Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 18.08.2006, Az.: 1 B 40/06

Abschiebung; Abschiebungsverbot; Afghanistan; Anhörung; Asyl; Asylantrag; Asylfolgeantrag; Auslegung; Ausnahmefall; Bedrohung; Christ; ernstliche Zweifel; Flüchtlingsbegriff; Folgeantrag; Folgeverfahren; Glaubensbetätigung; Konvertit; Qualifikationsrichtlinie; Rechtslage; Religion; Religionsfreiheit; Religionszugehörigkeit; richtlinienkonforme Auslegung; Stufenverfahren; Taufe; Umsetzungsfrist; Verfahrensmangel; Verfolgungsgrund; Verfolgungshandlung; Wiederaufgreifen; Wiederaufnahmeverfahren; Zweitantrag; Änderung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
18.08.2006
Aktenzeichen
1 B 40/06
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 53241
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

1

Der 1970 geborene, seit Dezember 2000 mit einer russischen Christin verheiratete Antragsteller afghanischer Staatsangehörigkeit (Volkszugehörigkeit: Paschtunen) und evangelischen Glaubens kam im Dezember 2002 nach Deutschland. Er ist Vater eines im Frühjahr 2002 geborenen Kindes. Er stellte einen Antrag auf Asylanerkennung. Nach seiner Anhörung vom 13. Dezember 2002 wurde dieser Antrag durch Bescheid vom 10. Oktober 2003 abgelehnt. Eine dagegen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg (Urteil der Kammer vom 28.2.2005 - 1 A 380/03 -; Beschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 27.4.2005 - 7 LA 52/05 -). Anschließend erhielt der Antragsteller Duldungen.

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Im April 2006 stellte der Antragsteller mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, er sei - nachdem er schon in Kasachstan Kontakt zu christlichen Hilfsorganisationen gehabt und er sich in Moskau unter dem Einfluss seiner russischen Ehefrau weiterhin mit dem christlichen Glauben beschäftigt habe - inzwischen Christ geworden. Als solcher sei er in Afghanistan bedroht. Durch den mit der Klage angefochtenen Bescheid vom 29. Juni 2006 wurde der Folgeantrag hinsichtlich Art. 16 a Abs. 1 GG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG sowie ein Änderungsantrag zum Bescheid vom 10. Oktober 2003 bezüglich § 53 AuslG ohne Anhörung des Antragstellers abgelehnt. Hierbei wurde darauf verwiesen, dass die frühere Abschiebungsandrohung weiterhin gültig und vollziehbar sei.

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Der zulässige Antrag hat Erfolg.

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1. Zunächst einmal ist die Sache dringend iSv § 80 Abs. 8 VwGO. Denn der Antragsteller ist mit Schreiben der Ausländerbehörde vom 14. August 2006 unter Hinweis auf seine Verpflichtung, das Bundesgebiet zu verlassen, aufgefordert worden, am 22. August 2006 um 9.30 Uhr mit einem Dolmetscher in der Ausländerbehörde zu erscheinen. Zugleich ist er vorbereitend auf eine Abschiebungshaft hingewiesen worden.

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2. Im Verfahren des § 8o Abs. 5 VwGO, das auch im vorliegenden Fall zum Zuge kommt (Renner, AsylVfG, 8. Auflage 2005, § 71 Rdn. 48 m.w.N.), ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO analog § 8o Abs. 4 Satz 3 VwGO zu entscheiden (stdg. Rechtsprechung der Kammer, vgl. VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217 [VG Lüneburg 06.10.2003 - 1 B 45/03] m.w.N.), woran auch die gesetzliche Spezialregelung des § 36 Abs. 4 AsylVfG nichts geändert hat.,

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Auch hiernach hat gerichtlich eine Aussetzung bei ernstlichen Zweifeln schon im Regelfall zu erfolgen (VGH München, BayVBl. 1993, 691; VGH Mannheim, NVwZ-RR 1991, 287 [VGH Baden-Württemberg 23.10.1990 - 8 S 2237/90]; OVG Lüneburg, NJW 1978, 672; Renck, NVwZ 1992, 339; Czermak, BayVBl. 1976, 106; Schoch, aaO. Rdn. 204; Sodan/Ziekow, Nomos-Komm. zur VwGO, Losebl., Bearb. Puttler, Rz 109; a.A. Kopp, aaO, § 80 Rdn. 116). Derartige Zweifel liegen hier vor.

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3. Das Folge- und Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG ist gestuft, so dass in Anlehnung an die Richtlinie 2005/85/ EG d. Rates v. 1. Dezember 2005eine Prüfungsabfolge grundsätzlich in Stufen vorzunehmen ist (HambOVG, NVwZ 1985, 512 [OVG Hamburg 17.05.1984 - OVG Bs VII 246/84]: „gute Möglichkeit einer Asylanerkennung“; h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217 [VG Lüneburg 06.10.2003 - 1 B 45/03]). Nur dann, wenn ein Vorbringen nach jeder Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem flüchtlingsrechtlichen Abschiebungsverbot zu verhelfen, kann ein Folgeantrag als unbeachtlich bewertet werden (BVerfG, DVBl. 1994, 38 [BVerfG 11.05.1993 - 2 BvR 2245/92]; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor.

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4. Es stellt einen Verfahrensmangel dar, wenn bei neuem Vortrag im Folgeverfahren eine Bescheidung - wie hier - ohne Anhörung ergeht (Urteil des VG Darmstadt v. 28.5.2003 - 8 E 752/03.A (2) - Asylmagazin 2003, S. 31). Denn das in § 28 VwVfG normierte, dem Rechtsstaatsprinzip entstammende Anhörungsrecht dient der Fehlervermeidung und der Verhinderung von Willkürentscheidungen sowie letztlich der Wahrung von Grundrechten. Dazu gehört das Recht auf Kenntnisnahme eines Vortrags seitens der Behörde. § 71 Abs. 3 AsylVfG ist entsprechend auszulegen.

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5. Soweit es um die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG geht, ist es so, dass im Vergleich zum Bescheid vom 10. Oktober 2003 eine Änderung der Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) im Hinblick auf § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der GFK, aber auch hinsichtlich der Richtlinie 2004/83/ EG des Jahres 2004 zweifellos gegeben ist. Daneben rechtfertigen die Belege für einen Übertritt zum christlichen Glauben (Schreiben des Pastors der Ev.-luth. Kirchengemeinde M.-B. vom 28. April 2006, Bl. 31 der Beiakten A; Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) eine Befassung mit dem Folgeantrag.

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6. Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG - wie hier - erfüllt, hat das Verwaltungsgericht durchzuentscheiden (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO; vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.).

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7. Dem Kläger droht bei einer Rückführung nach Afghanistan prognostisch für den Zeitpunkt August 2006 eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung iSd Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK. Hierbei reicht eine bloße Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG aus. Auf eine „systematische Verfolgung der Angehörigen nichtislamischer Religionen“ (so S. 4 des angefochtenen Bescheides) kommt es nicht an. Insofern ist im angefochtenen Bescheid ein falscher Maßstab angelegt worden.

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8. Verfolgungshandlungen und -gründe ergeben sich aus Art. 9 und Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 (Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12 ), die heranzuziehen und auch schon beachtlich ist. Nach der Entscheidung des EuGH v. 22. 11.2005 (C-144/04 / Mangold, Amtsbl. der Europ. Union v. 11.2.2006 - C 36/11)

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“obliegt (es) dem nationalen Gericht, die volle Wirksamkeit des allgemeinen Verbotes ...zu gewährleisten, indem es jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt, auch wenn die Frist für die Umsetzung der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist.“

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Hiernach ist eine einschlägige Richtlinie im öffentlichen Recht - im vertikalen Verhältnis - auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist schon unmittelbar anwendbar. Vgl. zur Anwendbarkeit der gen. Richtlinie auch Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG Rdn. 13; EuGH, Urt. v. 9.3.2004 - C 397/01 - Pfeiffer, Rn. 101 ff; Meyer/ Schallenberger, NVwZ 2005, 776; VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - , InfAuslR 2005, S. 296; VG Braunschweig Urt. v. 8.2.2005 - 6 A 541/04 -; VG Stuttgart InfAuslR 2005, 345.; VG Karlsruhe, Urt. v. 14.3. 2005 - A 2 K 10264/03 -; VG Köln NVwZ-RR 2006, 67; BGH, NJW 1998, 2208 [BGH 05.02.1998 - I ZR 211/95]).

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Im Übrigen ist § 28 Abs. 2 AsylVfG angesichts der GFK und des in ihr enthaltenen Flüchtlingsbegriffs eng auszulegen, so dass von einem „Scheitern“ der Flüchtlingsanerkennung an gerade § 28 Abs. 2 AsylVfG keine Rede sein kann (so aber S. 6 Mitte des angefochtenen Bescheides). Denn die Regelung des AufenthG stellt sich als Ausnahme iSv Art. 5 Abs. 3 der gen Richtlinie 2004/83/EG dar und ist daher nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen eng auszulegen. Demzufolge ist auch die in § 28 Abs. 2 AufenthG enthaltene Regel eng auszulegen und jede von ihr abweichende Ausnahme - gemäß dem Grundsatz der gen. Richtlinie in Art. 5 - großzügig und weit.

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§ 28 Abs. 2 AsylVfG ist zudem wegen Widerspruchs zur gen. Richtlinie vorliegend unanwendbar (vgl. dazu Urteil der Kammer v. 24.5.2006 - 1 A 405/03 -).

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9. Die Erfolgsaussichten des gestellten Antrages in der Sache - zugleich die genannten Zweifel - sind hier deshalb anzunehmen, weil bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Art. 1 des Zuwanderungsgesetzes v. 30.7.2004 / BGBl. I S. 1950) iVm der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) nicht von der Hand zu weisen ist.

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Denn als Bedrohungs- und Verfolgungsgrund kommt hier gem. Art. 10 Abs. 1 b) die Religionszugehörigkeit des Antragstellers - seine Zugehörigkeit zum evangelischen Glauben - in Betracht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Aussagen des Antragstellers gem. Art. 4 Abs. 5 der gen. Richtlinie keines besonderen Nachweises mehr bedürfen (anders aber der angefochtene Bescheid, S. 6). Hierbei sind sämtliche persönlichen Umstände des Antragstellers einzubeziehen - hier vor allem sein Zusammenleben mit und seine Heirat einer russischen Frau, seine Beschäftigung mit christlichen Inhalten und vor allem sein Übertritt zum christlichen Glauben einschließlich seiner Taufe (vgl. Art. 4 Abs. 3 c) der Richtlinie). Eine Beschränkung der Glaubensbetätigung auf den häuslich-privaten Bereich - wovon im angefochtenen Bescheid offenbar noch ausgegangen wird (S. 5) - kann dem Antragsteller nicht mehr angesonnen und zugemutet werden, wie Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie aufzeigt: Hiernach ist bei religiöser Betätigung auch der öffentliche Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, ausdrücklich umfasst. Auch insofern geht der Bescheid von einem unzutreffenden Maßstab aus.

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Zu Recht verweist der Antragsteller auf den „Fall“ des ebenfalls zum Christentum konvertierten afghanischen Staatsbürgers Abdul Rahman: Nur aufgrund eines massiven Drucks aus dem Ausland und besonderer Bemühungen des deutschen Außenministeriums konnte seine Hinrichtung bzw. unverhältnismäßige Bestrafung verhindert werden. Auch nach Ausrufung der Republik Afghanistan, in der theoretisch eine Religionsfreiheit existiert, werden die gesellschaftlichen Verhältnisse tatsächlich noch von traditionellen islamischen Werten bestimmt. Konvertiten sind der staatlich-gerichtlichen bzw. besonders der nichtstaatlichen Verfolgung und demgemäß einer unübersehbaren Bedrohung ausgesetzt.

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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.

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Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.