Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 10.12.2008, Az.: 1 A 193/06
Aktivitäten; Bedrohung; Exilpolitik; exilpolitische Aktivitäten; Existenzminimum ; konvertiert; Maßstab; offener Verfolgungsbegriff; Protestant; Qualifikationsrichtlinie; Rechtslage; Vietnam; Änderung der Rechtslage
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 10.12.2008
- Aktenzeichen
- 1 A 193/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 54992
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- EGRL 83/2004
- § 60 Abs 1 S 5 AufenthG
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 22. August 2006 verpflichtet, den Kläger als Flüchtling anzuerkennen, also festzustellen, dass für ihn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens haben die Klägerin und die Beklagte je zur Hälfte zu tragen. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung wegen der Kosten durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenfestsetzungsbetrages abwenden, sofern nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Dem Kläger geht es um seine Asylberechtigung bzw. seine Anerkennung als Flüchtling, mithin um die Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 AufenthG iVm der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - und der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG.
Der 1979 geborene Kläger vietnamesischer Staatsangehörigkeit kam im April 2000 nach Deutschland und stellte einen Asylantrag, der nach der Anhörung vom 18. April 2000 durch Bescheid des Bundesamtes vom 28. April 2000 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Zugleich wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote oder -hindernisse iSd §§ 51 und 53 AuslG nicht vorliegen. Ihm wurde die Abschiebung für den Fall angedroht, dass er nicht fristgerecht freiwillig ausreise.
Im Juli 2006 stellte er einen Asylfolgeantrag, der mit einer Änderung der Rechtslage (Richtlinie 2004/83/EG und Zuwanderungsgesetz vom 30.7.2004) und der vietnamesischen Verhältnisse sowie mit zahlreichen exilpolitischen Aktivitäten der letzten Jahre begründet wurde. Er verwies darauf, dass das Verfolgungs- und Bestrafungsrisiko in Vietnam bei einer Gesamtschau der Verhältnisse hoch sei, da es eine drastische Verfolgungspraxis einschließlich menschenrechtswidriger Folterungen (Art. 3 EMRK) gegen Oppositionelle bzw. gegen solche Menschen gäbe, die dafür vom Staat gehalten würden. In Vietnam gehe es willkürlich zu und werde ein Gesinnungsstrafrecht praktiziert.
Der Antrag wurde ohne Anhörung des Klägers durch angefochtenen Bescheid vom 22. August 2006 - als Einschreiben zur Post gegeben - abgelehnt, u.zw. mit der Begründung, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1-3 VwVfG seien nicht erfüllt, die Anerkennung als Asylberechtigter scheitere an § 28 Abs. 1 AsylVfG und diejenige als Flüchtling an §§ 60 Abs. 1 AufenthG, 28 Abs. 2 AsylVfG. Denn der Kläger habe sich erst nach unanfechtbarer Ablehnung seines Erstantrages exilpolitisch betätigt. Auf die Qualifikationsrichtlinie könne sich der Kläger nicht berufen, da sie bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist (10.10. 2006) noch nicht direkt anwendbar sei. Im Übrigen sei § 60 Abs. 1 AufenthG auch unter Berücksichtigung der Richtlinie in seinem Kerngehalt nicht anders als zuvor und nicht anders als schon § 51 Abs. 1 AuslG auszulegen. Die behauptete Verschärfung in Vietnam sei seitens der Beklagten nicht erkennbar. Im Übrigen sei die Verweigerung einer Einreise wahrscheinlicher als eine Verfolgung durch Strafverfolgungsbehörden in Vietnam nach einer Rückkehr aus Europa, zumal es sich beim exilpolitisch tätigen Kläger nicht um eine besonders herausgehobene Persönlichkeit handele. Auch Abschiebungshindernisse lägen nicht vor, u.zw. selbst bei Überprüfung der Sach- und Rechtslage gemäß §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG nicht. Eine erneute Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung erging mit Rücksicht auf die Vollziehbarkeit der früheren Abschiebungsandrohung und die Änderung des § 71 Abs. 5 AsylVfG (Streichung der 2-Jahresfrist) nicht.
Am 6. September 2006 hat der Kläger erfolgreich um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht (Beschluss der Kammer v. 11. Oktober 2006 - 1 B 43/06 -).
Zur Begründung seiner am 6. September 2006 erhobenen Klage erweitert und vertieft der Kläger seine im Antrag dargelegten Gründe und verweist darauf, dass in Vietnam kritische bzw. abweichende Meinungen mit Härte unterdrückt und verfolgt würden, wie sich das aus dem Jahresbericht von amnesty international ergebe. Menschenrechtsbeobachtern werde sogar der Zugang zum Land verweigert. Die maßgeblichen Verhältnisse hätten sich in Vietnam deutlich verschärft.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. August 2006 zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen bzw. festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 bzw. Abs. 2 - 7 AufenthaltsG erfüllt sind.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf ihren angefochtenen Bescheid vom 22. August 2006.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als es dem Kläger um seine Anerkennung als Flüchtling geht. Im Übrigen, soweit der Kläger seine Anerkennung als Asylberechtigter erstrebt, ist sie abzuweisen.
Der Kläger ist ausweislich der Anhörung vom 18. April 2000 aus Vietnam unverfolgt ausgereist und hatte sich dort nicht politisch betätigt. Somit fehlt es für seine Anerkennung als Asylberechtigter an der notwendigen Kausalität von Flucht/Ausreise und Verfolgung (§ 28 Abs. 1 AsylVfG).
Der Kläger ist jedoch als Flüchtling anzuerkennen (§ 3 AsylVfG iVm Art. 13 der Richtlinie 2004/83/EG, Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12 ). Damit verbunden ist zugleich die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560). Er darf daher nicht nach Vietnam abgeschoben werden.
1. Die Prüfung im Folge- und Wiederaufgreifensverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG hat in Anlehnung an die Richtlinie 2005/85/ EG d. Rates v. 1. Dezember 2005 in Stufen zu erfolgen (h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217 [VG Lüneburg 06.10.2003 - 1 B 45/03]). In der 1. Stufe ist lediglich substantiiert vorzutragen, was seitens der Beklagten nur dann als unbeachtlich verworfen werden kann, wenn der Vortrag nach jeder nur denkbaren Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot zu verhelfen (BVerfG, DVBl. 1994, 38 [BVerfG 11.05.1993 - 2 BvR 2245/92]; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Insoweit hat der Kläger hier unter Vorlage zahlreicher Bescheinigungen (u.a. vom 28./29. April 2006) dargelegt, er sei aktives Mitglied des "Vereins der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg e.V.", für den er arbeite und sich engagiere. Im Übrigen sei das Zuwanderungsgesetz in Kraft getreten und die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 beachtlich, so dass sein Sachvorbringen in diesem Lichte neu und anders als zuvor zu würdigen sei.
Unter diesen Voraussetzungen hat die Beklagte den Folgeantrag des Klägers zu Unrecht mit der Begründung abgelehnt, eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage iSv 51 VwVfG liege nicht vor (S. 3 d. Bescheides): Im Konflikt zwischen den Grundsätzen der Rechtssicherheit (Bestandskraft des Bescheides vom 28.8.2000) und der Gerechtigkeit steht die gesetzlich festgeschriebene Verpflichtung der Behörde ("hat"), ein Verfahren gem. § 51 VwVfG dann wieder aufzugreifen, wenn eine summarische Schlüssigkeitsprüfung die bloße Eignung des Vortrags für einen Erfolg nahelegt (BVerwGE 78, 332/336; VGH München NVwZ 1990, 269; OVG Münster NVwZ 1986, 51/52). Hierbei ist auch, ohne dass eine Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland oder jener des Klägers vorliegen müssen, bereits eine Änderung nur der Rechtslage beachtlich (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG: "oder"). Erscheint die Aufrechterhaltung des unter anderen Bedingungen ergangenen Erstbescheides - z.B. verfassungsrechtlich (Art. 19 Abs. 4 GG) oder europarechtlich - unerträglich, was hier angesichts zahlreicher Rechtsänderungen in Betracht kommt, so verdichtet sich das behördliche Aufgreifensermessen zu einer strikten Rechtsbindung (Schrumpfung; BVerwGE 28, 122/127 f.). Hiervon ist die Beklagte jedoch zu Unrecht abgewichen.
Der Kläger hat vorgetragen, dass sich die rechtlichen Grundbedingungen für seinen Antrag nicht nur mit dem Zuwanderungsgesetz und der gen. Qualifikationsrichtlinie 2004/ 83/EG verändert haben, sondern auch mit seiner Aktivität bei dem gen. Verein. Das trägt seinen Folgeantrag ohne weiteres, so dass von der Beklagten eine entsprechende Sachprüfung zum Wiederaufgreifen - auch mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG und die Qualifikationsrichtlinie - vorzunehmen war. Auch zu der Zeit, als der Bescheid hier erging (August 2006), war die gen. Richtlinie bereits kraft EU-Rechts und wegen des Gebotes richtlinienkonformer Auslegung im Rahmen des behördlichen Ermessens einzubeziehen und zu berücksichtigen (vgl. Art. 249 Abs. 3, 10 Abs. 2 EG; st. Rspr. des EuGH, z.B. ZIP 1994, 1187/1189 - Faccini Dori). Das hat die Beklagte jedoch unter Berufung auf eine abweichende Rechtsauffassung unterlassen.
Das gilt nun für den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hier in besonderem Maße, weil mit dem "Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union" - EURLAsylUmsG - vom 19.8.2007 (BGBl. I 2007, S. 1970) § 60 Abs. 1 AufenthG geändert und durch Satz 5 die Anwendung der Qualifikationsrichtlinie (vgl. Art. 9 und Art. 10, Verfolgungshandlungen / -gründe) jetzt ausdrücklich vorgeschrieben ist.
Im Übrigen stellt es rechtsstaatlich einen gravierenden Verfahrensmangel und zugleich einen Verstoß gegen Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie mit dessen Gebot individueller Prüfung dar, wenn bei einem neuen Vortrag im Folgeverfahren eine Bescheidung - wie hier - ohne jede Anhörung des Klägers ergeht. Grundsätzlich hat nämlich eine individuelle Prüfung zu erfolgen (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) und ist zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen rechtliches Gehör zu gewähren (§ 28 VwVfG). Vgl. dazu Schlussantrag des Generalanwalts M. Poiares Maduro v. 9.9.2008 - C-465/07 - Pkt. 33:
"Deshalb muss das Kriterium, das die Richtlinie sowohl für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aufstellt, als ein Instrument verstanden werden, das die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Gefahr und der Verletzung von Grundrechten abzuschätzen ermöglicht. Die Bedeutung und die Art des für die Zuerkennung subsidiären Schutzes geforderten individuellen Bezugs sind daher unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen."
Dieser Grundsatz ist auch im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 71 Abs. 3 S. 3 AsylVfG zu beachten, der unter dem Eindruck der genannten Bestimmungen entsprechend eng auszulegen bzw. unanwendbar zu lassen ist. Die entsprechende Fehlerhaftigkeit des Folgeantragsverfahrens führt hier zugleich dazu, dass die getroffene Entscheidung rechtswidrig ist (vgl. VG Frankfurt/M., InfAuslR 2003, S. 119; Urteil des VG Darmstadt v. 28.5.2003 - 8 E 752/03.A (2) - Asylmagazin 2003, S. 31).
Aus diesen Gründen ist der angefochtene Bescheid aufzuheben.
2. Eine Änderung der hier maßgeblichen Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) ist im Hinblick auf § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG iVm dem rechtsverbindlichen "Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559)" - GFK -, im Hinblick auf § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, aber auch mit Blick auf die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/ EG gegeben, deren Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006 abgelaufen ist (vgl. Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 4). Daneben rechtfertigen die Belege für eine exilpolitische Betätigung und jene über eine Veränderung der politischen Lage in Vietnam (Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) eine Befassung mit dem Folgeantrag.
Auch der Vortrag des Klägers, er sei Protestant geworden und inzwischen von Pastor Dau aus Hannover in Koblenz getauft worden (vgl. Protokoll vom 10.12.2008, S. 2), rechtfertigt selbstverständlich eine Befassung mit dem Folgeantrag.
3. Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG - wie hier - erfüllt, hat das Verwaltungsgericht durchzuentscheiden (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO; vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.).
Diese Entscheidung hat sich vor allem an der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG v. 29. 4.2004 (Amtsblatt der EG v. 30.9. 2004, L 304/12) mit ihren Art. 9 und Art. 10 zu orientieren, welche zumindest seit Oktober 2006 die „verbindlich geltende europarechtliche Grundlage des Rechts auf Flüchtlingsanerkennung“ ist (Hoffmann, Beilage z. Asylmagazin 5/2007, S. 9/ S.14; VG Düsseldorf, Urt. v. 8.2.2007 - 9 K 2279/06.A -).
„Soweit die Richtlinie nicht oder nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt ist, können sich die Betroffenen unmittelbar auf sie berufen (vgl. EuGH vom 19.11.1991, DVBl 1992, 1017). Unbestimmte Rechtsbegriffe in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten sind im Licht der Richtlinie auszulegen. Das gilt sowohl hinsichtlich der relevanten Verfolgungshandlungen als auch im Hinblick auf die zu berücksichtigenden Verfolgungsgründe.“ - BayVGH, Urt. v. 23.10.2007 - 14. B 06.30315
Denn die Europäische Union wollte im Oktober 1999 in Tampere „zu ihren Verpflichtungen aus der GFK uneingeschränkt“ stehen (Clodius, Beilage zum Asylmagazin 5/2007, S. 1 Fußn. 4) und ein europäisches Mindestmaß an Flüchtlingsschutz festlegen. Die nach 2-jährigen Verhandlungen verabschiedete Richtlinie ist im Verhältnis Bürger/Staat (Behörden) unmittelbar geltendes Recht (EuGH v. 22.6.1989 / Rs 103/88, Slg. 1989, S. 1861/ 1870 f. - Fratelli Costanzo). Sie ist nicht etwa nur im Rahmen nationaler Vorschriften zu „berücksichtigen“ (VGH Baden-W., Beschl. v. 19.12. 2006 - A 3 S 1274/ 06 -), sondern nach ihrem Sinn und Zweck „Leitstern“ jeder asyl- und flüchtlingsrechtlichen Bewertung, zumal sie sehr viel konkretere Vorgaben und ausgefächertere Wertungsgesichtspunkte als § 60 AufenthG enthält, der sehr pauschal von einer "Bedrohung" spricht. Sie lenkt und leitet die zu treffenden Entscheidungen auslegungsmethodisch:
„Dies folgt aus dem Zweck der Qualifikationsrichtlinie. Gemäß Absatz 1 der Präambel ist Ziel, eine gemeinsame Asylpolitik der in der Europäischen Union verbundenen Mitgliedstaaten zu schaffen. Mittels eines gemeinsamen Asylsystems sollen die einzelstaatlichen Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft einander angenähert werden (Präambel Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG). Wesentliches Ziel der Qualifikationsrichtlinie ist es, ein Mindestmaß an Schutz von Flüchtlingen in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten (Präambel Abs. 6 Richtlinie 2004/83/EG), auch um die Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten, soweit sie auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften beruht, einzudämmen (Präambel Abs. 7 Richtlinie 2004/83/EG). Nach den Absätzen 16 und 17 der Präambel sollen Mindestnormen für die Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft und ihre Merkmale festgelegt werden, um die jeweiligen innerstaatlichen Stellen der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention zu leiten und gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 der Genfer Konvention einzuführen. Die Qualifikationsrichtlinie bestimmt den Umfang des mit dem Flüchtlingsstatus verbundenen Schutzes deshalb unabhängig von der jeweiligen Auslegung der Genfer Konvention in den einzelnen Mitgliedstaaten.“ - BayVGH, Urt. v. 23.10.2007 - 14 B 06.30315 -
Diejenigen Regelungen des AsylVfG und des AufenthG, die der Qualifikationsrichtlinie widersprechen oder ihr entgegenstehen, sind wegen des europarechtlichen Vorrangs der Richtlinie richterrechtlich unangewendet und gerichtlich daher unbeachtet zu lassen.
Soweit § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG n.F. lediglich die „ergänzende Anwendung“ der gen. Richtlinie - beschränkt auf bestimmte Artikel - vorsieht, ist methodisch durch das Gericht dem unmittelbaren Vorrang und der europarechtlichen Verbindlichkeit der gesamten Qualifikationsrichtlinie Rechnung zu tragen, was vor allem auch für den in Art. 5 der Richtlinie geregelten Bedarf an internationalem Schutz gilt, der aus Nachfluchtgründen entstehen kann. Insofern ist § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG erweiternd auszulegen.
4. Dem Kläger droht im Falle seiner Rückführung nach Vietnam für den Zeitpunkt des Jahres 2008 eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung iSd Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK. Er ist schutzbedürftig und daher als Flüchtling anzuerkennen.
4.1 Der Maßstab für diese Anerkennung ist der humanitären Intention zu entnehmen, die das Flüchtlings- und Asylrecht im Lichte der GFK und der Qualifikationsrichtlinie insgesamt prägt: Es soll demjenigen Aufnahme und Schutz gewährt werden, der sich in einer für ihn - subjektiv (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie: "Furcht vor Verfolgung") - ausweglosen Lage befindet (BVerfGE 80, 315 / 335). Konkretisiert wird diese Intention durch die GFK und die Qualifikationsrichtlinie, so dass eine prognostisch feststellbare, sich aus einer Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen (Art. 9 Abs. 1 b Qualifikationsrichtlinie) ergebende Bedrohung (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG iVm GFK) für den Fall einer Rückkehr nach Vietnam bereits für eine Flüchtlingsanerkennung ausreicht.
Solche Bedrohung setzt nach der heutigen Schutzlehre (lediglich) voraus, dass im Herkunftsstaat kein hinreichender Schutz vor Diskriminierungen, Willkürmaßnahmen und Nachstellungen iSe "Verfolgung" besteht. Unmaßgeblich ist, wem die Bedrohung zugerechnet werden kann und ob sie etwa staatlich - sei es durch Strafverfolgungsbehörden, durch Polizei oder sonstige Ordnungsbehörden - veranlasst ist. Vgl. Marx, "Leitsätze zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 13 RL 83/2004/ EG (Qualifikationsrichtlinie)", III 1 Nr. 18:
"Zweck der Schutzlehre ist demgegenüber die präventive Gewährleistung internationalen Schutzes, weil im Herkunftsstaat gegen Verfolgungen kein Schutz verfügbar ist. Aus dieser unterschiedlichen Zwecksetzung folgt, dass Schutzversagen infolge zerbrochener oder ineffektiver Schutzstrukturen zwar die Zurechnungslehre, nicht aber die Schutzlehre begrenzt. Im Flüchtlingsvölkerrecht verfehlt daher der Einwand, dass kein Staat einen perfekten und lückenlosen Schutz sicherstellen kann, den Kern des Schutzgedankens."
Hierbei sind - in Übereinstimmung mit § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG - die Verfolgungsgründe des Art. 10 Richtlinie maßgeblich, deretwegen die vom Flüchtling befürchteten Bedrohungen iSv Art. 9 Richtlinie bestehen (vgl. Urt. d. VG Bremen v. 21.1.2008 - 4 K 1327/07.A). Insoweit können sehr umfassend sämtliche Regelungen sowie administrativen und sonstigen Maßnahmen einschließlich der dabei geübten Sanktions- und Polizeipraxis schon in ihrer Gesamtheit (Kumulation) bedrohungsrelevanten Charakter haben, wenn sie nur eine entsprechende Tendenz aufweisen (BVerwGE 71, 180 f.).
Bei Anwendung der Art. 9 und 10 der Qualifikationsrichtlinie reicht es aus, dass aufgrund einer Gesamtbetrachtung Menschenrechte iSv Art. 9 Abs. 1 (mit den Regelbeispielen aus Art. 9 Abs. 2) gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG betroffen und bedroht erscheinen bzw. der Kläger - bei „Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen“ - in einer nur „ähnlich“ gravierenden Weise „betroffen“ ist (Art. 9 Abs. 1 b der Richtlinie), er also eine begründete - subjektive - Furcht (Art. 4 Abs. 4) vor einer zureichend gravierenden Bedrohung (vgl. Art. 2 c) plausibel machen kann.
„Die bisher von der deutschen Rechtsprechung vorgenommene separate Betrachtung jeder einzelnen Verfolgungsmaßnahme auf ihre Asylerheblichkeit ist damit überholt. Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung. Eine Häufung unterschiedlicher Maßnahmen, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der Verfolgung erfüllt, kann dazu führen, dass ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen kumulativer Gründe besteht…“ - VG Köln, Urt. v. 12.10.07 - 18 K 6334/05.A -
Dabei ist der Bedrohungscharakter verschiedener, u.U. zusammenspielender Sanktions- und Polizeimaßnahmen unter Berücksichtigung kultureller Besonderheiten im Herkunftsland lebenspraktisch zu erfassen. Vgl. dazu „Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG“ vom Mai 2005, dort zu Art. 9 Abs. 1:
„ Schwerwiegende Diskriminierung und die Kumulativwirkung unterschiedlicher Maßnahmen, die für sich genommen keinen Verfolgungscharakter aufweisen, sowie schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen können sowohl einzeln als auch zusammen mit sonstigen negativen Faktoren zu einer begründeten Furcht vor Verfolgung führen; oder mit anderen Worten das Leben im Herkunftsland für die betroffene Person in vielerlei Hinsicht so unsicher gestalten, dass der einzige Ausweg in dem Verlassen des Herkunftslands besteht.“
Ein enger Katalog der in Betracht zu ziehenden Verfolgungshandlungen bzw. Bedrohungsmaßnahmen ist angesichts der in Vietnam praktizierten Ausgrenzungen, Verfolgungen und Demütigungen, etwa durch Verhaftungen, Internet-Verbot , ausgedehnte Verhöre, Telefon- und Mailüberwachung bis hin zum "Kappen" der Internet- und Telefonverbindungen, Hausarrest , Aufnahme in eine schwarze Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird usw. usw. (vgl. dazu Lageberichte des AA v. 31.3.06 und v. 14.7.2008) auch sachlich völlig verfehlt, zumal es nach der Qualifikationsrichtlinie (Art. 9 Abs. 1 b) nicht mehr allein darauf ankommt, ob Verfolgungshandlungen die Menschenwürde oder Kern- bzw. Randbereiche von Menschenrechten verletzen (Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 5). Erst recht gebietet Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie eine lebensnahe Gesamtbetrachtung und -bewertung einer Vielzahl nur unterschwelliger Einzelhandlungen, die je für sich noch nicht verfolgungsrelevant sein mögen (Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen), das in ihrer Gesamtheit jedoch werden (vgl. Urt. d. VG Köln v. 12.10.2007 - 18 K 6334/ 05.A -). Schon die Verletzung der Freiheit des Briefverkehrs, etwa durch ständige Postkontrolle, kann eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung sein, u.zw. unter dem Gesichtspunkt der Wiederholung, Art. 9 Abs. 1 a der Richtlinie (so Hollmann, aaO., S. 6; Kalkmann, Asylmagazin 9/2007, S. 5). Vgl. „Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG“ v. Mai 2005, dort zu Art. 9 Abs. 1:
„Nach Auffassung von UNHCR muss die Auslegung des Begriffs der Verfolgung flexibel, anpassungsfähig und offen genug sein, um die veränderlichen Ausprägungen von Verfolgung erfassen zu können.“
Vgl. insoweit auch Bank/Schneider in Beilage zum Asylmagazin 6/2006, S. 5:
„Auch die Qualifikationsrichtlinie, in der die Verfolgungshandlung in Art. 9 durch zahlreiche Kriterien weiter konkretisiert wird, enthält einen offenen Verfolgungsbegriff. Zwar wird dabei der schwerwiegende Charakter der Verletzung grundlegender Menschenrechte betont, ohne jedoch eine Beschränkung auf bestimmte Menschenrechte vorzunehmen.“
Eine Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG iVm Art. 9 Richtlinie ist somit schon dann beachtlich wahrscheinlich, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht sprechenden Umstände bei lebensnaher Betrachtung ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nach richterlicher Wertung überwiegen (vgl. Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, UNHCR-Zeitschrift "Flüchtlinge", August Nr. 1987, S. 8 / 9; vgl. auch VG Bremen, Urt. v. 21.1.2008 - 4 K 1327/07.A -; so schon BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389 [BVerwG 03.11.1992 - BVerwG 9 C 21/92]; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8. 1993 - 11 L 5666/92 ). Vgl. OVG Frankfurt/Oder v. 14.4.2005 - 4 A 783/01 - :
„Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise i.S. einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn auf Grund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht.“
Auf die für eine zurückschauende Asylanerkennung mit ihrem Zusammenhang von Flucht - in der Vergangenheit - und damaliger Verfolgung (Art. 16 a Abs. 1 GG, § 28 Abs. 1 AsylVfG) geltenden Kriterien kommt es nicht mehr an. Vgl. Marx, aaO., Nr. 29:
"Ist dem Antragsteller vor der Ausreise keine Verfolgung widerfahren oder hat diese ihm nicht gedroht, kommt es entscheidungserheblich darauf an, ob eine ernsthafte Möglichkeit dafür besteht, dass er gegen glaubhaft gemachte Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure individuell Zugang zu einem wirksamen und angemessenen nationalen Schutzsystem nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie erlangen kann. Bei glaubhaft gemachter Verfolgung durch den Staat oder vergleichbare Organisationen ist hingegen davon auszugehen, dass kein individueller Zugang zum nationalen Schutzsystem besteht bzw. dieses keinen angemessenen und wirksamen Schutz bereithält."
Entscheidend ist somit, ob bei zukunftsgerichteter Betrachtung beachtliche Anknüpfungsmerkmale (iSd Art. 9 und Art. 10 Qualifikationsrichtlinie) vorliegen, deretwegen eine Bedrohung bzw. Betroffenheit iSv § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG in Zukunft nachvollziehbar und iSd Qualifikationsrichtlinie (Art. 9 u. 10) begründet erscheint. Das ist hier der Fall. Denn nur entfernt liegende (bloße) Möglichkeiten von Bedrohungen scheiden hier aus.
4.2 Solche Bedrohung ergibt sich allerdings nicht schon aus einer möglichen Bestrafung auf Grund des bloßen Aufenthaltes des Klägers in Deutschland. Das illegale Verbleiben im Ausland stellt zwar einen Verstoß gegen Art. 274 vStGB dar, wonach sich u.a. strafbar macht, wer illegal sonst im Ausland verbleibt (vgl. dazu auch Lagebericht AA v. 14.7. 2008). Es ist aber nicht "beachtlich wahrscheinlich" (vgl. BVerwGE 91, 150), dass gegen zurückkehrende Asylbewerber nur und allein wegen eines Verstoßes gegen Art. 274 VStGB vorgegangen wird (ebenso VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159f).
Damit ist jedoch ein Vorgehen wegen falscher Gesinnung und politischer Haltung noch nicht ausgeschlossen, zumal seit dem Frühjahr 2007 in Vietnam ein "verschärftes Vorgehen" gegen Demokratiebewegungen zu beobachten ist (Lagebericht AA v. 14.7. 2008; vgl. auch Will, APuZ 27/2008, Beilage. z. Parlament, S. 6 ff / S. 10 m.w.N.; ebs. ai-Jahresbericht 2008, 460/461).
4.3 Ob die ernsthafte Möglichkeit einer Bedrohung des Klägers angenommen werden kann, orientiert sich einerseits an der tatsächlich geübten Prozess- und Verwaltungspraxis des vietnamesischen Staates und andererseits in unmittelbarer Anwendung der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG an deren Art. 9 und Art. 10, aber auch an der GFK.
Dabei ist hier insbesondere die Definition der „politischen Überzeugung“ in Art. 10 Abs. 1 e) zu beachten, u.zw. unter Berücksichtigung von Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie (bloße "Zuschreibung" der Überzeugung).
4.4 § 60 Abs. 1 AufenthG ist hier anwendbar, u.zw. auch im Hinblick auf § 28 Abs. 2 AsylVfG: Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie legt nämlich fest, dass Verfolgungsfurcht auf solchen Aktivitäten des Antragstellers beruhen kann, die „seit“ und nach Verlassen des Herkunftslandes unternommen wurden - vor allem in näher dargestellten Sonderfällen. Irgendwelche Einschränkungen enthält diese Bestimmung nicht. Vgl. dazu „Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG“ vom Mai 2005, Art. 5 Abs. 2:
„Auch wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass der Antragsteller bereits im Herkunftsland die Überzeugung oder Ausrichtung vertreten hat, hat der Asylsuchende innerhalb der durch Artikel 2 der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer Menschenrechtsabkommen festgelegten Grenzen ein Recht auf Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit. Diese Freiheiten beinhalten das Recht auf den Wechsel der Religion oder Überzeugungen, der nach der Ausreise stattfinden kann, z. B. aufgrund von Unzufriedenheiten mit Religion oder Politiken des Herkunftslands oder eines gewachsenen Bewusstseins für die Auswirkungen bestimmter Politiken.“
Die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie für Folgeanträge - unbeschadet der GFK - den Mitgliedstaaten zugestandene Regelungskompetenz, eine Anerkennung als Flüchtling in der Regel auszuscheiden, wenn die Verfolgungsgefahr auf „Umständen“ beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat, ist nach dem Sprachgebrauch der Richtlinie (vgl. Art. 4 Abs. 3 c) allein auf persönliche Umstände (familiärer und sozialer Hintergrund) zu beschränken (Ehe, Kinder, Arbeitslosigkeit usw.). Nur für solche Umstände ist den Mitgliedstaaten eine Regelungskompetenz zugestanden. Die in Abs. 2 genannten Aktivitäten sind von den in Abs. 3 genannten „Umständen“ sprachlich wie sachlich zu unterscheiden, wie die Differenzierung in Art. 4 Abs. 3 c und d der Richtlinie deutlich aufzeigt. Mit "Umständen", auf denen eine Verfolgungsgefahr beruhen kann (Art. 5 Abs. 3 Richtlinie), sind nur die in Art. 4 Abs. 3 c) genannten Umstände gemeint, nicht aber die in Art. 4 Abs. 3 d) aufgeführten Aktivitäten. Denn der Gegensatz zwischen "Aktivitäten" iSv Art. 5 Abs. 2 einerseits und "Umständen" iSv Art. 5 Abs. 3 andererseits wird - systematisch innerhalb des Kapitels II - in Art. 4 Abs. 3 c) und d) Richtlinie deutlich widergespiegelt.
Dem widerspricht es nicht, wenn in Art. 11 Abs. 1 e) und f) Richtlinie ebenfalls von "Umständen" die Rede ist. Denn Art. 5 Abs. 3 steht in sachlich unmittelbarem Zusammenhang zu dem vorangehenden Absatz 2 und damit - als Gegensatz - zu jenen Aktivitäten, die - anders als die in Art. 5 Abs. 3 geregelten "Umstände" - uneingeschränkt "Nachfluchtgründe" iSv Art. 5 Richtlinie sein können. Hätte der Verfasser der Richtlinie - in Abkehr von seinem differenzierenden Sprachgebrauch in Art. 4 Abs. 3 c) und d) - auch die von ihm im Absatz 2 noch gen. Aktivitäten in Art. 5 Abs. 3 (einschränkend) miterfassen wollen, so hätte er die Aktivitäten nicht im Absatz zuvor noch als mögliche Nachfluchtgründe ausdrücklich anerkannt, jedenfalls aber zumindest in Abs. 3 einbezogen und miterwähnt. Da er das nicht getan hat, sind "Aktivitäten" uneingeschränkt als Nachfluchtgründe iSv Art. 5 Richtlinie anzuerkennen. Zudem sind Beschränkungen, wie sie Art. 5 Abs. 3 enthält, nicht etwa ausdehnend, sondern methodisch eng auszulegen.
Zu den „Aktivitäten“ ist somit umfassend eine individuelle Bewertung dahingehend vorzunehmen, ob ihretwegen im Falle einer Rückkehr Verfolgung (iSv Art. 9, etwa Abs. 2 b oder d der Richtlinie) stattfindet. Diese Bewertung unterliegt nach dem Sprachgebrauch der Richtlinie keinerlei Beschränkungen - etwa solcher Art, wie sie § 28 Abs. 2 AsylVfG enthält (zeitlicher Regelausschluss des in § 60 Abs. 1 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots).
Exilpolitische Aktivitäten iSv Art. 4 Abs. 3 d Richtlinie gehören damit nicht zu den (persön-lichen) „Umständen“ im Sinne des Art. 5 Abs. 3, die von nationalstaatlichen Einschränkungen der Mitgliedstaaten erfasst würden. Sie sind von diesen abzuschichten. Sie werden nicht von der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten erfasst. Soweit § 28 Abs. 2 AsylVfG dennoch solche exilpolitischen Aktivitäten unter dem Gesichtspunkt selbst geschaffener Nachfluchtgründe (iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG) zu erfassen sucht und sie - falls sie zeitlich nach Verlassen des Herkunftslandes und nach Rücknahme oder Ablehnung des Erstantrages entstanden sind (§ 28 Abs. 1 a AsylVfG idF d. EURLAsylUmsG v. 19.8.2007) - vom Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der GFK regelmäßig ausschließen will, ist diese Bestimmung hier wegen Widerspruchs zur rechtlich leitenden und maßgeblichen Qualifikationsrichtlinie unbeachtlich und unanwendbar. Die unmittelbar anwendbare Richtlinie geht dem deutschen Recht vor.
Im Übrigen aber ist, wollte man auch noch "Aktivitäten" in einen Ausschluss einbeziehen, nicht etwa ein beweisrechtlicher Schematismus gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG anzuwenden, der die GFK ausschlösse und nicht mehr zur Geltung kommen ließe, sondern es ist gemäß Art. 4 Abs. 3 der rechtsverbindlichen Qualifikationsrichtlinie eine individuelle Einzelfallbetrachtung vorzunehmen. Hieran hat es die Beklagte eindeutig fehlen lassen. Vgl. dazu Marx, aaO., Nr. 122:
"Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie enthält damit eine besondere verfahrensrechtliche Vorkehrung gegen Missbrauchsfälle und lässt auch wohl einen gewissen beweisrechtlichen Schematismus erkennen. Dieser ist indes mit der GFK unvereinbar. Die Richtlinie gewährt den Mitgliedstaaten Befugnisse nur „unbeschadet der GFK“. Sie dürfen damit die Konvention nicht durch die Art und Weise der Behandlung von Nachfluchtgründen verletzen. In diesem Zusammenhang auftretende Probleme können nicht in der abstrakten Weise wie mit der schematisierenden Regelung des Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie gelöst werden. Vielmehr sind sämtliche Umstände des Einzelfalles in den Blick zu nehmen einschließlich der Beziehung zwischen der befürchteten Verfolgung und dem Risiko ihrer Verwirklichung."
Das Bundesverwaltungsgericht hat die aufgeworfene Frage bislang nicht entschieden. Vgl Beschl. BVerwG v. 23.4.2008 - 10 B 106/07 - :
"Auch die Frage nach der Vereinbarkeit des § 28 Abs. 2 AsylVfG (i.d.F. des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl I S. 1950) mit Art. 5 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie betrifft ausgelaufenes Recht."
Soweit das Nds. Oberverwaltungsgericht § 28 Abs. 2 AsylVfG aufgrund des vor der unmittelbaren Geltung der Qualifikationsrichtlinie basierenden Rechtszustandes noch uneingeschränkt im Sinne einer "Verfolgung" und Fortführung einer festen Überzeugung aus dem Heimatland für anwendbar gehalten hat (vgl. Urteil v. 16.6.2006 - 9 LB 104/06 -), ist diese Auffassung inzwischen durch Gesetzesänderung überholt, § 28 Abs. 1 a AsylVfG idF des EURLAsylUmsG v. 19.8.2007. Die in neueren Urteilen des Senats (vom 7.7. 2008 - z.B. 9 LB 160/06 -) noch erfolgte Bestätigung der Auffassung, es komme auch bei § 60 Abs. 1 AufenthG auf eine "Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht" an, von der nur dann eine Ausnahme gemacht werden könne, wenn sich die Nachfluchtaktivitäten
"als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthaltes im Heimatland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellen oder wenn der Ausländer sich aufgrund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung hat bilden können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22.6.1988 - 9 B 65.88 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 89, Urt. v. 25.10.1988 - 9 C 76.87 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 96 u. v. 2.8.1990 - 9 C 22.89 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 131; OVG Münster, Urt. v. 12.7.2005 - 8 A 780/04.A - ZAR 2005, 422)"
- so Urt. Nds. OVG v. 7.7.2008 - 9 LB 160/06 - ,
geht daran vorbei, dass § 28 Abs. 1 a AsylVfG inzwischen die behauptete Kausalität "zwischen Verfolgung und Flucht" aufgelöst und für eine Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG auch gerade solche Ereignisse gelten lässt, die zeitlich nach dem Verlassen des Herkunftslandes vom Bewerber um die Flüchtlingseigenschaft selbst geschaffen wurden.
Im Übrigen kann der dargelegten Auffassung des Senats auch deshalb nicht gefolgt werden, weil sie - ohne Befassung mit der gen. Richtlinie und ohne Berücksichtigung der GFK - nicht die (prognostische) Betroffenheit und die "Bedrohung" iSv § 60 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung der Verschärfung der tatsächlichen Verhältnisse in Vietnam in den Blick nimmt (vgl. z.B. Lagebericht AA v. 14.7. 2008, S. 7, vorletzter Absatz), sondern nach wie vor (vgl. die Senatsrechtsprechung seit 1998, so Beschl. v. 28.7.1998 - 9 L 3364/98 -) einen nicht näher umrissenen "Bekanntheitsgrad" des Oppositionellen fordert.
Bereits im Urteil der Kammer vom 16.8. 2006 - 1 A 406/03 - ist dargelegt worden, dass dieser Rechtsprechung nicht gefolgt werden kann (zustimmend Damson-Asadollah in InfAuslR 2006, 426; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Asylmagazin 11/2007, S. 23), zumal auch im jüngsten Lagebericht des AA v. 14.7.2008 dargelegt wird, dass gerade oppositionellen Rückkehrern ohne jenen "Bekanntheitsgrad" ernsthaft eine Bestrafung wegen Propaganda gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung nach dem Strafgesetzbuch drohen kann. Der "Bekanntheitsgrad" führt danach - je nach Ausmaß - ggf. zu einer Einreiseverweigerung (mit dem damit verbundenen Entzug auf Heimat), aber bei weniger bekannten Asylbewerbern eben gerade zur Möglichkeit von Schikanen aller Art bis hin zu Bestrafungen. Es trifft somit nach den vorliegenden Informationen aus Vietnam nicht zu, dass die vietnamesischen Behörden erst ab einer Tätigkeitsschwelle oder einem Bekanntheitsgrad des Betroffenen aktiv werden und etwa nicht auf die politische Gesinnung und Einstellung abheben (Will, APuZ 27/2008, Beilage. z. Parlament, S. 6 ff / S. 10 m.w.N.). Human Rights Watch bezeichnet die Repressionswelle, die im Frühjahr 2007 ohne Rücksicht auf irgendwelche Bekanntheitsgrade einsetzte, denn auch als eine der "schlimmsten in den vergangenen zwei Jahrzehnten" (vgl. Int. Herald Tribune v. 15.5.2007).
4.5 Eine begründete Furcht vor Bedrohung hat der Kläger für den Fall seiner Abschiebung oder sonstigen Rückführung nach Vietnam hier in einer Weise geltend gemacht, dass sie beachtlich wahrscheinlich ist.
4.5.1 Als „Verfolgungs“- bzw. Bedrohungshandlungen im Sinne von Art. 9 Qualifikationsrichtlinie, die eine nachvollziehbar begründete Bedrohungsfurcht erzeugen können, so dass der Kläger verständlicherweise „wegen dieser Furcht“ den Schutz des vietnamesischen Staates nicht in Anspruch nehmen will (Art. 2 c der Qualifikationsrichtlinie), kommen hier nachfolgende Gesichtspunkte in Betracht:
Der Kläger ist inzwischen christlichen Glaubens (vgl. Niederschrift v. 20.12.2008), da er sich in Koblenz von Pastor Dau aus Hannover hat taufen lassen. Wenngleich dieser Gesichtspunkt im Erstverfahren noch nicht vorhanden und erst danach neu „entstanden“ ist, kann die Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG darauf nicht ohne Weiteres angewendet werden. Zwar mag es sich um einen persönlichen "Umstand" iSv Art. 4 Abs. 3 c der Richtlinie handeln, so dass Art. 5 Abs. 3 Richtlinie iVm § 28 Abs. 2 AsylVfG unmittelbar zur Anwendung kommt, aber in Anwendung der GFK und der Qualifikationsrichtlinie ist aufgrund einer individuellen Prüfung (Art. 4 Abs. 3 RL) eine Bewertung dahingehend vorzunehmen, ob von der bloßen "Regel" des § 28 Abs. 2 AsylVfG im vorliegenden Fall eine Ausnahme zu machen ist. Das ist der Fall. Denn es ist nicht erkennbar, dass der Kläger aus lediglich asyltaktischen Gründen zum christlichen Glauben übergewechselt ist. In seiner Gemeinde hat er in einem christlichen Umfeld gelebt und man hat ihm geholfen, als er "einsam und allein war" (Protokoll v. 10.12.2008). Ihm ist geholfen worden, "Halt zu finden". Unter solchen Umständen kann von einer echten Überzeugungsbildung beim Übertritt zum christlichen Glauben ausgegangen werden. Damit liegt die erforderliche Ausnahme, die unter Geltung der GFK ohnehin weit auszulegen ist, nach § 28 Abs. 2 AsylVfG vor.
Verfolgungsmaßnahmen könnten dem Kläger somit deshalb drohen, weil er sich zum christlichen Glauben bekennt. Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden die Tendenzen religiöser Orientierung nämlich „als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen“ (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6). Die Religionsausübung wird „von den Behörden weiterhin streng überwacht“ (so ai-Jahresbericht 2006, S. 497).
Die Bedrohungslage ergibt sich dabei u.a. aus Strafvorschriften, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften stark beschränken (Art. 81 c vietn StGB - Verbreitung von Zwietracht - und Art. 199 vietn-StGB - Betreiben abergläubischer Praktiken -). Sämtliche kirchlichen Aktivitäten unterliegen einer Registrierungspflicht und bedürfen einer gesonderten Genehmigung (AA an VG Darmstadt v. 18.2.2002). Im November 2004 ist ein „Religionserlass“ in Kraft getreten, der als „Festschreibung der staatlichen Kontrolle über alle Aspekte des religiösen Lebens“ kritisiert wird (ai-Jahresbericht 2005, S. 358). ).
Alle bedeutenden Persönlichkeiten der buddhistischen, evangelischen und der katholischen Religionsgemeinschaften sowie der Hoa-Hao-Religion in Vietnam sind - ohne Gerichtsverfahren - inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt worden. Versammlungen von Religionsgemeinschaften sind von der Volkspolizei und der Armee „brutal aufgelöst“ worden. Aus Protest gegen die religiöse Unterdrückung haben Selbstverbrennungen stattgefunden.
„Besonders rigide war das Vorgehen der Behörden gegen Gläubige der verbotenen Vereinigten Buddhistischen Kirche Vietnams (VBKV), deren führende Vertreter nach wie vor unter Hausarrest standen“ - so ai-Jahresbericht 2005, S. 358.
Nach Pressemitteilungen werden Gläubige in Vietnam misshandelt, schikaniert und sogar gefoltert (vgl. dazu Radio Vatikan v. 21.9. 2005: „Abschwören oder fliehen“; Kath.net v. 27.10.2005: „Christen nach geheimen Anweisungen der KP verfolgt“; Jesus.ch v. 7.10.2005: „Grenzschutzsoldaten misshandeln Christen“). Der Tod eines inhaftierten Christen nach Folter (vgl. „Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ v. 10.12. 1984 /BGBl. 1990 II, S. 247 und Art. 3 EMRK; Bericht der US-Menschenrechtsorganisation ICC, Radio Vatikan v. 13.5.2006) ist weiterer Beleg für die verschärfte Vorgehensweise der Polizei und der Behörden in Vietnam. In einer Meldung des „Radio Vatikan“, asianews, v. 21.9.2005 heißt es:
„Behörden in der Provinz Yuang Nai haben die Häuser von vier christlichen Familien zerstört, weil diese sich weigerten, ihrem Glauben abzuschwören. Das meldet die Nachrichtenagentur asianews. Nach ihren Angaben ist in Vietnam weiter eine richtiggehende Christenverfolgung in Gang.“
Der prominente Menschenrechtler und Priester Nguyen Van Ly ist wegen Veröffentlichung „gefährlicher Schriften“ und sonstiger Aktivitäten von einem Gericht in Hue zu einer 8-jährigen Haftstrafe verurteilt worden (domradio v. 8.1.2008).
Nach Pressemeldungen sind jüngst zwei christliche Rechtsanwälte nicht nur wegen sog. „Propaganda gegen den sozialistischen Staat Vietnam“ übermäßig hart bestraft (zu 3 bzw. 4 Jahren Haft mit anschließendem Hausarrest gleicher Dauer), vgl. idea.de v. 29.11.2007, sondern auch in ländliche Provinzlager verlegt worden, so dass der Kontakt zu ihnen für ihre Familien wie für internationale Beobachter stark erschwert ist (kath.net v. 9.1.2008).
Neuere Nachrichten belegen das harte Vorgehen des vietnamesischen Staates gegen Christen: Vgl. dazu IGFM v. 22.9.2008 "Mahnwache von Katholiken in Hanoi brutal aufgelöst", Jesus.ch v. 25.9.2008 "Mutige Christen unter dem Knüppel", Aufforderung des EU-Parlaments an Vietnam, die Religionsfreiheit zu achten / Radio Vatikan v. 22.10.2008, Prozess und Bewährungsstrafen für Katholiken, Radio Vatikan v. 8. und 9.12.2008.
Zudem gehört der Kläger seit ca. 8 Jahren dem von ihm genannten Verein in Hamburg an, der sich für Menschenrechte sowie Freiheit und Gleichberechtigung einsetzt. Diese Betätigung ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 4 Abs. 3 d - Aktivitäten - nicht von § 28 Abs. 2 AsylVfG berührt und daher bei der gebotenen individuellen Prüfung in vollem Umfang zu berücksichtigen.
Es existieren zahlreiche politische Strafvorschriften Vietnams (vgl. dazu Thür. OVG, Urt. v. 6. 3. 2002, NVwZ 2003, Beilage Nr.I 3, 19 = EzAR 212 Nr. 13), welche im Wesentlichen dem Zweck dienten und dienen, die politische Herrschaft des kommunistischen Systems in Vietnam abzusichern. Zugleich ist eine verschärfte Praxis vietnamesischer Behörden bei der Handhabung dieser politischen Vorschriften zu beobachten (Will, aaO.; VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159). Dem vietnamesischen Staat geht es bei der Absicherung seiner politischen Herrschaft um eine möglichst umfassende Gesinnungskontrolle. Vgl. VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159:
„Die Strafen dienen im Wesentlichen dem Zweck, die politische Herrschaft des kommunistischen Systems in Vietnam zu sichern. Bei Art. 87 und 88VStGB handelt es sich um Vorschriften, die ausschließlich die Äußerung von Auffassungen unter Strafe stellt, die von der Staatsdoktrin abweichen.“
Da rechtsstaatliche Strukturen in Vietnam nicht bestehen, der entsprd. Aufbau "in den Kinderschuhen" steckt (Lagebericht AA v. 14.7.2008, 4), kann die Verfolgung auf vielfältigste Weise durchgeführt werden, besteht eine latente Bedrohung für vietnamesische Staatsangehörige, die sich im Ausland exilpolitisch und aus der Sicht des vietn. Staates oppositionell betätigt haben. In der in Hanoi erscheinenden Zeitung Anh Ninh (Polizeizeitung von Hanoi) v. 23. März 2005, S. 6, heißt es dementsprechend:
„Der vietnamesische Innenminister Le Hong Anh und der chinesische Innenminister haben sich in Hanoi getroffen und eine gemeinsame Zusammenarbeit gegen die im Ausland tätigen Vereine (die als „Spione“ zu bezeichnen sind) verabredet.“
Hierbei ist davon auszugehen, dass dem vietnamesischen Geheimdienst die exilpolitischen Betätigungen der Auslandsvietnamesen in der Regel bekannt sind:
„Angesichts der sehr intensiven Überwachung der exilpolitischen Organisationen und ihrer Publikationen durch die vietnamesische Regierung bzw. deren Auslandsvertretungen ist davon auszugehen…“ (so Dr. G. Will, Stellungn. V. 14.09.2000 an Bay. VG München).
Die in Deutschland in letzter Zeit üblichen „Befragungen“ bzw. „scharfen Verhöre“ (z.B. in Mühlheim a.M., vgl. dazu FR v. 2.8.2005) oder in Langenhagen/Hannover belegen solche Überwachung exilpolitischer Organisationen durch vietnamesische Bedienstete und deren Versuche, die hier tätigen Vereine datentechnisch zu erfassen. Ein Kläger hat dazu in der mündlichen Verhandlung am 29.11.2006 ausgeführt (S. 2 d. Sitzungsprotokolls):
„Es war so, dass ich im September 2003 der K 18-Abteilung einer besonderen vietnamesischen Polizeiabteilung zugeführt wurde und mich dort dann mit einer Beamtin gestritten habe, die behauptete, in Vietnam gäbe es politische Freiheiten. Ich habe das vehement abgestritten. Die Beamtin machte daraufhin dann ein Kreuz in ihrer Liste, wohl als Zeichen dafür, dass ich nun auf eine „Schwarze Liste“ kommen müsse. Ich habe das als Zeichen dafür gesehen, dass ich bei einer Rückkehr nach Vietnam mit großer Wahrscheinlichkeit in das Gefängnis gesteckt würde. Daraufhin hat die Beamtin mir dann auch noch angedroht: „Ich würde schon noch erfahren, wie das Regime in Vietnam sei“.
Weiterhin stellt sich die Lage in Vietnam heute - gegenüber dem schon im Jahre 2000 abgeschlossenen Erstverfahren - so dar, dass sich die Verhältnisse dort in der Zwischenzeit sehr deutlich verschärft haben (Lagebericht AA v. 14.7.2008; ai-Lagebericht 2008, S. 461; Will, aaO m.w.N.). Diesbezüglich kann auf die bisherige Rechtsprechung der Kammer Bezug genommen werden (vgl. u.a. Urteile v. 29.1.2008 - 1 A 227/04 und v. 10.1.2007 - 1 A 164/04 -), wobei folgendes betont sei:
Es reicht methodisch nicht aus, für eine Gesamtschau lediglich die Lageberichte des Auswärtigen Amtes in den Blick zu nehmen. Denn „Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ)“, „Deutschland ist einer der größten bilateralen Geber Vietnams“ (so die Darstellung des Auswärt. Amtes zu den deutsch-vietnamesischen Beziehungen / Stand: Juli 2005). Hiervon abgesehen wertet z.B. der Lagebericht des AA vom 14.7.2008 nach eigener Darstellung von 6 herangezogenen Dokumentationen 4 aus dem Jahre 2006 aus und nur einen aus dem Jahre 2008: Weder der ai-Jahresbericht 2008 (Länderkapitel Vietnam, S. 460) noch der ai-Jahresbericht 2007 (Vietnam S. 480) werden verwertet. Vielmehr wird anstelle der aktuellen Berichte nur der des Jahres 2006 einbezogen. Der Menschenrechtsreport 38 der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ - GfbV - v. 28. April 2005 wird ebenso wenig erwähnt oder verwertet wie der IGFM-Jahresbericht. Damit ist die Aussagekraft der Lageberichte eingeschränkt.
Somit müssen auch andere Erkenntnisse in eine richterlich ausgewogene Bewertung einbezogen werden.
Selbst nach den aktuellen Lageberichten des AA (v. 3.5.2007 und v. 14.7.2008) ist es aber so, dass regierungskritische Aktivitäten nicht nur mit „größter Aufmerksamkeit“, sondern ggf. sogar mit polizeilich-justiziellen Maßnahmen „ verfolgt “, öffentliche Kritik an Partei und Regierung und die Wahrnehmung von Grundrechten nicht toleriert werden. Menschenrechte werden „weiterhin nicht gewährt bzw. stark eingeschränkt“. Gegen mehrere Oppositionsgruppen ging die Regierung „mit gewisser Härte“ vor, wobei die „staatliche Repression“ regional und lokal unterschiedlich war. Persönlichkeiten, die sich für umfassende Meinungsfreiheit einsetzen, werden weiterhin mit Zensur sowie polizeilichen und strafrechtlichen Sanktionen belegt. Seit Anfang Februar 2007 sind Dutzende Oppositionelle von den staatlichen Medien mit Denunzierungskampagnen überzogen, verhaftet und in Schauprozessen zu Gefängnisstrafen von bis zu acht Jahren verurteilt worden (Straftatbestände "Propaganda gegen die Sozialistische Republik Vietnam", "Störung der öffentlichen Ordnung" und "Missbrauch der demokratischen Freiheiten, der die Staatsinteressen verletzt").
Die Ausweichmöglichkeiten für Betroffene sind gering, weil es administrative Niederlassungsbeschränkungen gibt (Umschreibung des Familienbuches auf einen neuen Wohnort nicht ohne weiteres möglich, so dass die Ausübung von zivilen Rechten - Heirat, Autokauf, Hauskauf, Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen usw. - unterbunden wird). Bei politischen Straftätern gibt es Fälle „jahrelanger Isolationshaft“ mit Limitation von Besuchen und Zensur der Post. Vietnam zählt weltweit zu den Ländern mit den gravierendsten Beschränkungen der Pressefreiheit (Platz 155 von 167). Dissidenten sind fortlaufenden Repressionen ausgesetzt: Telefon- und Mailüberwachung, Hausarrest, Aufnahme in eine schwarze Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird usw. usw.
Aktive Gegner des Sozialismus bzw. solche, die dafür nur gehalten werden (Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie), können nach den weit gefassten Vorschriften jederzeit nach Belieben der vietnamesischen Polizeibehörden inhaftiert und bestraft werden. Amnestien des Jahres 2005 (vgl. dazu die Pressemitteilung des AA v. 8.9. 2005) verweisen insoweit „nicht auf einen grundsätzlichen Wandel“ (ebenso Lagebericht AA v. 28.8. 2005). „Hart durchgegriffen“ wird bei Internet-Dissidenten sowie religiösen Organisationen (S. 358 des 7. Berichts der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen v. 15.6.2005). Es gibt Hinweise darauf, „dass die Regierung die Schraube weiter anzieht“ (so der Lagebericht v. 31.3. 2006).
Im Zentralen Hochland Vietnams kam es zu massiven Verfolgungsmaßnahmen (vgl. dazu Urteil des VG Schleswig-Holstein v. 15.11. 2006 - 9 A 282/06 - ). Vgl. dazu auch Menschenrechte Nr. 2 / 2005, S. 12:
„Seit Ende 2003 wurde die Verfolgung nochmals intensiviert - insbesondere um die Zeit der christlichen Feierlichkeiten wie Ostern oder Weihnachten. Armee und Polizei durchsuchten regelmäßig Häuser, Felder und Wälder, um versteckte "Tin Lanh Dega" zu verhaften. Aktivisten wurden unter Hausarrest gestellt, in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Mehrmalige Hausdurchsuchungen, regelmäßige Verhöre, willkürliche Verhaftungen und die zahlreiche Präsenz von Spezialeinheiten erzeugten in den Dörfern eine Atmosphäre der Angst und des Terrors.“
Berichte zu Einschüchterungen, gravierenden Gewaltanwendungen und auch Verurteilungen „gegen einzelne Rückkehrer“ im Zentralen Hochland Vietnams, die nach Kambodscha geflohen waren, untermauern das. Nach einem Bericht von Human Rights Watch (2006) soll es gegenüber sonstigen Rückkehrern „andauernde Misshandlungen und Drangsalierungen“ gegeben haben, was zu einer Erkundungsreise des EU-Troika-Botschafters im Oktober 2006 geführt hat. In einer „Absichtserklärung“, die vom UNHCR, Kambodscha und Vietnam im Januar 2005 unterzeichnet wurde, sagte das vietnamesische Regime zwar den aus Kambodscha zurückkehrenden Montagnards Straffreiheit wegen „illegaler Ausreise“ zu, nicht aber auch wegen ihrer „politischen oder religiösen Überzeugungen“ (ai-Jahresbericht 2006, S. 497). Das belegt die praktizierte Gesinnungskontrolle.
Die Verschärfung der Lage in Vietnam zeigt sich u.a. auch daran, dass im März 2005 ein Erlass über die „öffentliche Ordnung“ unterzeichnet wurde, der „drastische Auflagen für die Durchführung öffentlicher Versammlungen“ enthält (ai-Jahresbericht 2006, S. 496). Weiterhin zeigt sie sich daran, dass sämtliche Dokumente, die im Zusammenhang mit Verfahren gegen Personen stehen, denen Verstöße gegen die sog. „nationale Sicherheit Vietnams“ zur Last gelegt werden, seit 2004 als „ Staatsgeheimnisse “ eingestuft werden (S. 358 des 7. Berichts der Bundesregierung v. 15.6.2005). Im Jahre 2007 wurden zahlreiche Todesurteile gefällt und hiervon 83 vollstreckt, darunter 14 Frauen - wobei die tatsächliche Zahl höher liegen dürfte (so 7. Bericht der Bundesregierung, S. 358; ai-Jahresbericht 2008, 462). Berichte dazu gelten als „Staatsgeheimnis“ (ai-Jahresbericht 2008, S. 460).
Die im November 2006 vollzogene Einweisung einer Rechtsanwältin in eine Klinik ist Beleg für die Sanktionspraxis des vietnamesischen Staates Vgl. dazu die „urgent-action“ von amnesty-international Nr. 316/ 2006:
„Bui Thi Kim Thanh ist als Anwältin für die „Demokratische Partei Vietnams” (DPV-XXI) tätig und hat außerdem Familien mit niedrigem Einkommen in ihrem Viertel vertreten, deren Eigentum von den Behörden konfisziert worden ist und die deswegen eine angemessene Entschädigung fordern. Die DPV-XXI ist eine behördlich nicht genehmigte Organisation, die von dem prominenten Dissidenten Hoang Minh Chinh im Juni 2006 gegründet worden ist und für ein demokratisches Mehrparteiensystem sowie die Wahrung der Menschenrechte eintritt.
Die Polizei nahm Frau Bui Thi Kim Thanh in den frühen Morgenstunden des 2. Novembers 2006 in ihrer Wohnung in Ho-Chi-Minh-Stadt (ehemals Saigon) fest. Man brachte sie in eine nahegelegene Klinik, aber der Versuch, sie dort einweisen zu lassen. schlug fehl, da die Psychiater des Krankenhauses nach einer Untersuchung zu dem Schluss kamen, dass die Frau an keiner psychischen Erkrankung leide. Daraufhin brachten die Polizisten die Anwältin in das psychiatrische Krankenhaus „Bien Hoa“, wo sie gegen ihren Willen eingewiesen wurde. Sie ist dort in einem Zimmer im Trakt 4 der Klinik eingesperrt. Wie es heißt, ist sie aufgrund der ihr verabreichten Injektionen offenbar derzeit nicht mehr in der Lage zu sprechen.“
Als weitere Verfolgungs- bzw. Bedrohungsmaßnahmen in Vietnam sind die sog. „administrativen Haftstrafen“ auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) zu nennen, die allerdings im März 2007 aufgehoben und ihrerseits durch eine Verordnung Nr. 44 ersetzt worden ist. Danach haben die Verwaltungsorgane die Möglichkeit, missliebige Personen ohne Gerichtsverfahren qua Verwaltungsentscheidung bis zu 2 Jahre unter Hausarrest zu stellen oder in eine psychiatrische Klinik / in Erziehungsheime einzuweisen (Lagebericht AA v. 14.7.2008). Auch das ist in Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 29.1.2008 - 1 A 227/04 -; v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).
Auch die in Vietnam verbreitete Unberechenbarkeit behördlichen Vorgehens ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 9 Abs. 2 b der Qualifikationsrichtlinie hinreichender Anlass, die vom Kläger angesichts seiner exilpolitischen Betätigung vorgetragene Furcht zu belegen. Denn eine verlässliche Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden ist nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. „An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert“ (Lagebericht v. 28.8. 2005). Die Reform wird in der Realität sogar nur selten beachtet. Demgemäß hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Nov. 2005 - 2 BvR 1090/05 - den Vortrag der vietnamesischen Beschwerdeführerin zu einem gravierenden Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Vietnam auch als entscheidungserheblich bewertet.
Die potenzielle Bedrohung des Klägers zielt somit genügend gravierend auf Art. 5 EMRK (Freiheit und Sicherheit), auf Art. 6 (faires Verfahren), auf Art. 7 (keine Strafe ohne Gesetz / vgl. dazu die Administrativhaft in Vietnam), auf Art. 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit: Einschränkungen nur auf gesetzlicher Basis und soweit in einer demokratischen Gesellschaft notwendig), Art. 10 (Freiheit der Meinungsäußerung), auf Art. 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), auf Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot, hier wg. politischer oder sonstiger Anschauun-gen), die allesamt grundlegende Menschenrechte iSv Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie darstellen - wobei Art. 7 EMRK sogar ein Recht darstellt, von dem nicht abgewichen werden darf (Art. 15 Abs. 2 EMRK). Die genannten Ausgrenzungs- und lebensbedrohenden Verfolgungshandlungen erreichen in ihrer Kumulation (Art. 9 Abs. 1 b Qualifikationsrichtlinie) einen Schweregrad, der ohne Frage in „ähnlicher“ Weise (Art. 9 Abs. 1 b Richtlinie) zu einer Bedrohung bzw. Betroffenheit des Klägers führt wie die angesprochenen Menschenrechtsverletzungen.
4.5.2 Bei solchen potentiellen Verfolgungsmaßnahmen und -handlungen kommen folgende Verfolgungs- bzw. Bedrohungsgründe (§ 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 10 Richtlinie) zu Gunsten des Klägers in den Blick, die hier vorgetragen worden sind:
Der Verfolgungsgrund des Art. 10 Abs. 1 b) Richtlinie jedoch kommt hier zu Gunsten des gläubigen Klägers auch unter dem Aspekt einer Teilnahme an religiösen (christlichen) Riten im „öffentlichen Bereich“ in Betracht: Die aufgezeigten Verfolgungsmaßnahmen gegen Gläubige in Vietnam richten sich gerade gegen Glaubensbekundungen in der Gesellschaft und in öffentlich wahrnehmbaren Bereichen. Die Religionsausübung wird in Vietnam extrem streng überwacht und letztlich unterdrückt (ai-Jahresbericht 2006, S. 497). „Hart durchgegriffen“ wird bei religiösen Organisationen, die sich außerhalb des staatlich vorgegebenen Rahmens bewegen (so 7. Bericht der Bundesregierung 2005, aaO., S. 358). Mit den Hinweisen des BMI v. 13.10. 2006 ist deshalb davon auszugehen, dass es auf eine Religionsausübung nur im forum internum heute - unter der Geltung der jetzt maßgeblichen Qualifikationsrichtlinie - gerade nicht mehr ankommt (S. 9 der Hinweise). Vielmehr ist Religionsfreiheit im Lichte der Qualifikationsrichtlinie neu zu definieren (VG Düsseldorf, Asylmagazin 10/2006, S. 23 m.w.N.).
Angesichts der hier anzunehmenden Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen schon hinsichtlich der politischen Überzeugung des Klägers (Art. 9 Abs. 1 b Richtlinie) bedarf es keiner weiteren Ausführungen dazu, ob es beim Verfolgungsgrund der Religion in Vietnam um Beeinträchtigungen „des unabdingbaren Kernbereichs“ (vgl. BMI-Hinweise, S. 9) religiöser Überzeugung des Klägers geht. Solche Beeinträchtigungen des Kernbereichs sind bei Kumulierungen nicht erforderlich, da diese bei einer Gesamtschau zusammen mit anderen Maßnahmen bereits eine „ähnliche Betroffenheit“ iSv Art. 9 Abs. 1 b Richtlinie erzeugen.
Gem. Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie ist nicht nur eine missliebige Überzeugung in politischen Fragen als Grund für Verfolgungsmaßnahmen und für eine hieraus resultierende Bedrohung in Betracht zu ziehen, sondern auch eine bloße „Meinung“ oder auch nur „Grundhaltung“, die in Bezug gesetzt ist zu „Angelegenheiten“, welche die in Art. 6 Richtlinie genannten „potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren“ betreffen.
Hiernach kommt für den vietnamesischen Staat, der von der kommunistischen Partei doktrinär beherrscht wird (vgl. Art. 6 b der Richtlinie), schon eine Grundhaltung des Klägers als Bedrohungsgrund in Betracht, die den Vorgehensweisen, Verfahren oder Maßnahmen der herrschenden kommunistischen Partei kritisch gegenüber steht bzw. die vom Kläger diesbezüglich nur „vertreten“ wird - wobei es ganz ausdrücklich völlig „unerheblich“ ist, ob er im Sinne seiner Meinung auch noch „tätig“ geworden ist (Art. 10 Abs. 1 e) und etwa demonstriert hat.
Der Kläger hat ganz offenkundig „eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung“, welche die in Art. 6 der Richtlinie genannten „potenziellen Verfolger“ - hier den Staat bzw. die kommunistische Partei Vietnams mit ihren Gliederungen - betrifft: Er hat sich als langjähriges Mitglied des Vereins, für den er tätig ist, eine feste Meinung über das vietnamesische Regierungssystem gebildet. Er war mit vielen Dingen in Vietnam "sehr unzufrieden" und hat sich deshalb politischen Themen zugewandt, so wie das in den eingereichten Unterlagen zum Ausdruck kommt. Er hat demgemäß gegen das vietnamesische System demonstriert (vgl. Bl. 20 ff. GA) und sich für Freiheitsrechte eingesetzt, die in Vietnam eingeschränkt sind und in die von Staats wegen eingegriffen wird (Lagebericht AA v. 14.7.2008, S. 8/9). Der Kläger erwartet daher, was nachvollziehbar ist, bei seiner Rückkehr nach Vietnam sofort inhaftiert zu werden, im Gefängnis zu landen (S. 3 d. Protokolls v. 10.12. 2008) und entsprechend behandelt zu werden
Für diese (prognostische) Einschätzung spricht, dass er langjähriges Mitglied des von ihm gen. Vereins ist, an entsprd. Demonstrationen und Aktionen teilgenommen hat. Es liegt auf der Hand, dass eine solche, die kommunistische Partei Vietnams ablehnende Haltung zu harten Verfolgungsmaßnahmen führen kann und mit großer, nicht etwa unbeachtlicher Wahrscheinlichkeit führen wird, falls der Kläger nach Vietnam zurückzukehren hätte.
Dem Kläger als einem Staatsbürger Vietnams, der schon seit vielen Jahren in Europa und Deutschland lebt, dürfte der Verfolgungsgrund gem. Art. 10 Abs. 1 e) von der kommunistischen Partei Vietnams bzw. vom vietnamesischen Staat zudem auch unabhängig davon zugeschrieben werden, ob und in welchem Maße er sich tatsächlich exilpolitisch engagiert hat und inwieweit er aktiv gewesen ist (Art. 10 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie).
5. Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer hervorgehobenen Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, steht das im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/ EG, derzufolge es „ unerheblich “ ist, „ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.“ Das Erfordernis einer „Schwelle“ ist mit der unmittelbar geltenden Qualifikationsrichtlinie nicht vereinbar. Auch auf einen "Bekanntheitsgrad" kommt es nicht an. Denn gerade unbekannte Oppositionelle sind nach der Praxis des vietnamesischen Staates im Einzelfall bedroht (Lagebericht AA v. 14.7.08, S. 19). Insoweit verkennt die Beklagte Inhalt, Bedeutung und Tragweite der unmittelbar geltenden Qualifikationsrichtlinie. Eine von der Beklagten geforderte Betätigung - gar in qualifiziertem Maße - ist gerade nicht (mehr) Voraussetzung einer Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG mit seinem Bezug zur GFK und zur Qualifikationsrichtlinie 2004/83/ EG , die gem. § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG uneingeschränkt zu berücksichtigen ist.
Unmaßgeblich für die vorliegende Entscheidung ist, ob die exilpolitischen Betätigungen von Auslandsvietnamesen und deren Kritik am vietnamesischen Regime in Vietnam überhaupt wahrgenommen werden und dort ggf. eine mehr oder weniger „breite Öffentlichkeitswirkung“ entfalten bzw. einen „nennenswerten Einfluss auf die Öffentlichkeit“ haben: Nicht die mehr oder weniger große Wirkung exilpolitischer Betätigung in Vietnam ist maßgeblich, sondern entscheidend sind die Befürchtungen des vietnamesischen Regimes im Falle der Rückkehr von Exilvietnamesen nach Vietnam und die erst auf dieser Grundlage gegen Rückkehrer dann etwa dort - in Vietnam - ergriffenen Maßnahmen. Der Kläger als aktives Mitglied des gen. Vereins jedoch dürfte vietnamesischen Behörden im Falle seiner Rückkehr "suspekt" erscheinen. Das macht die Bedrohung des Klägers aus.
In Vietnam wird ganz offenkundig schon die abweichende Gesinnung Einzelner bekämpft (vgl. die dafür geschaffenen „Umerziehungslager“, die jenen in Nordkorea ähneln - ai-journal 10/2005 S. 32), ohne dass es darauf ankommt, in welchem Maße deren Engagement oder abweichende Gedanken bereits von Deutschland aus in Vietnam irgendeine Breitenwirkung erzielt haben. Es geht nicht nur um einen „Gesichtsverlust“ des vietnamesischen Regimes, sondern - nach zwei Aufständen (Februar-Aufstand 2001 und April-Aufstand 2004) - offensichtlich um die Abwehr freiheitlicher Meinungen und Bestrebungen, die in Vietnam schon von ihrer „Wurzel an“ nachhaltig bekämpft werden. Hier wird dann „hart durchgegriffen“ (so S. 358 des 7. Berichtes der Bundesregierung, aaO.). Öffentliche Kritik an Partei und Regierung wird nicht geduldet (Lagebericht AA v. 14.7.08). Aktive und überzeugte (Gesinnungs-)Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP müssen daher stets mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen und sind ernstlich gefährdet (so schon Lagebericht AA v. 28.8. 2005). Deshalb ist freiheitliches Denken und eine entsprechende Gesinnung für sich bereits „verboten“. Gläubige, die den bloßen Verdacht erweckt haben, im Zusammenhang mit ihrer Religionsausübung oppositionelle Bestrebungen (nur) „zu unterstützen“, werden „inhaftiert bzw. müssen mit ihrer Inhaftierung und Strafverfolgung rechnen“ (so Urteil VG Schwerin v. 27.2.2004 - 1 A 1580/01 As -). Soziales oder gesellschaftliches Engagement ist nicht erlaubt (7. Bericht der Bundesregierung, S. 358).
6. Die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren sind heute - im Jahre 2008 - irrelevant: Der Sachverständige Dr. Will hält daran fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9. 2000, S. 1; ebenso 7. Bericht der Bundesregierung, aaO., S. 358: „Eine öffentliche Diskussion der Machtstrukturen wird nicht geduldet“). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8. 2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass das Rückübernahmeabkommen von 1995 (nebst Briefwechsel) sich „ als Schlag ins Wasser erwiesen “ und die „vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg“ gelegt habe. Diese Auffassungen stimmen mit der SWP-Studie „ Chancen und Risiken deutscher Politik in Vietnam “ (Berlin, März 2002) überein, in der dargelegt ist, dass Vietnam an einer Repatriierung seiner Staatsbürger kein Interesse mehr hatte und die Abkommen trotz Interventionen des damaligen Außenministers Kinkel (absichtlich) hat leer laufen lassen.
Es mag zwar sein, dass eine Bestrafung „wegen ungenehmigter Ausreise“ in Vietnam nicht stattfindet, so wie das den Abkommen der 90er-Jahre zugrunde liegt. Die Abkommen geben aber nichts dafür her, ob speziell wegen (exil-)politischer Betätigungen eben doch Bestrafungen erfolgen (so richtig VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159).
Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände besteht daher das reale Risiko einer Bedrohung des Klägers im Falle seiner künftigen Rückführung nach Vietnam. Er ist folglich als Flüchtling iSd Art. 13 der Qualifikationsrichtlinie - iVm der GFK - anzuerkennen.
7. Eine Entscheidung zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG (vgl. VG Darmstadt, Asylmagazin 6/2006, S. 15) kann im Hinblick auf den zuerkannten Flüchtlingsstatus (§ 60 Abs. 1 AufenthG) unterbleiben (§ 31 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylVfG analog).
Insoweit ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nach Artikel 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie eine interne Schutzmöglichkeit in der Weise vorausgesetzt wird, dass am Zufluchtsort - im Heimatland - keine Gefährdung durch die in Art. 6 genannten Akteure droht und von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Dies setzt allerdings gem. der Hinweise zum RichtlinienumsetzungsG v. 19. Aug. 2007 (BGBl. I, 1970) zu § 60 AufenthG auch voraus, dass der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet,
"d. h. es muss zumindest das Existenzminimum gewährleistet sein. Fehlt es an einer Existenzgrundlage, ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben. Dies gilt auch, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht oder schlechter sind."
Soweit also der Kläger hier - zu Recht - befürchtet, dass er wegen seiner Aktivitäten ggf. ohne jede Arbeitserlaubnis - also ohne Existenzmöglichkeit - im gesamten Gebiet seines Heimatstaates Vietnam zu leben haben wird, dürfte ihm in Anwendung der Qualifikationsrichtlinie § 60 Abs. 7 AufenthG zuzusprechen sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO. Gründe, die Berufung zuzulassen, liegen nicht vor (§ 124 a Abs. 1 iVm § 124 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 VwGO).