Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 21.01.2008, Az.: 1 A 215/05

Flüchtlingsanerkennung gemäß der unmittelbar geltenden Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
21.01.2008
Aktenzeichen
1 A 215/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2008, 45916
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2008:0121.1A215.05.0A

Entscheidungsgründe

1

Die zulässige Klage ist begründet, soweit es dem Kläger um seine Anerkennung als Flüchtling geht (§ 3 AsylVfG iVm Art. 13 der Richtlinie 2004/83/EG, Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12), also um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560).

2

Im Übrigen - wegen einer Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a Abs. 1 GG) - ist die Klage nach Rücknahme kostenpflichtig einzustellen (§§ 92 Abs. 3, 155 Abs. 2 VwGO).

3

1. Die Prüfung im Folge- und Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG hat in Anlehnung an die Richtlinie 2005/85/ EG d. Rates v. 1. Dezember 2005 grundsätzlich in Stufen zu erfolgen (h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217 [VG Lüneburg 06.10.2003 - 1 B 45/03]). In der 1. Stufe ist lediglich substantiiert vorzutragen, was nur dann als unbeachtlich verworfen werden kann, wenn der Vortrag nach jeder Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot zu verhelfen (BVerfG, DVBl. 1994, 38 [BVerfG 11.05.1993 - 2 BvR 2245/92]; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233 [BVerfG 13.03.1993 - 2 BvR 1988/92]). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor, so dass von der Beklagten eine Sachprüfung vorzunehmen war.

4

2. Eine Änderung der Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) ist im Hinblick auf § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der GFK, aber auch hinsichtlich der ab 10. Oktober 2006 verbindlichen Richtlinie 2004/83/ EG des Jahres 2004 gegeben (vgl. Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 4). Daneben rechtfertigen die Belege für eine exilpolitische Betätigung und jene über eine Veränderung der politischen Lage in Vietnam (Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) eine Befassung mit dem Folgeantrag.

5

3. Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG - wie hier - erfüllt, hat das Verwaltungsgericht durchzuentscheiden (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO; vgl. BVerwGE 106, 171[BVerwG 10.02.1998 - 9 C 28.97] = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.).

6

Diese Entscheidung hat sich am derzeit maßgeblichen Rechtszustand, also vor allem an der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EG v. 30.9.2004, L 304/12) mit ihrem Bezug zur GFK zu orientieren, die seit Oktober 2006 die "verbindlich geltende europarechtliche Grundlage des Rechts auf Flüchtlingsanerkennung" ist (Hoffmann, Beilage z. Asylmagazin 5/2007, S. 9/ S. 14).

"Soweit die Richtlinie nicht oder nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt ist, können sich die Betroffenen unmittelbar auf sie berufen (vgl. EuGH vom 19.11.1991, DVBl 1992, 1017). Unbestimmte Rechtsbegriffe in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten sind im Licht der Richtlinie auszulegen. Das gilt sowohl hinsichtlich der relevanten Verfolgungshandlungen als auch im Hinblick auf die zu berücksichtigenden Verfolgungsgründe." - BayVGH, Urt.v. 23.10.2007 - 14. B 06.30315

7

Denn die Europäische Union wollte im Oktober 1999 in Tampere "zu ihren Verpflichtungen aus der GFK uneingeschränkt" stehen (Clodius, Beilage zum Asylmagazin 5/2007, S. 1 Fußn. 4) und ein Mindestmaß an Flüchtlingsschutz festlegen. Die nach 2-jährigen Verhandlungen verabschiedete Richtlinie ist heute in Deutschland unmittelbar geltendes Recht. Sie ist nicht etwa nur zu "berücksichtigen" (VGH Baden-W., Beschl.v. 19.12.2006 - A 3 S 1274/ 06 -), sondern "Leitstern" jeder asyl- und flüchtlingsrechtlichen Bewertung, zumal sie sehr viel konkretere Vorgaben und ausgefächertere Wertungsgesichtspunkte als § 60 AufenthG enthält, so dass sie die zu treffenden Entscheidungen auslegungs- und rechtsmethodisch entsprechend lenkt und leitet.

"Dies folgt aus dem Zweck der Qualifikationsrichtlinie. Gemäß Absatz 1 der Präambel ist Ziel, eine gemeinsame Asylpolitik der in der Europäischen Union verbundenen Mitgliedstaaten zu schaffen. Mittels eines gemeinsamen Asylsystems sollen die einzelstaatlichen Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft einander angenähert werden (Präambel Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG). Wesentliches Ziel der Qualifikationsrichtlinie ist es, ein Mindestmaß an Schutz von Flüchtlingen in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten (Präambel Abs. 6 Richtlinie 2004/83/EG), auch um die Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten, soweit sie auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften beruht, einzudämmen (Präambel Abs. 7 Richtlinie 2004/83/EG). Nach den Absätzen 16 und 17 der Präambel sollen Mindestnormen für die Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft und ihre Merkmale festgelegt werden, um die jeweiligen innerstaatlichen Stellen der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention zu leiten und gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 der Genfer Konvention einzuführen. Die Qualifikationsrichtlinie bestimmt den Umfang des mit dem Flüchtlingsstatus verbundenen Schutzes deshalb unabhängig von der jeweiligen Auslegung der Genfer Konvention in den einzelnen Mitgliedstaaten." - BayVGH, Urt.v. 23.10.2007 - 14 B 06.30315 -

8

Diejenigen Regelungen des AsylVfG und des AufenthG, die der Richtlinie widersprechen oder entgegenstehen, sind wegen des Vorrangs der Richtlinie unangewendet und gerichtlich unbeachtet zu lassen.

9

Soweit § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG n.F. lediglich die "ergänzende Anwendung" der gen. Richtlinie - beschränkt auf bestimmte Artikel - vorsieht, ist jedoch gerichtlich dem unmittelbaren Vorrang der gesamten Richtlinie gebührend Rechnung zu tragen, was vor allem auch für den in Art. 5 der Richtlinie geregelten Bedarf an internationalem Schutz gilt, der aus Nachfluchtgründen entstehen kann.

10

4. Dem Kläger droht im Falle seiner Rückführung nach Vietnam prognostisch für den Zeitpunkt des Jahres 2008 eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung iSd Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK. Er ist schutzbedürftig und daher als Flüchtling anzuerkennen.

11

Der Maßstab für diese Anerkennung ist der humanitären Intention zu entnehmen, die das Flüchtlings- und Asylrecht im Lichte der GFK und der Qualifikationsrichtlinie insgesamt prägt: Es soll demjenigen Aufnahme und Schutz gewährt werden, der sich in einer für ihn - subjektiv - ausweglosen Lage befindet (BVerfGE 80, 315 / 335 [BVerfG 10.07.1989 - 2 BvR 501/86]). Konkretisiert wird diese Intention jetzt durch die GFK und die verbindlichen Wertungsgesichtspunkte der Qualifikationsrichtlinie, so dass eine prognostisch feststellbare Bedrohung im Falle einer Rückkehr nach Vietnam für eine Flüchtlingsanerkennung ausreicht.

12

Hierbei sind vor allem - in Übereinstimmung mit § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG - die Verfolgungsgründe des Art. 10 Richtlinie maßgeblich, deretwegen der Verfolgerstaat die vom Flüchtling befürchteten Verfolgungsmaßnahmen iSv Art. 9 Richtlinie betreibt (vgl. Urt.d. VG Bremen v. 21.1.2008 - 4 K 1327/07.A). Insoweit können sehr umfassend sämtliche Regelungen sowie administrativen und sonstigen Maßnahmen einschließlich der dabei geübten Sanktions- und Polizeipraxis flüchtlingsrelevaten Charakter haben, wenn sie nur eine entsprechende Tendenz aufweisen (BVerwGE 71, 180 f.[BVerwG 16.04.1985 - 9 C 109/84]). Ein enger Katalog der in Betracht zu ziehenden Verfolgungshandlungen bzw. Bedrohungsmaßnahmen ist angesichts der in Vietnam praktizierten Ausgrenzungen, Verfolgungen und Demütigungen (durch Internet-Verbot, Telefon- und Mailüberwachung, Hausarrest, Aufnahme in eine schwarze Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird usw. - vgl. dazu Lagebericht des AA v. 31.3.06) auch sachlich verfehlt, zumal es nicht mehr darauf ankommt, ob Verfolgungshandlungen die Menschenwürde oder Kern- bzw. Randbereiche von Menschenrechten verletzen (Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 5). Erst recht gebietet Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie eine Gesamtbetrachtung und -bewertung einer Vielzahl von Einzelhandlungen, die je für sich noch nicht verfolgungsrelevant sein mögen (vgl Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen), vgl. Urt.d. VG Köln v. 12.10.2007 - 18 K 6334/ 05.A -. Schon die Verletzung der Freiheit des Briefverkehrs, etwa durch ständige Postkontrolle, kann so eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung sein, u.zw. unter dem Gesichtspunkt der Wiederholung, Art. 9 Abs. 1a der Richtlinie (so auch Hollmann, aaO., S. 6; Kalkmann, Asylmagazin 9/2007, S. 5). Vgl. "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG" v. Mai 2005, dort zu Art. 9 Abs. 1:

"Nach Auffassung von UNHCR muss die Auslegung des Begriffs der Verfolgung flexibel, anpassungsfähig und offen genug sein, um die veränderlichen Ausprägungen von Verfolgung erfassen zu können."

13

Vgl. insoweit auch Bank/Schneider in Beilage zum Asylmagazin 6/2006, S. 5:

"Auch die Qualifikationsrichtlinie, in der die Verfolgungshandlung in Art. 9 durch zahlreiche Kriterien weiter konkretisiert wird, enthält einen offenen Verfolgungsbegriff. Zwar wird dabei der schwerwiegende Charakter der Verletzung grundlegender Menschenrechte betont, ohne jedoch eine Beschränkung auf bestimmte Menschenrechte vorzunehmen."

14

Eine Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG iVm Art. 9 Richtlinie ist somit - von Ausnahmen abgesehen, vgl. Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 8 - schon dann beachtlich wahrscheinlich und begründet, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht sprechenden Umstände bei lebensnaher Betrachtung ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nach richterlicher Wertung überwiegen (vgl. Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, UNHCR-Zeitschrift "Flüchtlinge", August Nr. 1987, S. 8 / 9; VG Bremen, Urt.v. 21.1.2008 - 4 K 1327/07.A -; so auch schon BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389 [BVerwG 03.11.1992 - BVerwG 9 C 21/92]; OVG Lüneburg, Urt.v. 26.8. 1993 - 11 L 5666/92). Vgl. OVG Frankfurt/Oder v. 14.4.2005 - 4 A 783/01 - :

"Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise i.S. einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn auf Grund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht."

15

Auf die für eine retrospektive Asylanerkennung mit ihrem Zusammenhang von Flucht und Verfolgung (Art. 16a Abs. 1 GG, § 28 Abs. 1 AsylVfG) geltenden Kriterien kommt es nicht mehr an. Entscheidend ist, ob bei zukunftsgerichteter Betrachtung genügend beachtlich Anknüpfungsmerkmale (iSd Art. 9 und Art. 10 Qualifikationsrichtlinie) vorliegen, deretwegen eine (Flüchtlings-)Bedrohung aller Voraussicht nach in Zukunft nachvollziehbar und iSd Qualifikationsrichtlinie begründet erscheint (VG Bremen, aaO.). Das ist hier der Fall.

16

4.1 Eine solche Bedrohung ergibt sich allerdings nicht schon aus einer möglichen Bestrafung auf Grund des bloßen Aufenthaltes des Klägers in Deutschland. Das illegale Verbleiben im Ausland stellt zwar einen Verstoß gegen Art. 274 des vietnamesischen Strafgesetzbuches (vStGB) dar, wonach sich strafbar macht, wer illegal in die Sozialistische Republik Vietnam einreist, aus ihr ausreist oder sonst im Ausland verbleibt. Es ist aber nicht "beachtlich wahrscheinlich" (vgl. BVerwGE 91, 150[BVerwG 03.11.1992 - 9 C 21/92]), dass gegen zurückkehrende Asylbewerber allein schon wegen eines Verstoßes gegen Art. 274 VStGB vorgegangen wird (ebenso auch VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159[VG Meiningen 20.09.2005 - 2 K 2014/04 Me]f).

17

4.2 Ob eine Bedrohung des Klägers besteht, orientiert sich einerseits an der tatsächlich geübten Prozess- und Verwaltungspraxis des vietnamesischen Staates und andererseits in unmittelbarer Anwendung der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG an deren Art. 9 und Art. 10, aber auch an der GFK, die zentraler Bezugspunkt jeder Auslegung flüchtlingsrechtlicher Bestimmungen ist. Denn gem. Art. 13 ist demjenigen die Flüchtlingseigenschaft (vgl. § 3 AsylVfG) zuzuerkennen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III im Sinne der Erwägungsgründe (2), (3) und (17) der Richtlinie erfüllt.

18

Die Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG hat somit im Lichte der zentralen GFK einschließlich EMRK und der sie umsetzenden Qualifikationsrichtlinie zu erfolgen. Die in das Gesetz neu eingefügte Bestimmung des § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ändert an diesem Rechtsgebot unmittelbarer Anwendung nichts. Das gilt insbesondere auch für die hier relevante Definition der "politischen Überzeugung" in Art. 10 Abs. 1e), u.zw. unter Beachtung des Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie.

19

4.3 Bei Anwendung der Art. 9 und 10 der Qualifikationsrichtlinie ist zu beachten, dass die Mitgliedstaaten gem. Art. 3 günstigere Normen erlassen oder beibehalten können, so dass nicht auf "Verfolgungshandlungen" iSd Art. 9 abzustellen ist, sondern - mit Blick auch auf die GFK - gem. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG auf eine (bloße) "Bedrohung" und hierauf abzielende Handlungen.

20

Es reicht daher aus, dass aufgrund einer Gesamtbetrachtung Menschenrechte iSv Art. 9 Abs. 1 (mit den Regelbeispielen aus Art. 9 Abs. 2) gemäß § 60 Abs. 1 AufenthGbedroht erscheinen bzw. der Kläger - bei "Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen" - in nur "ähnlich" gravierender Weise "betroffen" ist (Art. 9 Abs. 1b), er also eine "begründete Furcht" vor einer zureichend gravierenden Bedrohung (vgl. Art. 2c) plausibel machen kann.

"Die bisher von der deutschen Rechtsprechung vorgenommene separate Betrachtung jeder einzelnen Verfolgungsmaßnahme auf ihre Asylerheblichkeit ist damit überholt. Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung. Eine Häufung unterschiedlicher Maßnahmen, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der Verfolgung erfüllt, kann dazu führen, dass ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen kumulativer Gründe besteht..." - VG Köln, Urt.v. 12.10.07 - 18 K 6334/05.A -

21

Dabei ist der Bedrohungscharakter verschiedener, u.U. zusammenspielender Sanktions- und Polizeimaßnahmen unter Berücksichtigung kultureller Besonderheiten im Herkunftsland lebenspraktisch zu erfassen. Vgl. dazu "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG" vom Mai 2005, dort zu Art. 9 Abs. 1:

"Schwerwiegende Diskriminierung und die Kumulativwirkung unterschiedlicher Maßnahmen, die für sich genommen keinen Verfolgungscharakter aufweisen, sowie schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen können sowohl einzeln als auch zusammen mit sonstigen negativen Faktoren zu einer begründeten Furcht vor Verfolgung führen; oder mit anderen Worten das Leben im Herkunftsland für die betroffene Person in vielerlei Hinsicht so unsicher gestalten, dass der einzige Ausweg in dem Verlassen des Herkunftslands besteht."

22

4.4§ 60 Abs. 1 AufenthG ist hier anwendbar, u.zw. auch im Hinblick auf § 28 Abs. 2 AsylVfG: Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie legt nämlich fest, dass Verfolgungsfurcht auf solchen Aktivitäten des Antragstellers beruhen kann, die "seit" und nach Verlassen des Herkunftslandes unternommen wurden - vor allem in näher dargestellten Sonderfällen. Irgendwelche Einschränkungen enthält die Bestimmung nicht. Vgl. dazu "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG" vom Mai 2005, Art. 5 Abs. 2:

"Auch wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass der Antragsteller bereits im Herkunftsland die Überzeugung oder Ausrichtung vertreten hat, hat der Asylsuchende innerhalb der durch Artikel 2 der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer Menschenrechtsabkommen festgelegten Grenzen ein Recht auf Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit. Diese Freiheiten beinhalten das Recht auf den Wechsel der Religion oder Überzeugungen, der nach der Ausreise stattfinden kann, z.B. aufgrund von Unzufriedenheiten mit Religion oder Politiken des Herkunftslands oder eines gewachsenen Bewusstseins für die Auswirkungen bestimmter Politiken."

23

Die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie für Folgeanträge - jedoch unbeschadet der GFK - den Mitgliedstaaten zugestandene Regelungskompetenz, eine Anerkennung als Flüchtling in der Regel auszuscheiden, wenn die Verfolgungsgefahr auf "Umständen" beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat, ist nach dem Sprachgebrauch der Richtlinie (vgl. Art. 4 Abs. 3c) allein auf persönlicheUmstände (familiärer und sozialer Hintergrund) zu beschränken (Ehe, Kinder, Arbeitslosigkeit usw.). Nur für solche Umstände ist den Mitgliedstaaten eine Regelungskompetenz zugestanden. Die in Abs. 2 genannten Aktivitäten jedoch sind von den in Abs. 3 genannten "Umständen" sprachlich wie sachlich zu unterscheiden, wie die Differenzierung in Art. 4 Abs. 3c und d der Richtlinie aufzeigt: Zu den "Aktivitäten" ist eine Bewertung dahingehend vorzunehmen, ob ihretwegen im Falle einer Rückkehr Verfolgung (iSv Art. 9, etwa Abs. 2b oder d der Richtlinie) stattfindet. Diese Bewertung unterliegt nach der unmittelbar geltenden Richtlinie keinerlei Beschränkungen - etwa solcher Art, wie sie § 28 Abs. 2 AsylVfG enthält (zeitlich festgelegter Regelausschluss des in § 60 Abs. 1 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots).

24

Exilpolitische Aktivitäten iSv Art. 4 Abs. 3d Richtlinie gehören damit nicht zu den (persönlichen) "Umständen" im Sinne des Art. 5 Abs. 3. Sie sind von diesen abzuschichten. Sie werden nicht von der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten erfasst. Soweit § 28 Abs. 2 AsylVfG dennoch solche Aktivitäten unter dem Gesichtspunkt selbst geschaffener Nachfluchtgründe (iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG) zu erfassen sucht und sie - falls sie zeitlich nach Rücknahme oder Ablehnung des Erstantrages entstanden sind - vom Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der GFK regelmäßig ausschließt, ist diese Bestimmung hier wegen Widerspruchs zur rechtlich allein maßgeblichen Qualifikationsrichtlinie unbeachtlich und unanwendbar. Die unmittelbar anwendbare Richtlinie geht dem deutschen Recht vor.

25

Soweit das Nds. Oberverwaltungsgericht § 28 Abs. 2 AsylVfG aufgrund des vor unmittelbarer Geltung der Qualifikationsrichtlinie basierenden Rechtszustandes noch uneingeschränkt für anwendbar gehalten hat (Urteil v. 16.6.2006 - 9 LB 104/06 -), ist diese Auffassung inzwischen überholt, § 28 Abs. 1a AsylVfG. Ihr kann nicht gefolgt werden, wie im Urteil der Kammer vom 16.8. 2006 - 1 A 406/03 - dargelegt ist (zustimmend Damson-Asadollah in InfAuslR 2006, 426; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Asylmaganzin 11/2007, S. 23: ausnahmsweise Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn die Nachfluchtaktivitäten nicht § 28 Abs. 1a AsylVfG entsprechen und nicht von Missbrauch geprägt sind).

26

4.5 Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor Bedrohung hat der Kläger für den Fall seiner Abschiebung oder sonstigen Rückführung (§ 13 AsylVfG) nach Vietnam hier in einer Weise geltend gemacht, dass sie beachtlich wahrscheinlich ist.

27

4.5.1 Als "Verfolgungs"- bzw. Bedrohungshandlungen des vietnamesischen Staates, die eine nachvollziehbar begründete Bedrohungsfurcht erzeugen können, so dass der Kläger verständlicherweise "wegen dieser Furcht" den Schutz des vietnamesischen Staates nicht in Anspruch nehmen will (Art. 2c der Qualifikationsrichtlinie), kommen hier nachfolgende Gesichts- und Anhaltspunkte in Betracht: