Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 18.05.2004, Az.: 1 B 32/04

Abschiebung; Abschiebungsverbot; Asylantrag; Asylberechtigung; Asylbewerber; Asylfolgeantrag; Asylverfahren; Folgeverfahren; Vietnam; Vollzugsanordnung; vorläufiger Rechtsschutz; Vorprüfung; Wiederaufgreifen des Verfahrens; Wiederaufnahmeverfahren

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
18.05.2004
Aktenzeichen
1 B 32/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50606
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zur Anstossfunktion eines Antrags im mehrstufigen Folgeverfahren

2. Vietnam wird inzwischen - 2003/2004 - als eines der "repressivsten Regime in Asien" eingestuft, so dass für Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes von einer deutlichen Verschärfung der vietnamesischen Gesamtverhältnisse auszugehen ist.

3. Bei der Gefahrenprognose gem. § 51 Abs. 1 AuslG sind sowohl aktuelle Veränderungen im Heimatland als auch exilpolitische Betätigungen (subjektive Nachfluchtgründe) synergistisch zusammenzuführen.

Gründe

1

Der 1969 geborene Antragsteller vietnamesischer Staatsangehörigkeit unbekannten Glaubens kam - nach rd. 2 ½ -jährigem Aufenthalt in der ehem. CSSR - 1991 in das Bundesgebiet und stellte hier erstmals einen Asylantrag. Dieser wurde nach einer Anhörung vom 29. April 1991 mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 15. Juli 1991 abgelehnt, wobei unterstellt wurde, dass die „theoretisch vorgesehenen Straftatbestände ... vermutlich kaum angewandt (werden)“, allenfalls „manchmal exemplarisch gegen einige ´Übeltäter´ vorgegangen wird“ (S. 5 d. Besch.). Seine dagegen gerichtete Klage war erfolglos (Urt. d. Kammer v. 27.08.1992 - 1 A 773/ 91 -).

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Im Februar 2004 stellte der Antragsteller mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, er sei Mitglied der „Demokratischen Bewegung für die Zukunft Vietnams“ in S.. Er habe sich inzwischen in vielfacher Weise exilpolitisch betätigt, u.a. Aktionen, Demonstrationen und Veranstaltungen gegen Vietnam koordiniert. Seine Aktivitäten stellten sich als Dauersachverhalt dar. Im Falle seiner Rückkehr nach Vietnam fürchte er, übermäßig bestraft zu werden. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 19. April 2004 - per Einschreiben an den Prozessbevollmächtigten zugestellt (abgesandt am 20.04.04) - lehnte die Antragsgegnerin nach einer Anhörung vom 7. April 2004 die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG lägen nicht vor; zugleich wurde der Antragsteller aufgefordert, das Bundesgebiet binnen einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, wobei ihm die Abschiebung nach Vietnam (oder einen anderen Staat) für den Fall angedroht wurde, dass er die Frist nicht einhalte.

3

Gegen den Bescheid hat der Antragsteller am 23. April 2004 per Fax bei der erkennenden Kammer Klage - 1 A 203/04 - erhoben und daneben zugleich um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

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Der fristgerecht (§§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 1, 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG) bei der Kammer gestellte und auch sonst zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat Erfolg.

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1. Im Verfahren des § 8o Abs. 5 VwGO ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, in denen dem Rechtsschutzantrag keine behördliche Vollzugsanordnung gem. § 8o Abs. 2 Nr. 4 VwGO vorausgeht, analog § 8o Abs. 4 Satz 3 VwGO zu entscheiden (stdg. Rechtsprechung der Kammer, vgl. VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217 [VG Lüneburg 06.10.2003 - 1 B 45/03] m.w.N.). Das gilt auch im Falle der hier maßgeblichen Spezialregelung des § 36 Abs. 4 AsylVfG, weil durch sie der gen. Maßstab des § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO nicht verändert worden ist. Auch hiernach hat - als „Ausgleich“ für den gesetzlichen Ausschluß - gerichtlich eine Aussetzung bei ernstlichen Zweifeln schon im Regelfall zu erfolgen (VGH München, BayVBl. 1993, 691; VGH Mannheim, NVwZ-RR 1991, 287 [VGH Baden-Württemberg 23.10.1990 - 8 S 2237/90]; OVG Lüneburg, NJW 1978, 672; Renck, NVwZ 1992, 339; Czermak, BayVBl. 1976, 106; Schoch, aaO. Rdn. 204; Sodan/Ziekow, Nomos-Komm. zur VwGO, Losebl., Bearb. Puttler, Rz 109; a.A. Kopp, aaO, § 80 Rdn. 116). Solche ernstlichen Zweifel liegen hier vor.

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Auf diese Weise wird - auf der Grundlage einer prognostischen Risikoeinschätzung - zu-gleich auch Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 7.12. 2000 (Amtsblatt 2000/C 364/01 d. Europ. Gemeinsch.) und damit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK Rechnung getragen, demzufolge niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen werden darf, in dem für ihn das „ernsthafte Risiko“ u.a. einer unmenschlichen oder auch nur erniedrigenden Behandlung besteht. Ein solches Risiko besteht hier jedoch.

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2. Die Erfolgsaussichten des Antrages und zugleich die genannten Zweifel sind hier deshalb gegeben, weil das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 71 Abs. 1 AsylVfG und 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG hier nicht von der Hand zu weisen ist.

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2.1 Für ein Wiederaufgreifen gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 VwVfG genügt es, dass im mehrstufigen Wiederaufnahmeverfahren (vgl. dazu BayVGH, Inf-AuslR 1997, 47o m.w.N.; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, S. 217, VG Lüneburg, InfAuslR 2000, S. 47) eine nachträgliche Änderung der Sachlage (oder Rechtslage) fristgerecht vorgetragen und die vorgetragenen Gründe geeignet sind und es - analog § 42 Abs. 2 VwGO - möglich erscheinen lassen, dass ein günstigeres Ergebnis erzielt werden kann (BayVGH, aaO, m.w.N.; VGH Baden-Württ., Urt. v. 16.3. 2000, AuAS 2000, 152 f.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, Std: Sept. 2000, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; Renner, aaO. § 71 AsylVfG Rn. 24; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; BGH NJW 1982, 2128 [BGH 29.04.1982 - IX ZR 37/81]; OVG Münster DÖV 1984, 901; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217 [VG Lüneburg 06.10.2003 - 1 B 45/03]). Das Gesetz verlangt in dieser 1. Stufe - der Vorprüfung - nur, eine neue Entscheidung müsse zu Gunsten des Betroffenen ergehen können, wobei „können“ iSv Eignung und Möglichkeit gemeint ist (Kopp/ Schenke, VwGO-Komm., 12. Auflage, Rdn. 66 m.w.N.; Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 83, 89 u. 106 m.w.N.; vgl. HambOVG, NVwZ 1985, 512 [OVG Hamburg 17.05.1984 - OVG Bs VII 246/84]; h.M.). Nicht zu verlangen ist, dass „die Veränderung der Sachlage zur Überzeugung des Bundesamtes oder Verwaltungsgerichts auch tatsächlich eingetreten ist“ (Funke-Kaiser, aaO., Rdn. 85; VGH Baden-Württ. aaO.). Solche Erheblichkeitsprüfung gehört zum Kern des Folgeverfahren (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 84). Noch viel weniger kann im Vorprüfungsverfahren mit seiner bloßen Anstoßfunktion (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 89.1) verlangt werden, dass die Verfolgungsfurcht in der Sache selbst geprüft wird (BVerfG, NVwZ 2000, Beilage Nr. 7 S. 78 f.). Das Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des Zweiten Senats v. 11.05.1993 - 2 BvR 2245/92 - in AuAS 1993, 189 /190) hat insoweit ausgeführt:

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„Lediglich wenn das Vorbringen zwar glaubhaft und substantiiert, jedoch von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet ist, zur Asylberechtigung zu verhelfen, kann der Folgeantrag als unbeachtlich angesehen werden (vgl. die Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22.09.1988 - 2 BvR 991/87 - InfAuslR 1989, 28 (30f.), vom 17.01.1991 - 2 BvR 1243/90 - InfAuslR 1991, 133 (135) und vom 13.03.1993 - 2 BvR 1988/92 -; vgl. auch BverwGE 77, 323 (327)).“

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Ein Wiederaufgreifen hat danach „nur dann nicht zu erfolgen, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen kein Zweifel bestehen kann und bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (dem Stand von Rechtsprechung und Lehre) sich die Versagung des Wiederaufgreifens des Verfahrens ... geradezu aufdrängt.“ (VG Oldenburg, B. v. 21.10.2003 - 11 B 3755/03 -).

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Ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens ist somit nur abweisbar, wenn ein hinreichend substantiiertes Vorbringen nach jeder nur denkbaren Betrachtung für einen Erfolg im Folgeverfahren völlig ungeeignet ist, wobei verfassungsrechtlich die erforderliche „Richtigkeitsgewißheit“ vorliegen muss (BVerfG, InfAuslR 1995, 342 [BVerfG 08.03.1995 - 2 BvR 2148/94] und InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]; VG Oldenburg, aaO.). Das folgt aus dem Individualanspruch auf Asyl, Art. 16 a Abs. 1 GG. Ist das nicht der Fall, so ist erst in der eröffneten 2. Stufe des Folgeverfahrens (vgl. Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 77.2) aufzuklären, ob die vorgetragenen Asylgründe tatsächlich tragen und eine asylrelevante Verfolgung oder aber die Voraussetzungen für Abschiebungsverbote oder -hindernisse vorliegen (BayVGH, aaO m.w.N.; 1. Kamm. des 2. Senats des BVerfG, AuAS 1993, 189/190; Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 77.2, 84, 89.1). An die Substantiierungspflicht sind schon aus verfassungsrechtlichen Gründen selbstverständlich „keine überspannten Anforderungen“ zu stellen (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 89.1).

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2.2 Nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise - auch der des Gutachters Dr. Will (v. 11.2. 2003 / VIE 24133002) beispielsweise, der im angefochtenen Bescheid nicht erwähnt wird - ist der Vortrag hier nicht von vorneherein ungeeignet, zu einem Abschiebungsverbot iSv § 51 AuslG zu verhelfen. An der Rechtmäßigkeit der ablehnenden Entscheidung bestehen erhebliche Zweifel. Die Versagung des Wiederaufgreifens drängt sich nicht auf.

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Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine Handlungseinheit wie der vorgetragene Dauersachverhalt der „exilpolitischen Betätigung“ mit Auswirkungen auf die Reaktionsweise vietnamesischer Behörden nicht ohne weiteres der 3-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG unterstellt werden kann (vgl. OVG Weimar, Urteil v. 6.3.2002 - 3 KO 428/99 -; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]). Daneben sind Veränderungen der politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers auch dann - von Amts wegen - zu berücksichtigen, wenn sie sich erst im Laufe des Verfahrens ergeben haben. Sowohl die Veränderungen im Heimatland als auch die exilpolitische Betätigung im Bundesgebiet sind synergistisch zusammen zu führen und wechselseitig zu bewerten. Weiterhin hat der Antragsteller seine schon im Antrag von 1991 vorgetragene Verfolgungsfurcht wiederholt und unter Vorlage von entsprd. Bescheinigungen jetzt näher konkretisiert (vgl. BVerwG EZAR 631 Nr. 45). Damit dürfte jedenfalls ein entsprechender „Anstoß“ für ein Folgeverfahren gegeben sein.

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2.3 Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die „politische Einstellung des Betroffenen“ abzielen und sich als Verfolgung darstellen, kommt es stets auf die „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“ und dortige Veränderungen an. Sie können die (bloße) Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung nahe legen (so BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288). Somit ist eine nachträgliche Änderung der Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“, aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]). Insoweit ist heute - 2004 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam schon im Jahre 2003 „als eines der repressivsten Regime in Asien“ erwiesen hat (so D. Klein in „Aus Politik und Zeitgeschehen“, hrsg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5):

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„Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien.“ (Klein, aaO.).

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Das konkrete Bedrohungs- und Verfolgungsrisiko in Vietnam ist auf diesem Hintergrund schwer einzuschätzen, weil die Reaktionsweise vietnamesischer Behörden „ständigen, zum Teil sehr irrationalen Veränderungen unterworfen“ ist (so Dr. G. Will, Hamburg, 14.9.2000, S. 3). So kann Rückkehrern „im Einzelfall eine Bestrafung wegen Propaganda gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung nach dem StGB drohen“ (Lagebericht des AA v. 9.7.2001, S. 7; vgl. auch Klein, aaO.). Eine Prognose jedenfalls, Verhaftungen, Bestrafungen, Umerziehungsmaßnahmen und Zwangsarbeit würden in Vietnam nur bei „besonders hervorgetretener“ regimekritischer Betätigung im Ausland vorgenommen, geht an der politisch gesteuerten Irrationalität und Willkürlichkeit des vietnamesischen „Rechtssystems“ vorbei. Vielmehr

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„müssen all diejenigen vietnamesischen Staatsbürger, die im Ausland öffentliche Kritik an dem Regierungssystem ihres Landes bzw. an der Politik ihrer Regierung geübt haben, bei ihrer Rückkehr nach Vietnam mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen“ (so Dr. G. Will in seiner gutachterl. Stellungn. v. 14.9.2000, S. 1).

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Allein der Besitz antikommunistischer Flugblätter kann für eine Verurteilung ausreichen, Kritiker der regierungsamtlichen Politik werden schikaniert (ai-Jahresbericht 2002, S. 604). Die im August 2001 erlassene Verordnung zu Niederlassungsverbot u. Hausarrest schränkt u.a. den Zugang zum Internet weiter ein (Jahresbericht ai 2002, aaO). Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich diesbezüglich wie folgt zur Lage in Vietnam gutachterlich geäußert (Stellungn. v. 14.9.2000 an 29. Kammer des Bay. VG München, S. 3):

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„Berücksichtigt man all diese Faktoren, so wird zumindest erklärbar, warum manche auch gegenüber ausländischen Medien geäußerten Auffassungen prominenter Oppositioneller ohne nennenswerte Sanktionen und Repressionen hingenommen werden, während kritische Anmerkungen eines unbekannten Bürgers sehr schwerwiegende Bestrafungen nach sich ziehen können.“

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Aktivitäten unbekannter Bürger, die mit Oppositionsgruppen in Zusammenhang gebracht werden können, werden „meist mit Landesverrat gleichgesetzt„ (so Dr. G. Will, aaO.). Oppositionelles Verhalten wird „schlicht als Unbotmäßigkeit bzw. Frechheit angesehen, der mit körperlicher Gewalt und massiver Einschüchterung zu begegnen“ ist (Dr. G. Will, aaO.). „Anklagen erfolgen häufig wegen Spionage oder Unterminierung der Gesellschaft“ (Klein, aaO., S. 5). Nach der Einschätzung der IGFM (Pressemitteilung v. 18.10. 2001) „entpuppt sich Vietnam als ein ´rechtsbeugender Staat´“. Gerichtsverfahren verlaufen in aller Regel - abweichend von europäischen Standards (Art. 47 Abs. 2 Grundrechtscharta der EU v. 7.12.2000) - sehr unfair (ai-Jahresbericht 2002, S. 603; Klein, aaO., S. 5): „Faire Gerichtsverhandlungen sind in Vietnam keine Option, in den meisten Fällen existiert nicht einmal eine formale Anklage“ (Klein, S. 5). Unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern wird die Einreise verweigert (Jahresbericht, aaO., S. 603 und S. 605). Vereinbarungen zwischen dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und den Regierungen von Vietnam und Kambodscha wurden nicht eingehalten (ai-Jahresbericht 2003 S. 623). Vier Journalisten sind im Juli 2002 „überfallartig verhaftet“ worden und wurden allein wegen der Unterzeichnung eines Protestbriefes - nach eintägigem Verhör durch den vietn. Staatssicherheitsdienst - an unbekannten Orten gefangen gehalten, u.zw. ohne jedes rechtsstaatlich-justizielle Verfahren (so IGFM v. 25.7.2002). Daher üben viele Journalisten „Selbstzensur“ (Lagebericht des AA v. 1.4. 2003), was erklärt, weshalb keine Referenzfälle bekannt geworden sind. Denn

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„Journalisten, die sich dem Regime gegenüber kritisch äußern, drohen drastische Gefängnisstrafen“ (Klein, aaO., S. 5).

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Die These, Auslandsaktivitäten von Exil-Vietnamesen seien nur in Ausnahmefällen - bei besonders exponierter Betätigung mit Auslandswirkung - als Anstoß für Verfolgungsmaßnahmen zu werten, bedarf angesichts dessen der Überprüfung, dass in Vietnam eine abweichende politische Gesinnung - mag sie auch zuvor im Ausland erlangt sein - nach dem vietnamesischen Strafrecht in seiner behördlich praktizierten Form nicht geduldet, sondern vielmehr bekämpft wird (Lagebericht des AA v. 1.4.2003; Dr. Will, Gutachten v. 11.2.2003 Pkt. 2). Dabei ist zu berücksichtigen, dass „formaldemokratische Strukturen oder Institutionen... noch keine Garantie dafür sind, dass das Handeln von Staat und Regierung auch dem Recht folgt“ (so D. Klein, Aus Politik und Zeitgeschehen, S. 3). Denn

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„Vietnam erwies sich auch 2003 als eines der repressivsten Regime in Asien...; offene Gewalt auf der Straße, Telefonterror und willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien“ (Klein, aaO., S. 5)

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Das zeigt sich z.B. daran, dass nach einer Meldung von amnesty international - ai - vom 2.1.2004 Dr. Nguyen Dan Que lediglich aufgrund seiner Stellungnahme zum Fehlen von Informationsfreiheit in Vietnam festgenommen wurde, nachdem er 1998 aufgrund einer Amnestie frei gekommen war und sich zuvor für die Wahrung der Menschenrechte eingesetzt und deshalb in der Vergangenheit ca. 18 Jahre in vietnamesischen Gefängnissen zugebracht hatte. Dafür spricht auch die Verweigerung der Einreise einer Reihe von langjährig im Ausland verbliebenen Vietnamesen durch vietnamesische Behörden (vgl. dazu die sog. „N-Listen“ beim Nds. Landeskriminalamt und die offenkundigen Rückführungsschwierigkeiten bei der Grenzschutzdirektion Koblenz, s. dazu Urt. des VG Lüneburg, InfAuslR 2002, 367 m.w.N.). Auch der Sachverständige Dr. Weggels geht inzwischen davon aus, dass die

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„vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg“ gelegt habe (so seine Stellgn. v. 10.8.2003 an VG Darmstadt), wohl um in Europa seit Jahren mit dem europäischen Gedankengut „infizierte“ ehemalige Vertragsarbeitnehmer nicht zurücknehmen zu müssen.

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2.5 Es scheint sogar so zu sein, dass der vietnamesische Geheimdienst im Bundesgebiet zwecks „Identitätsklärung“ recherchiert, den Umfang exilpolitischer Tätigkeit von Asylbewerbern aufzuklären versucht - „Ausspionierung oppositioneller Tätigkeiten“ (so taz v. 1.10.2003) - und bei Zahlung von Schmiergeldern auch noch für die sichere Ablehnung einer Rückübernahme nach Vietnam (wg. angeblich „unklarer Identität“) Sorge trägt (so die Sendung „report“ des Bayerischen Rundfunks v. 29.09.2003). Bei Verweigerung der vom Geheimdienst geforderten Zahlungen soll es dann so sein, dass der Betreffende bei seiner Rückkehr nach Vietnam monatelang im Flughafen Hanoi isoliert festgehalten und ihm dann anschließend jede Art von Arbeitserlaubnis für Vietnam vorenthalten wird.

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2.6 Der Sachverständige Dr. Will meint hinsichtlich der nach Vietnam zurückgekehrten Exil-Vietnamesen (Gutachten v. 11.2.2003) denn auch:

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„Mir ist jedoch kein Fall bekannt, in dem ein Funktionär einer nur im Ausland erlaubten regierungsfeindlichen Partei nach seiner Rückkehr nach Vietnam keinen Strafverfolgungen oder anderen schwerwiegenden Diskriminierungen ausgesetzt worden wäre.

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Die „Gesamtverhältnisse“ in Vietnam dürften sich deutlich verschärft haben (vgl. den ai-Jahresbericht 2003, S. 625, „Drangsalierung von Regierungskritikern“; Dr. Will, Gutachten v. 11.2.2003,: „drakonische Strafen“ für regimekritische Auftritte im Internet; Klein, aaO., S. 5), was sich schon als „Anstoß“ zu einer weiteren Prüfung darstellt. Vgl. VG München, Urt. v. 13.8.2003 - M 17 K 03.50661 - Asylmagazin 2003, S. 30:

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„In den genannten Gutachten ist überzeugend ausgeführt, dass keine Differenzierung danach stattfindet, ob die entsprechenden Taten im Inland oder im Ausland begangen werden, dass aber wohl eine Differenzierung stattfinden kann, ob die Kritik von Prominenten oder weniger Prominenten geäußert wird. Da der Kläger zu Letzteren gehört, ist er eher einer Bestrafung ausgesetzt....

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Die Auffassung des Auswärtigen Amtes, vor einer Bestrafung sei mit der Verweigerung der Einreise zu rechnen, spielt keine Rolle. Das Gericht hat die Verfolgungswahrscheinlichkeit für den Fall einer tatsächlichen Rückkehr zu beurteilen.“ (so VG München, aaO.)

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Dem Antragsteller könnte somit in Verbindung mit seinen heutigen politischen Aktivitäten bei einer Rückkehr nach Vietnam die von ihm befürchtete Verfolgung inzwischen aufgrund der in Vietnam veränderten Gesamtverhältnisse drohen (vgl. Klein, aaO., Gutachten Dr. Will v. 11.2.2003 / VIE 24133002; Lagebericht AA v. 1.4. 2003 unter II 7; ai-Jahres-bericht 2003, aaO - im angefochtenen Bescheid nicht erwähnt und verwertet).

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Das vorgetragene exilpolitische Verhalten des Antragstellers könnte in Vietnam zumindest als „Frechheit“ angesehen werden, der mit Gewalt und Einschüchterung zu begegnen sei (so der Sachverständige Dr. Will v. 14.9. 2000; Klein, aaO.): Allein schon das „Lesen“ regierungskritischer Zeitungen kann Verfolgungsmaßnahmen nach sich ziehen (IGFM Januar 1997, S. 23; Lagebericht des AA v. 1.4.2003). Auf eine „breite Öffentlichkeitswirkung“ kommt es wegen der permanenten territorialen Gesinnungskontrolle in Vietnam nicht an. Aktive und überzeugte Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP sind stets deutlich gefährdet, wie bei der Antragsgegnerin bekannt ist (so in diversen Bescheiden der Antragsgegnerin dargestellt; vgl. dazu auch Klein, aaO.).

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Der Sachverständige Dr. Will hält demgemäss an seiner schon früher geäußerten Auffassung fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung (Diskriminierungen aller Art) rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9.2000, S. 1). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8.2003 an VG Darmstadt) meint, dass eine Oppositionshaltung, die „irgendwo im fernen Ausland“ offenbart worden sei, u.a. dann in Vietnam doch verfolgungsrelevant werden könnte, wenn „Publikationen aus dem Umfeld des Innenministeriums.... Witterung bei bestimmten Personen aufgenommen und sich auf sie eingeschossen“ hätten. Dabei geht dieser Sachverständige davon aus, dass das Rückübernahmeabkommen von 1995 (nebst Briefwechsel) sich „als Schlag ins Wasser erwiesen“ und die „vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg“ gelegt habe: „Beim Besuch der BMZ-Ministerin in Hanoi (Oktober 2000) wurde das Abkommen von 1995 nicht einmal noch der Erwähnung für wert befunden.“ Die „völkerrechtlichen Verpflichtungen“ sind damit, da sie in Vietnam missachtet werden, bedeutungslos. Vgl. ai-Jahresbericht 2003 u. Lagebericht des AA v. 1.4.2003: „Aushöhlung“ des Dreierabkommens UNHCR-Vietnam-Kambodscha durch den vietnamesischen Staat.

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2.7 Anknüpfungspunkt für Maßnahmen gegen den Antragsteller könnte heute zudem auch die Tatsache sein, dass es in Vietnam sog. „administrative Haftstrafen“ auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999). Ein Dekret v. 23.8.2001 (Nr. 53/2001/ND-CP) sieht zudem die Möglichkeit eines 5-jährigen Hausarrestes im Anschluss an eine Haftstrafe vor (Lagebericht des AA v. 1.4. 2003). Auch das ist eine Veränderung der Verhältnisse in Vietnam, die zur Überwindung der 1. Verfahrensstufe ausreicht (s.o., vgl. Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 85). Das Instrument administrativer Haft entstammt der französischen Kolonialzeit und dient eindeutig der „Ausschaltung unliebsamer `Konterrevolutionärer Gegner´“ (so der Lagebericht des AA v. 26.2. 1999). Es greift in Bürgergrundrechte wie z.B. Art. 72 ein und widerspricht dem Int. Pakt über bürgerliche u. politische Rechte (AA v. 26.2.1999, S. 3). Entsprechende Strafmaßnahmen tragen deutliche Anzeichen reiner Willkür (Dr. G. Will, S. 3 der Stellgn. v. 14.9.2000). Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich dazu wie folgt geäußert: „Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um eine Maßnahme handelt, derer sich die vietnamesischen Behörden vor allem in den etwas abgelegeneren Provinzen gerne bedienen, um mißliebige Kritiker aus dem Verkehr zu ziehen und einzuschüchtern.“ (Dr. G. Will, Stellung. v. 14.9.2000, aaO. S. 5). Jedoch sind Erkenntnisse über die vietnamesische Praxis in diesem Bereich „nur schwer zu erhalten“ (so Lagebericht des AA v. 26.2. 1999): In der FAZ v. 21.1.1999 heißt es insoweit: „Ein im Westen ausgebildeter Jurist war mehr als zehn Jahre in Haft, auf Grund administrativer Entscheidungen und ohne je ein Gericht gesehen zu haben. `Sie schlagen nicht, sie stecken dich in Einzelhaft oder in ein Arbeitslager - bis du die Gesetze des Klassenkampfs endlich eingesehen hast´, sagt er... (FAZ v. 21.1. 1999).

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3. Schließlich stehen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht ausnahmsweise besonders gewichtige Gründe entgegen, die es erlaubten, schon vor Abschluß des Haupt-sacheverfahrens die vollendete Tatsachen schaffende Abschiebung durchzuführen, die angedroht worden ist (Pkt. 3 des Bescheides). Denn der Rechtschutzanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG ist um so stärker, je gewichtiger die abverlangte Belastung ist (BVerfGE 35, 382 / 4o2; BVerfGE, NVwZ 1985, 4o9; BVerfG (3. K. des 2. Senats) NVwZ-Beilage 1996, 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.). Deshalb ist ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur im Falle eindeutiger und unumstößlicher Richtigkeit (BVerfG, InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]) abweisbar, die regelmäßig erst im Hauptsacheverfahren zu erlangen ist.

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An solcher unumstößlichen Richtigkeit fehlt es hier (s.o. Pkt. 2). Angesichts des Art. 19 Abs. 4 GG und der von ihm geforderten Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. auch Art. 41 und 47 Grundrechtscharta der EU v. 7.12.2000) war dem Antrag daher stattzugeben.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO iVm § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

39

Dieser Beschluß ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.