer v. 15.11.2006 - 1 A 520/03 - und v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 - m.w.N., einschließlich Stellungn. zum Urteil des Nds. OVG v. 16.6.2006 - 9 LB 104/06 -).
Auch stellt die im Bescheid vertretene Auffassung einen unzutreffenden Ausgangspunkt dar, aus dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1.1.2005 ergebe sich keine neue Bewertung: Das Gegenteil ist der Fall. § 60 Abs. 1 AufenthG hat das Verhältnis zur Asylanerkennung (Art. 16 a GG) tiefgreifend verändert (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG, Rdn. 12). Denn mit § 60 Abs. 1 AufenthG hat sich unter dem Eindruck der jetzt unmittelbar geltenden Richtlinie 2004/ 83/EG v. 30.9. 2004 (vgl. dazu die Hinweise des BMI v. 13.10.2006 mit Ergänzungen des Gesetzestextes) ein nachhaltiger Perspektivwechsel vollzogen, bei der die GFK mit ihrem Art. 33 zentraler Wertungsmaßstab geworden ist (vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.; Urteile der Kammer v. 15.11.2006 - 1 A 520/03 - ; v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 - und v. 7.9. 2005 - 1 A 240/02 - ;vgl. dazu auch Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG Rdn. 13). Der Rekurs der Beklagten auf § 51 Abs. 1 AuslG trägt daher nicht mehr, da gem. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG die GFK (Art. 33) als zentraler Wertungsgesichtspunkt, der auch die Qualifikationsrichtlinie bestimmt (dort Erwägungsgrund 2), jetzt ausdrücklich „anzuwenden“ ist (so VG Karlsruhe, Urt. v. 10.3. 2005 - 2 K 12193/ 03 -). Im deutschen Recht hat aufgrund der neuen Rechtslage eine grundsätzliche Neuausrichtung auf die GFK zu erfolgen (vgl. dazu Beilage zum Asylmagazin 6/2006, S. 1 m.w.N. zur Rechtspr. der Verwaltungsgerichte).
Soweit im Bescheid noch auf eine „Vorprägung“ im Heimatland abgestellt wird (S. 4 d. Besch.), liegt das neben der Sache, da es nach § 28 Abs. 2 AsylVfG auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Erstverfahrens ankommt, bis dahin also exilpolitische Aktivitäten fraglos (in Europa oder Deutschland) entfaltet werden durften. Diese sind mithin stets berücksichtigungsfähig. Die Tatsache, dass der Kläger seine Heimat vor langer Zeit „unverfolgt“ verlassen und bis dahin keine „feste regimekritische Überzeugung kundgetan“ hat (S. 4 d. Besch.), ist gem. § 28 AsylVfG für eine Flüchtlingsanerkennung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG iVm GFK - anders als für die Asylanerkennung (Art. 16 a Abs. 1 GG, § 28 Abs. 1 AsylVfG) - völlig bedeutungslos. Auch danach entfaltete Aktivitäten sind gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG ausnahmsweise (als Abweichen von der gesetzlichen „Regel“) sogar noch zu berücksichtigen - nach Abschluss des Erstverfahrens. Auf dieser Linie liegt es, wenn es gemäß Art. 33 GFK völlig irrelevant ist, zu welchem Zeitpunkt bedrohungsrelevante Überzeugungen (iSv subjektiven Nachfluchtgründen) gewonnen wurden: Hiernach ist allein entscheidend, dass bei künftiger Rückkehr in das Heimatland und für diesen Zeitpunkt eine Bedrohung gegeben ist - gleichgültig, zu welcher Zeit, aus welchen Motiven und aus welchen Gründen (subjektiv oder objektiv) die Bedrohungsgründe entstanden sind. Diese zentrale, auf die Zukunft gerichtete, die Rückkehr in den Blick nehmende Wertung des Flüchtlingsvölkerrechts bestimmt über die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG (Erwägungsgrund 2) auch die nationalen Normen, so dass § 28 Abs. 2 AsylVfG teleologisch entsprechend zu reduzieren ist.
4.2 Außerdem ist eine Handlungseinheit wie der hier vorgetragene Dauersachverhalt der „exilpolitischen Betätigung“ mit Auswirkungen auf die politisch motivierte Reaktionsweise vietnamesischer Behörden nicht ohne weiteres der 3-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG zu unterstellen (vgl. OVG Weimar, Urteil v. 6.3.2002 - 3 KO 428/99 -; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]).
Denn die bloßen Daten von Erkenntnisquellen können nicht zugleich mit der daraus beim Antragsteller gezogenen Erkenntnis bzw. Kenntnis aller maßgeblichen Tatsachen gleichgesetzt werden. Der für den Fristbeginn (§ 51 Abs. 3 VwVfG) maßgebliche Zeitpunkt der Veränderung tatsächlicher Grundlagen bzw. der Erkenntnisfortschritte hinsichtlich des synergistischen Zusammenspiels exilpolitischer Betätigung in Deutschland und Bedrohungsreaktionen in Vietnam ist nicht etwa von einzelnen Erkenntnisquellen und einzelnen Betätigungen abhängig: Die Risiken exilpolitischer Betätigung schwanken und nehmen je nach politischer Grundhaltung des Verfolgerstaates zu oder ab - je nachdem, ob „hardliner“ an der Macht sind oder liberalere Kräfte. In Vietnam hat es solche Veränderungen gegeben, wie zahlreiche Berichte und Stellungnahmen belegen. Insofern ist ein fester Zeitpunkt für eine Sachlagenänderung iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nur schwer greifbar, jedenfalls nicht an einzelnen Erkenntnisquellen oder Bescheinigungen über Betätigungen zu orientieren. Von einer Verfristung kann somit nicht ausgegangen werden.
Das gilt in ähnlicher Weise für die Änderung des materiellen Rechts, da die Änderung der allgemeinen Rechtsauffassungen einer Rechtsänderung gleichgestellt wird (BVerfGE 34, 288 = DVBl. 1973, 784 [BVerfG 14.02.1973 - 1 BvR 112/65]; DVBl. 1990, 691 [BVerfG 03.04.1990 - 1 BvR 1186/89]), so dass hier die mit der Qualifikationsrichtlinie veränderte Wertung zu einer relevanten Änderung der Rechtslage geführt hat.
5. Die Erfolgsaussichten des Antrages in der Sache sind hier deshalb anzunehmen, weil bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Art. 1 des Zuwanderungsgesetzes v. 30.7.2004 / BGBl. I S. 1950) iVm der jetzt uneingeschränkt geltenden Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) nicht von der Hand zu weisen ist (vgl. dazu die Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urteile v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 - und v. 22.9. 2005 - 1 A 32/02 - sowie v. 28.9.2005 - 1 A 252/02).
5.1 Das gilt angesichts der Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4. 2004, deren Umsetzungsfrist gem. ihrem Art. 38 Abs. 1 am 10. Oktober 2006 abgelaufen ist, in besonderem Maße. Diese Richtlinie hat die Anforderungen an eine Substantiierung asyl- und flüchtlingsrelevanten Vorbringens, aber auch die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling (vgl. Kapitel II und III der Richtlinie) qualitativ grundlegend verändert, was zu Gunsten des Antragstellers hier ohne jede Einschränkung zu berücksichtigen ist. Der abweichenden Ansicht des OVG Münster im Beschl. v. 18.5.2005 - 11 A 533/05.A - ist nicht zu folgen.
Das gilt aber auch angesichts des § 60 Abs. 1 AufenthG, der mit seinem Wechsel der Perspektive von einer täter- zu einer opferbezogenen Flüchtlingsbetrachtung den damit befassten Verwaltungsstellen wie auch den Gerichten eine völlig neue Wertung abverlangt (vgl. dazu Urteil des VG Stuttgart v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - , InfAuslR 2005, S. 345; Urteil der Kammer v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 -). Es geht jetzt auf dem Hintergrund der GFK darum, ob eine „wohlbegründete Furcht“ vor einer Bedrohung im Heimatland plausibel erscheint (so VG Frankfurt, Asylmagazin 9/2006, S. 23/24). Damit ist eine stärker subjektive, die Sicht des Flüchtlings betonende Wertung prognostischer Art geboten.
Da hierauf im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die rechtshängige Klage abzustellen sein wird, liegen die erforderlichen ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides schon deshalb vor.
5.2 Der neu angefügte Abs. 2 des § 28 AsylVfG ist im Lichte der nunmehr verbindlichen Qualifikationsrichtlinie zudem weitgehend unanwendbar (vgl. Urteil der Kammer v. 24.5. 2006 - 1 A 405/03 -, Asylmagazin 7-8 / 2006, S. 43). Denn die der Richtlinie 2004/83/EG widersprechenden nationalen Bestimmungen - hier vor allem § 28 Abs. 2 AsylVfG - sind stets insoweit von den damit befassten Gerichten unangewendet zu lassen, als sie europäischen Richtlinienbestimmungen mit ihrer weiter reichenden Bedeutung und ihrer Festlegung von Flüchtlingsstandards widersprechen (vgl. dazu Urteil der Kammer v. 24.5. 2006, aaO.).
Im Übrigen vermag § 28 Abs. 2 AsylVfG die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG nur ganz ausnahmsweise, nämlich dann zu sperren vermag, wenn ausnahmslos und allein rein subjektive Nachfluchtgründe geltend gemacht werden (vgl. Urteil der Kammer v. 28.9.2005 - 1 A 252/02 -), was bei einer Verschärfung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Verwaltungs- und Prozesspraxis im Heimatland nicht der Fall ist, so dass eine Sperrwirkung dann auch nicht zum Zuge kommen kann. Denn es stellt einen objektiven (und nicht subjektiven) Nachfluchttatbestand dar, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates und seine Verwaltungspraxis gegenüber einer regimekritischen Organisation verändert (so BVerwG, EZAR 206 Nr. 4; VG Schwerin v. 27.2.2004, S. 6 d. Urt.-Abdr.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Febr. 2006, § 28 Rdn. 48.8: „Zu denken ist (an) eine Verschärfung der Verfolgungspraxis des Heimatstaates oder …“; vgl. auch Marx, Kommentar z. AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 28 Rdn. 118, 120 f.). Solche Verschärfung der Praxis in Vietnam wird von zahlreichen Beobachtern berichtet (vgl. u.a. ai-Jahresbericht 2006, S. 496 ff.: „politisch Andersdenkende“ wurden verfolgt, die „Kontrolle des Internet noch weiter verschärft“, „drastische Auflagen für die Durchführung öffentlicher Versammlungen“ erlassen usw.; open Doors v. 5.4.2006: Niederbrennen der Häuser von Christen mit Billigung örtlicher Behörden; Radio Vatikan v. 13.5.2006: Misshandlungen in Haft; spiegelonline v. 22.9.2006: Inhaftierung und anschließende Ausweisung von Menschenrechtlern).
Das gilt im Hinblick auf die Richtlinie 2004/83/ EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von „Ereignissen“ im Heimatland (Art. 5 Abs. 1) in ganz besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen im Heimatstaat stets im Rahmen des § 28 Abs. 2 AufenthG als objektiver Nachfluchttatbestand heranziehbar und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG auch stets bedrohungsrelevant sind. Verschärfungen der politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers sind als objektive Nachfluchtgründe (VG Schwerin, Urt. v. 27.2.2004, S. 6 unten d. Urt.-Abdr.) auch dann - von Amts wegen - zu berücksichtigen sind, wenn sie sich erst im Laufe des Verfahrens ergeben haben.
5.3 Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die „politische Einstellung des Betroffenen“ abzielen und sich als Bedrohung darstellen, kommt es stets auf die „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“ an sowie auf dortige (objektive) Veränderungen. Diese können die (bloße) Wahrscheinlichkeit einer (bloßen) Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. Art. 33 GFK nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage unter Berücksichtigung der Genfer Konvention (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG) einschließlich der EMRK (§ 60 Abs. 5 AufenthG) sowie der Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4. 2004 schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“, aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]). Das politische - auch exilpolitische - Engagement ist nur ein Anknüpfungspunkt für ein hartes Durchgreifen, für staatliche Repressionen in Vietnam. Insoweit ist heute - im Dezember 2006 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam inzwischen „als eines der repressivsten Regime in Asien“ erwiesen hat (vgl. dazu die Rechtsprechung der Kammer, u.a. Urteile v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 - und v. 11. 5.2005 - 1 A 397 u. 398/01 - sowie Urteile v. 28.9. 2005 - 1 A 245 u. 252/02 -; so u. a. auch D. Klein in „Aus Politik und Zeitgeschehen“, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5):
„Vietnam erwies sich auch 2003 als eines der repressivsten Regime in Asien...; offene Gewalt auf der Straße, Telefonterror und willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien“ (Klein, aaO., S. 5)
Weiterhin ist insoweit zu berücksichtigen, dass nach den derzeitigen Erkenntnissen (vgl. AA Lagebericht v. 28.8.2005; Lagebericht v. 31.3.2006) aktive Gegner des Sozialismus und des „Alleinherrschaftsanspruchs der KPV“ - „Dissidenten“ - inhaftiert oder bestraft werden können und hieran „auch das neue StGB nichts ändert“ (Lagebericht, aaO.): Sie bzw. solche, die dafür gehalten werden, sind Repressionen „wie Telefon- und Mailüberwachung, Hausarrest...oder Aufnahme auf einer schwarzen Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird“ ausgesetzt. Verschiedene Maßnahmen weisen darauf hin, dass „die Regierung die Schraube weiter anzieht“ (!). Kritische Artikel werden aus internationalen Zeitungen entfernt, kritische Fernsehbeiträge strikt zensiert. Satelliten-TV bedarf schriftlicher staatlicher Genehmigung, die nur ausgewählten Personen und Institutionen erteilt wird (Lageberichte, aaO.).
Im Übrigen wurde die Kontrolle des Internets durch einen neuen Erlass „weiter verschärft“ (Lagebericht v. 31.3.2006): Nach einer Meldung des schweizerischen „KleinReport“ vom 17. August 2006 sind 3 junge vietnamesische Internet-Nutzer fast neun Monate lang ohne Verhandlung nur deshalb in Vietnam inhaftiert worden, weil sie an einem prodemokratischen Chat teilgenommen hatten. Sie sind im Oktober 2005 festgenommen und erst am 7. Juli 2006 aus vietnamesischen Gefängnissen entlassen worden, was einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie darstellt.
Der Tod eines inhaftierten Christen nach Folter (vgl. „Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ v. 10.12. 1984 /BGBl. 1990 II, S. 247 und Art. 3 EMRK; Bericht der US-Menschenrechtsorganisation ICC, Radio Vatikan v. 13.5.2006) ist weiterer Beleg für die verschärfte Vorgehensweise der Polizei und der Behörden in Vietnam.
Es ist deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass der Antragsteller aus den vorgebrachten Gründen inzwischen - u.a. aufgrund der „Ereignisse“ und Verschärfung der Verhältnisse in Vietnam (vgl. u.a. Urteil der Kammer v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 -) - bei einer Rückkehr iSv § 60 AufenthG tatsächlich ernsthaft bedroht ist. Das wäre im Folgeverfahren einer individuellen Prüfung iSv Art. 4 Abs. 3 Qualifikationsrichtlinie zu unterziehen.
Hierbei ist einzubeziehen, dass es auf die Zahl ausgewiesener politischer Häftlinge gar nicht ankommt (vgl. S. 5 d. Besch.), sondern dass nach der unmittelbar geltenden Qualifikationsrichtlinie (Art. 9 Abs. 1 b) auch die Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen - ohne, dass sie zunächst Menschenrechte verletzen - , dabei aber selbstverständlich auch solcher, die bereits einen menschenrechtsverletzenden Charakter haben, in einer vorzunehmenden Gesamtschau Verfolgungscharakter haben kann. Dieser Aspekt erlangt in Vietnam ganz besondere Bedeutung, da dort eine dem Strafrecht vorgelagerte Repression (vgl. dazu die Lagebericht des AA mit Beispielen) besonders ausgeprägt ist: Dissidenten und „Abweichler“ sind Maßnahmen seitens der Regierung ausgesetzt wie z.B. Telefon- und Mailüberwachung, Hausarrest, Aufnahme in eine schwarze Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird usw. usw. Aktive Gegner des Sozialismus bzw. auch solche, die dafür nur gehalten werden (Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie: „zugeschrieben“), können nach den weit gefassten und (willkürlich) weit verstandenen Vorschriften jederzeit nach (willkürlichem) Belieben der vietnamesischen Polizeibehörden inhaftiert oder in sog. „Umerziehungslager“ verbracht werden (vgl. Art. 7 EMRK).
Es gibt in Vietnam zudem weder eine Presse- noch eine Meinungsfreiheit (vgl. Art. 10 EMRK). „Hart durchgegriffen“ wird bei Internet-Dissidenten sowie religiösen Organisationen (so ausdrücklich S. 358 des 7. Berichts der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen v. 15.6. 2005).
Der Antragsteller hat bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage somit voraussichtlich einen Anspruch auf Durchführung eines Asylfolgeverfahrens - jedenfalls hinsichtlich der Frage, ob unter den vorgetragenen Veränderungen in Vietnam die Voraussetzungen des ab 1. Januar 2005 geltenden § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der geltenden Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG vorliegen und der Antragsteller im Falle der Rückkehr (nur) bedroht wäre bzw. hinsichtlich auch der Frage, ob die gesetzliche Regel des § 60 Abs. 7 AufenthG bei ihm zwecks Vermeidung einer „Schutzlücke“, wie vom Gesetzgeber gewollt (vgl. die Regel des § 60 Abs. 7 AufenthG), entgegen der Ansicht der Beklagten zum Zuge kommt.
6. Der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stehen auch nicht ganz besonders gewichtige Gründe entgegen, die es erlaubten, schon vor Abschluß des Hauptsacheverfahrens die letztlich vollendete Tatsachen schaffende Abschiebung durchzuführen. Denn der Rechtschutzanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG ist um so stärker, je gewichtiger die abverlangte Belastung - hier die Rückkehr nach Vietnam - ist (BVerfGE 35, 382 / 4o2; BVerfGE, NVwZ 1985, 4o9; BVerfG (3. K. des 2. Senats) NVwZ-Beilage 1996, 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.). Deshalb ist ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur im Falle eindeutiger und unumstößlicher Richtigkeit (BVerfG, InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]) abweisbar:
Droht ... dem Ast. bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - ... - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (so die 3. Ka. des 2. Senats des BVerfG, Beschl. v. 27.1o.1995, NVwZ-Beilage 3/1996, S. 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.)
7. Auch eine reine Interessenabwägung ergibt, dass die Interessen des Antragstellers an einem vorläufigen Verbleib in Deutschland diejenigen der Antragsgegnerin an einer Abschiebung deutlich überwiegen: In dem Falle nämlich, dass der Antragsteller im Verfahren der Hauptsache obsiegte, sich jedoch wegen der vollzogenen Abschiebung in Vietnam befände, würde erheblich mehr und - zu Unrecht (siehe Hauptsacheverfahren) - schwerwiegender in seine Interessen eingegriffen als in dem Falle, dass er zunächst einmal nicht nach Vietnam abgeschoben würde, aber dann im Verfahren der Hauptsache unterläge: Hiermit wäre nur ein Aufschub der Abschiebung verbunden, während im zuerst genannten Fall u.U. schon Verfolgungsmaßnahmen der vietnamesischen Behörden, die derzeit in gar keiner Weise von der Hand zu weisen sind, durchgeführt sein könnten. Es bestünde also die Gefahr, dass bei einer baldigen Abschiebung ganz erheblich in Freiheitsrechte oder gar in die körperliche Unversehrtheit der Antragsteller eingegriffen wird, u.zw. mit Hilfe der von deutschen Behörden veranlassten Abschiebung. Dieser Gefahr ist auf dem Boden des Grundgesetzes (Art. 1 GG) zu begegnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO iVm § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
Dieser Beschluß ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.