Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 29.12.2008, Az.: 1 A 154/06
Asyl; politisches; Flüchtling; Afghanistan; Folgeantrag; Anerkennung als Fl?chtling; Flüchtlingsschutz; Abschiebungsverbot; Wiederaufgreifen; Schlüssigkeitsprüfung; Anhörung; Qualifikationsrichtlinie; Schädigung; Schutzlehre; Diskriminierung; Verfolgung, individuelle; Menschenrechte; Kumulierung; Verfolgungsmahnahmen; Einzelmaßnahmen; Unterschwellige
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 29.12.2008
- Aktenzeichen
- 1 A 154/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 45940
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:2008:1229.1A154.06.0A
Rechtsgrundlagen
- 16a I GG
- 28 AsylVfG
- 77 I AsylVfG
- Richtlinie 2004/83/EG
- 9
- 10 Richtlinie 2004/83/EG
- Richtlinie 2005/85/EG
- 60 I AufenthG
- 60 V AufenthG
- 51 I-III VwVfG
- 4 Qualifikationsrichtlinie
- 5 III Qualifikationsrichtlinie
- 33 GFK
Tatbestand
Dem Kläger geht es um seine Asylberechtigung bzw. seine Anerkennung als Flüchtling sowie die Feststellung von Abschiebungsverboten gem. § 60 AufenthG.
Der 1970 geborene, seit Dezember 2000 mit einer russischen Christin verheiratete Kläger afghanischer Staatsangehörigkeit (Volkszugehörigkeit: Paschtunen) und evangelischen Glaubens kam im Dezember 2002 nach Deutschland. Er ist Vater eines im Frühjahr 2002 geborenen Kindes. Er stellte einen Antrag auf Asylanerkennung. Nach seiner Anhörung vom 13. Dezember 2002 wurde dieser Antrag durch Bescheid vom 10. Oktober 2003 abgelehnt. Die dagegen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg (Urteil der Kammervom 28.2.2005 - 1 A 380/03 -; Beschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 27.4.2005 - 7 LA 52/05 -). Anschließend erhielt der Kläger Duldungen.
Im April 2006 stellte der Kläger mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, er sei - nachdem er schon in Kasachstan Kontakt zu christlichen Hilfsorganisationen gehabt und er sich in Moskau unter dem Einfluss seiner russischen Ehefrau weiterhin mit dem christlichen Glauben beschäftigt habe - inzwischen Christ geworden. Als solcher sei er in Afghanistan bedroht. Durch den mit der Klage angefochtenen Bescheid vom 29. Juni 2006 wurde der Folgeantrag hinsichtlich Art. 16a Abs. 1 GG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG sowie ein Änderungsantrag zum Bescheid vom 10. Oktober 2003 bezüglich § 53 AuslG ohne Anhörung des Klägers abgelehnt. Hierbei wurde darauf verwiesen, dass die frühere Abschiebungsandrohung weiterhin gültig und vollziehbar sei.
Ein am 17. August 2006 gestellter Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hatte bei der Kammer Erfolg(1 B 40/06).
Zur Begründung seiner am 12. Juli 2006 erhobenen Klage trägt der Kläger vor, er sei 1998 - nachdem er Ende 1997 von den Taliban wegen seines Bruders Abdul Ghani inhaftiert und gefoltert worden war - aus Afghanistan geflohen, habe zunächst in Kasachstan als Lehrer und danach in Moskau gelebt und gearbeitet, hier seine Frau kennen gelernt, und sei nach einem Aufenthalt in Pakistan (Peshawar / Afghan-Colony), wo sein Sohn geboren und seine Wohnung überfallen worden sei, dann im Jahre 2002 in die Bundesrepublik gekommen. Er habe sich unter dem Einfluss seiner russischen Frau zunehmend - schon in Moskau - dem Christentum zugewandt und sich im Jahre 2006 in der evangelisch-lutherischen Kirche von B. taufen lassen. Schon in Kasachstan habe er Kontakt zu christlichen Hilfsorganisationen gehabt, die dort Religionsunterricht erteilt hätten. Als Christ sei er in Afghanistan erheblich bedroht: Nach einem Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion werde man in Afghanistan als "Mortad" bezeichnet, der staatlicher und nichtstaatlicher Verfolgung schutzlos preisgegeben sei.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 2006, zugestellt am 30. Juni 2006, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen
- 2.
die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass hinsichtlich Afghanistans Abschiebungshindernisse gem. § 60 Abs. 1, hilfsweise gem. § 60 Abs. 2 bis z AufenthG vorliegen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er bezieht sich zur Begründung auf die Gründe des angefochtenen Bescheides.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage, über die im erklärten Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann, ist insoweit begründet, als es dem Kläger um seine Anerkennung als Flüchtling geht.
Im Übrigen, soweit der Kläger seine Anerkennung als Asylberechtigter erstrebt, ist sie abzuweisen. Denn der Kläger ist auf dem Landweg über unbekannte Drittländer in das Bundesgebiet gekommen, so dass er sich gem. Art. 16a Abs. 2 S. 1 GG, § 26a AsylVfG nicht auf das Grundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG berufen kann (vgl. dazu schon Urteil der Kammerv. 28. Februar 2005 - 1 A 380/03 -, S. 4 d. Abdrucks).
Der Kläger ist jedoch für den gem. § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung jetzt als Flüchtling anzuerkennen (§ 3 AsylVfG iVm Art. 13 der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG, Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12). Denn durch das "Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union" - EURLAsylUmsG- vom 19.8.2007 (BGBl. I 2007, S. 1970) ist § 60 Abs. 1 AufenthG geändert worden und durch seinen Satz 5 die Anwendung der gen. Qualifikationsrichtlinie (vgl. Art. 9 und Art. 10, Verfolgungshandlungen / -gründe) ausdrücklich vorgeschrieben. Mit dieser Anerkennung verbunden ist zugleich die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560). Er darf daher nicht nach Afghanistan abgeschoben werden.
1. Die Prüfung im vorliegenden Folge- und Wiederaufgreifensverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG hat in Anlehnung andie Richtlinie 2005/85/ EG d. Rates v. 1. Dezember 2005 in Stufen zu erfolgen (h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217 [VG Lüneburg 06.10.2003 - 1 B 45/03]). In der 1. Stufe ist lediglich substantiiert vorzutragen, was seitens der Beklagten nur dann als unbeachtlich verworfen werden kann, wenn der Vortrag völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot iSv § 60 AufenthG zu verhelfen (BVerfG, DVBl. 1994, 38 [BVerfG 11.05.1993 - 2 BvR 2245/92]; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233 [BVerfG 13.03.1993 - 2 BvR 1988/92]). Insoweit hat der Kläger hier unter Vorlage einer Bescheinigung der "Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde C." vom 28. April 2006 sowie einer Taufurkunde (Bl. 44 VerwV.) dargelegt, er sei zum christlichen Glauben übergetreten.
Unter diesen Voraussetzungen hat die Beklagte den Folgeantrag des Klägers zu Unrecht mit der Begründung abgelehnt, eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage iSv 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liege nicht vor (S. 3 d. Bescheides): Im Konflikt zwischen der Rechtssicherheit (Rechtskraft des Urteils der Kammerv. 28. Februar 2005 - 1 A 380/03 -) und der Gerechtigkeit steht die gesetzlich festgeschriebene Verpflichtung jeder Behörde ("hat"), ein Verfahren gem. § 51 VwVfG dann jedenfalls wieder aufzugreifen und sachlich zu prüfen, wenn eine summarische Schlüssigkeitsprüfung die Eignung des Vortrags für einen Erfolg nahelegt (BVerwGE 78, 332/336[BVerwG 15.12.1987 - BVerwG 9 C 285.86]; VGH München NVwZ 1990, 269 [BVerwG 05.09.1989 - 9 C 98.86]; OVG Münster NVwZ 1986, 51/52). Hierbei ist auch, ohne dass eine Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsland oder jener des Klägers vorliegen müssen, bereits eine Änderung nur der Rechtslage beachtlich (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG: "oder"). Daneben rechtfertigt der mit der Taufe vollzogene Übertritt zum christlichen Glauben eine sachliche Neubefassung mit dem Antrag des Klägers.
Das gilt nun für den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 AsylVfG) hier in besonderem Maße, weil mit dem "Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union" - EURLAsylUmsG- vom 19.8.2007 (BGBl. I 2007, S. 1970) § 60 Abs. 1 AufenthG deklaratorisch verändert und durch Satz 5 die Anwendung der Qualifikationsrichtlinie (vgl. Art. 9 und Art. 10, Verfolgungshandlungen / -gründe) jetzt ausdrücklich vorgeschrieben ist - wenngleich diese Richtlinie schon seit dem 10. Oktober 2006 in der Bundesrepublik unmittelbar geltendes Recht ist.
Im Übrigen stellt es rechtsstaatlich einen gravierenden Verfahrensmangel und zugleich einen Verstoß gegen Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie mit dessen Gebot individueller Prüfung dar, wenn bei neuem Vortrag im Folgeverfahren eine Bescheidung - wie hier - ohne jede Anhörung des Klägers ergeht. Grundsätzlich hat nämlich eine individuelle Prüfung zu erfolgen (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie), ist zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen rechtliches Gehör zu gewähren (§ 28 VwVfG). Vgl. dazu Schlussantrag des Generalanwalts M. Poiares Madurov. 9.9.2008 - C-465/07 - Pkt. 33:
"Deshalb muss das Kriterium, das die Richtlinie sowohl für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aufstellt, als ein Instrument verstanden werden, das die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Gefahr und der Verletzung von Grundrechten abzuschätzen ermöglicht. Die Bedeutung und die Art des für die Zuerkennung subsidiären Schutzes geforderten individuellen Bezugs sind daher unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen."
Das ist im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 71 Abs. 3 S. 3 AsylVfG zu beachten, der unter dem Eindruck der genannten Bestimmungen entsprechend eng auszulegen bzw. unanwendbar zu lassen ist. Die entsprechende Fehlerhaftigkeit des Folgeantragsverfahrens führt hier zugleich dazu, dass die getroffene Entscheidung rechtswidrig ist (vgl. VG Frankfurt/M., InfAuslR 2003, S. 119; Urteil des VG Darmstadt v. 28.5.2003 - 8 E 752/03.A (2) - Asylmagazin 2003, S. 31).
2. Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG - wie hier - erfüllt, hat das Verwaltungsgericht durchzuentscheiden (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO; vgl. BVerwGE 106, 171[BVerwG 10.02.1998 - 9 C 28.97] = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.).
Diese Entscheidung hat sich vor allem an der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EGv. 30.9.2004, L 304/12) mit ihren Art. 9 und Art. 10 zu orientieren, welche zumindest seit Oktober 2006 die "verbindlich geltende europarechtliche Grundlage des Rechts auf Flüchtlingsanerkennung" ist (Hoffmann, Beilage z. Asylmagazin 5/2007, S. 9/ S. 14; VG Düsseldorf, Urt.v. 8.2.2007 - 9 K 2279/06.A -).
"Soweit die Richtlinie nicht oder nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt ist, können sich die Betroffenen unmittelbar auf sie berufen (vgl. EuGH vom 19.11.1991, DVBl 1992, 1017). Unbestimmte Rechtsbegriffe in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten sind im Licht der Richtlinie auszulegen. Das gilt sowohl hinsichtlich der relevanten Verfolgungshandlungen als auch im Hinblick auf die zu berücksichtigenden Verfolgungsgründe." - BayVGH,Urt.v. 23.10.2007 - 14. B 06.30315.
Denn die Europäische Union wollte im Oktober 1999 in Tampere "zu ihren Verpflichtungen aus der GFK uneingeschränkt" stehen (Clodius, Beilage zum Asylmagazin 5/2007, S. 1 Fußn. 4) und ein europäisches Mindestmaß an Flüchtlingsschutz festlegen. Die nach 2-jährigen Verhandlungen verabschiedete Richtlinie ist im Verhältnis Bürger/Staat (Behörden) unmittelbar geltendes Recht(EuGH v. 22.6.1989 / Rs 103/88, Slg. 1989, S. 1861/ 1870 f. - Fratelli Costanzo). Sie ist nicht etwa nur im Rahmen nationaler Vorschriften zu "berücksichtigen" (VGH Baden-W., Beschl.v. 19.12.2006 - A 3 S 1274/ 06 -), sondern nach ihrem Sinn und Zweck "Leitstern" jeder asyl- und flüchtlingsrechtlichen Bewertung, zumal sie sehr viel konkretere Vorgaben und ausgefächertere Wertungsgesichtspunkte als § 60 AufenthG enthält, der sehr pauschal von einer "Bedrohung" spricht. Sie lenkt und leitet die zu treffenden Entscheidungen auslegungsmethodisch:
"Dies folgt aus dem Zweck der Qualifikationsrichtlinie. Gemäß Absatz 1 der Präambel ist Ziel, eine gemeinsame Asylpolitik der in der Europäischen Union verbundenen Mitgliedstaaten zu schaffen. Mittels eines gemeinsamen Asylsystems sollen die einzelstaatlichen Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft einander angenähert werden (Präambel Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG). Wesentliches Ziel der Qualifikationsrichtlinie ist es, ein Mindestmaß an Schutz von Flüchtlingen in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten (Präambel Abs. 6 Richtlinie 2004/83/EG), auch um die Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten, soweit sie auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften beruht, einzudämmen (Präambel Abs. 7 Richtlinie 2004/83/EG). Nach den Absätzen 16 und 17 der Präambel sollen Mindestnormen für die Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft und ihre Merkmale festgelegt werden, um die jeweiligen innerstaatlichen Stellen der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention zu leiten und gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 der Genfer Konvention einzuführen. Die Qualifikationsrichtlinie bestimmt den Umfang des mit dem Flüchtlingsstatus verbundenen Schutzes deshalb unabhängig von der jeweiligen Auslegung der Genfer Konvention in den einzelnen Mitgliedstaaten." - BayVGH, Urt.v. 23.10.2007 - 14 B 06.30315 -
Diejenigen Regelungen des AsylVfG und des AufenthG, die der Qualifikationsrichtlinie widersprechen oder ihr entgegenstehen, sind wegen des europarechtlichen Vorrangs der Richtlinie richterrechtlich unangewendet und gerichtlich daher unbeachtet zu lassen.
Soweit § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG n.F. lediglich die "ergänzende Anwendung" der gen. Richtlinie - beschränkt auf bestimmte Artikel - vorsieht, ist methodisch durch das Gericht dem unmittelbaren Vorrang der Qualifikationsrichtlinie Rechnung zu tragen, was vor allem auch für den in Art. 5 der Richtlinie geregelten Bedarf an internationalem Schutz gilt, der aus Nachfluchtgründen entstehen kann. Insofern ist § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG unter Orientierung am europarechtlichen Schutzbedarf erweiternd auszulegen.
3. Dem Kläger droht im Falle seiner Rückführung nach Afghanistan für den Zeitpunkt des Jahres 2009 eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung iSd Kapitel II und IIIder Richtlinie 2004/83/EG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK. Er ist schutzbedürftig und daher als Flüchtling anzuerkennen.
3.1 Der Maßstab für diese Anerkennung ist der humanitären Intention zu entnehmen, die das Flüchtlings- und Asylrecht im Lichte der GFK und der Qualifikationsrichtlinie insgesamt prägt: Es soll demjenigen Aufnahme und Schutz gewährt werden, der sich in einer für ihn - subjektiv (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie: "Furcht vor Verfolgung") - ausweglosen Lage befindet (BVerfGE 80, 315 / 335 [BVerfG 10.07.1989 - 2 BvR 501/86]). Konkretisiert wird diese Intention durch die GFK und die Qualifikationsrichtlinie, so dass eine prognostisch feststellbare, sich aus einer Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen (Art. 9 Abs. 1b Qualifikationsrichtlinie) ergebende Bedrohung (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG iVm GFK) für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan bereits für eine Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG ausreicht. Auf eine "systematische Verfolgung" (S. 4 des angef. Bescheides) kommt es überhaupt nicht an.
Solche Bedrohung setzt nach der heutigen Schutzlehre (lediglich) voraus, dass im Herkunftsstaat kein hinreichender Schutz vor Diskriminierungen, Willkürmaßnahmen und Nachstellungen iSe "Verfolgung" besteht. Unmaßgeblich ist, wem die Bedrohung zugerechnet werden kann und ob sie etwa staatlich - sei es durch Strafverfolgungsbehörden, durch Polizei oder sonstige Ordnungsbehörden - oder aber durch andere Akteure veranlasst ist. Vgl. Marx, "Leitsätze zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 13 RL 83/2004/ EG (Qualifikationsrichtlinie)", III 1 Nr. 18:
"Zweck der Schutzlehre ist demgegenüber die präventive Gewährleistung internationalen Schutzes, weil im Herkunftsstaat gegen Verfolgungen kein Schutz verfügbar ist. Aus dieser unterschiedlichen Zwecksetzung folgt, dass Schutzversagen infolge zerbrochener oder ineffektiver Schutzstrukturen zwar die Zurechnungslehre, nicht aber die Schutzlehre begrenzt. Im Flüchtlingsvölkerrecht verfehlt daher der Einwand, dass kein Staat einen perfekten und lückenlosen Schutz sicherstellen kann, den Kern des Schutzgedankens."
Hierbei sind die Verfolgungsgründe des Art. 10 Richtlinie maßgeblich, deretwegen die vom Flüchtling befürchteten Bedrohungen iSv Art. 9 Richtlinie bestehen (vgl. Urt.d. VG Bremen v. 21.1.2008 - 4 K 1327/07.A). Insoweit können sehr umfassend sämtliche administrativen und sonstigen staatlichen Maßnahmen einschließlich der dabei geübten Sanktionspraxis schon in ihrer Gesamtheit (Kumulation) bedrohungsrelevanten Charakter haben, wenn sie nur eine entsprechende Tendenz aufweisen (BVerwGE 71, 180 f.[BVerwG 16.04.1985 - 9 C 109/84]). Dabei sind auch Maßnahmen anderer Organisationen bzw. Akteure, ganz ausdrücklich auch jene "nichtstaatlicher Akteure" (Art. 6c d. Richtlinie), die nur einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, für einen internationalen Schutz zu berücksichtigen, da auch sie schadenstiftend sein können.
Bei Anwendung der Art. 9 und 10 der Qualifikationsrichtlinie reicht es aus, dass aufgrund einer Gesamtbetrachtung Menschenrechte iSv Art. 9 Abs. 1 (mit den Regelbeispielen aus Art. 9 Abs. 2) gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG betroffen und bedroht erscheinen bzw. der Kläger - bei "Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen" - in einer nur "ähnlich" gravierenden Weise "betroffen" ist (Art. 9 Abs. 1b der Richtlinie), er also eine begründete - subjektive - Furcht (Art. 4 Abs. 4) vor einer zureichend gravierenden Bedrohung (vgl. Art. 2c) plausibel machen kann.
"Die bisher von der deutschen Rechtsprechung vorgenommene separate Betrachtung jeder einzelnen Verfolgungsmaßnahme auf ihre Asylerheblichkeit ist damit überholt. Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung. Eine Häufung unterschiedlicher Maßnahmen, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der Verfolgung erfüllt, kann dazu führen, dass ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen kumulativer Gründe besteht..." - VG Köln, Urt.v. 12.10.07 - 18 K 6334/05.A -
Der Bedrohungscharakter verschiedener, u.U. zusammenspielender Sanktions- und Schadensmaßnahmen ist unter Berücksichtigung kultureller Besonderheiten im Herkunftsland lebenspraktisch zu erfassen. Vgl. dazu "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR)zur Richtlinie 2004/83/ EG" vom Mai 2005, dort zu Art. 9 Abs. 1:
"Schwerwiegende Diskriminierung und die Kumulativwirkung unterschiedlicher Maßnahmen, die für sich genommen keinen Verfolgungscharakter aufweisen, sowie schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen können sowohl einzeln als auch zusammen mit sonstigen negativen Faktoren zu einer begründeten Furcht vor Verfolgung führen; oder mit anderen Worten das Leben im Herkunftsland für die betroffene Person in vielerlei Hinsicht so unsicher gestalten, dass der einzige Ausweg in dem Verlassen des Herkunftslands besteht."
Ein enger Katalog der in Betracht zu ziehenden Verfolgungshandlungen bzw. Bedrohungen ist angesichts der in Afghanistan noch immer praktizierten Stammesriten, Ausgrenzungen, Verfolgungen und Demütigungen sachlich verfehlt, zumal es nach der Qualifikationsrichtlinie (Art. 9 Abs. 1b) nicht mehr allein darauf ankommt, ob Verfolgungshandlungen die Menschenwürde oder Kern- bzw. Randbereiche von Menschenrechten verletzen (Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 5). Erst recht gebietet Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie eine lebensnahe Gesamtbetrachtung und -bewertung einer Vielzahl nur unterschwelliger Einzelhandlungen, die je für sich noch nicht verfolgungsrelevant sein mögen (Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen), das in ihrer Gesamtheit jedoch werden (vgl. Urt.d. VG Köln v. 12.10.2007 - 18 K 6334/ 05.A -). Vgl. "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR)zur Richtlinie 2004/83/ EG" v. Mai 2005, dort zu Art. 9 Abs. 1:
"Nach Auffassung von UNHCR muss die Auslegung des Begriffs der Verfolgung flexibel, anpassungsfähig und offen genug sein, um die veränderlichen Ausprägungen von Verfolgung erfassen zu können."
Vgl. insoweit auch Bank/Schneider in Beilage zum Asylmagazin 6/2006, S. 5:
"Auch die Qualifikationsrichtlinie, in der die Verfolgungshandlung in Art. 9 durch zahlreiche Kriterien weiter konkretisiert wird, enthält einen offenen Verfolgungsbegriff. Zwar wird dabei der schwerwiegende Charakter der Verletzung grundlegender Menschenrechte betont, ohne jedoch eine Beschränkung auf bestimmte Menschenrechte vorzunehmen."
Eine Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG iVm Art. 9 Richtlinie ist somit schon dann beachtlich wahrscheinlich, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht sprechenden Umstände bei lebensnaher Betrachtung ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nach richterlicher Wertung überwiegen (vgl. Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, UNHCR-Zeitschrift "Flüchtlinge", August Nr. 1987, S. 8 / 9; vgl. auch VG Bremen, Urt.v. 21.1.2008 - 4 K 1327/07.A -; so schon BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389 [BVerwG 03.11.1992 - BVerwG 9 C 21/92]; OVG Lüneburg, Urt.v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92). Vgl. OVG Frankfurt/Oder v. 14.4.2005 - 4 A 783/01 -:
"Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise i.S. einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn auf Grund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht."
Auf die für eine zurückschauende Asylanerkennung mit ihrem Zusammenhang von Flucht - in der Vergangenheit - und damaliger Verfolgung (Art. 16a Abs. 1 GG, § 28 Abs. 1 AsylVfG) geltenden Kriterien kommt es nicht mehr an. Vgl. Marx, aaO., Nr. 29:
"Ist dem Antragsteller vor der Ausreise keine Verfolgung widerfahren oder hat diese ihm nicht gedroht, kommt es entscheidungserheblich darauf an, ob eine ernsthafte Möglichkeit dafür besteht, dass er gegen glaubhaft gemachte Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure individuell Zugang zu einem wirksamen und angemessenen nationalen Schutzsystem nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie erlangen kann. Bei glaubhaft gemachter Verfolgung durch den Staat oder vergleichbare Organisationen ist hingegen davon auszugehen, dass kein individueller Zugang zum nationalen Schutzsystem besteht bzw. dieses keinen angemessenen und wirksamen Schutz bereithält."
Entscheidend ist somit, ob bei zukunftsgerichteter Betrachtung beachtliche Anknüpfungsmerkmale (iSd Art. 9 und Art. 10 Qualifikationsrichtlinie) vorliegen, deretwegen eine Bedrohung bzw. Betroffenheit iSv § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG in Zukunft nachvollziehbar und iSd Qualifikationsrichtlinie (Art. 9 u. 10) begründet erscheint. Das ist hier der Fall.
3.2§ 60 Abs. 1 AufenthG ist hier anwendbar, und zwar - entgegen dem angef. Bescheid - auch im Hinblick auf § 28 Abs. 2 AsylVfG: Art. 5 der Richtlinie legt nämlich fest, dass Verfolgungsfurcht auf solchen Aktivitäten des Antragstellers beruhen kann (Abs. 2), die "seit" und nach Verlassen des Herkunftslandes unternommen wurden - vor allem in näher dargestellten Sonderfällen. Irgendwelche Einschränkungen enthält diese Bestimmung nicht. Vgl. dazu "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR)zur Richtlinie 2004/83/ EG" vom Mai 2005, Art. 5 Abs. 2:
"Auch wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass der Antragsteller bereits im Herkunftsland die Überzeugung oder Ausrichtung vertreten hat, hat der Asylsuchende innerhalb der durch Artikel 2 der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer Menschenrechtsabkommen festgelegten Grenzen ein Recht auf Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit. Diese Freiheiten beinhalten das Recht auf den Wechsel der Religion oder Überzeugungen, der nach der Ausreise stattfinden kann, z.B. aufgrund von Unzufriedenheiten mit Religion oder Politiken des Herkunftslands oder eines gewachsenen Bewusstseins für die Auswirkungen bestimmter Politiken."
Die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie für Folgeanträge - unbeschadet der GFK - den Mitgliedstaaten zugestandene Regelungskompetenz, die in § 28 Abs. 2 AsylVfG ihren Ausdruck gefunden hat, führt nicht zu einem - wie der Beklagte meint - Scheitern der Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG. Denn zum einen enthält Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie insoweit nur eine "Regel", die - wie § 28 Abs. 2 AsylVfG aufzeigt - ausnahmsweise durchbrochen werden kann und in geeigneten Fällen auch zu durchbrechen ist, und zum andern ist die als Wertungskern unverändert zu beachtende GFK hier Anlass und Grund dafür, den Glaubenswechsel des Klägers ausnahmsweise als Nachfluchtgrund anzuerkennen. Alles andere stünde mit der GFK (Kap. I Art. 1 A 2 "Religion") nicht im Einklang, welche die Religionsfreiheit unmittelbar im Anschluss an eine Verfolgung wegen der "Rasse" nennt und damit ihre herausragende Bedeutung unterstreicht.
Unter Beachtung dieser Bedeutung ist zu der individuellen Lage des Klägers und den "Umständen" umfassend eine individuelle Bewertung dahingehend vorzunehmen, ob ihretwegen im Falle einer Rückkehr Verfolgung (iSv Art. 9, etwa Abs. 2b oder d der Richtlinie) stattfindet. Es ist nicht etwa ein beweisrechtlicher Schematismus gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG anzuwenden, der die GFK von vorneherein etwa ausschlösse und nicht mehr zur Geltung kommen ließe, sondern es ist gemäß Art. 4 Abs. 3 der rechtsverbindlichen Qualifikationsrichtlinie eine individuelle Einzelfallbetrachtung unter Beachtung des Verfolgungsanlasses (hier: christl. Religion) vorzunehmen. Hieran hat es die Beklagte ganz eindeutig fehlen lassen. Vgl. dazu Marx, aaO., Nr. 122:
"Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie enthält damit eine besondere verfahrensrechtliche Vorkehrung gegen Missbrauchsfälle und lässt auch wohl einen gewissen beweisrechtlichen Schematismus erkennen. Dieser ist indes mit der GFKunvereinbar. Die Richtlinie gewährt den Mitgliedstaaten Befugnisse nur "unbeschadet der GFK". Sie dürfen damit die Konvention nicht durch die Art und Weise der Behandlung von Nachfluchtgründen verletzen. In diesem Zusammenhang auftretende Probleme können nicht in der abstrakten Weise wie mit der schematisierenden Regelung des Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie gelöst werden. Vielmehr sind sämtliche Umstände des Einzelfalles in den Blick zu nehmen einschließlich der Beziehung zwischen der befürchteten Verfolgung und dem Risiko ihrer Verwirklichung."
Diese Bewertung unterliegt nach der Richtlinie und der GFK keinerlei Beschränkungen - etwa solcher Art, wie sie § 28 Abs. 2 AsylVfG enthält (zeitlicher Regelausschluss des in § 60 Abs. 1 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots). Somit ist § 28 Abs. 2 AsylVfG äußerst eng auszulegen bzw. in geeigneten Fällen unter Einbeziehung der GFK, deren Fortgeltung Art. 5 Abs. 3 Richtlinie ausdrücklich vorschreibt, unangewendet zu lassen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat die aufgeworfene Frage bislang nicht entschieden. Vgl Beschl. BVerwG v. 23.4.2008 - 10 B 106/07 -:
"Auch die Frage nach der Vereinbarkeit des § 28 Abs. 2 AsylVfG (i.d.F. des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl I S. 1950) mit Art. 5 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie betrifft ausgelaufenes Recht."
Soweit das Nds. Oberverwaltungsgericht § 28 Abs. 2 AsylVfG aufgrund des vor der unmittelbaren Geltung der Qualifikationsrichtlinie basierenden Rechtszustandes noch uneingeschränkt im Sinne einer "Verfolgung" und Fortführung einer festen Überzeugung aus dem Heimatland für anwendbar gehalten hat (vgl.Urteil v. 16.6.2006 - 9 LB 104/06 -), ist diese Auffassung inzwischen durch Gesetzesänderung überholt, § 28 Abs. 1a AsylVfG idF des EURLAsylUmsG v. 19.8.2007. Die in neueren Urteilen des Senats (vom 7.7.2008 - z.B. 9 LB 160/06 -) noch erfolgte Bestätigung der Auffassung, es komme auch bei § 60 Abs. 1 AufenthG auf eine "Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht" an, von der nur dann eine Ausnahme gemacht werden könne, wenn sich die Nachfluchtaktivitäten
"als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthaltes im Heimatland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellen oder wenn der Ausländer sich aufgrund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung hat bilden können (vgl. BVerwG, Beschl.v. 22.6.1988 - 9 B 65.88 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 89, Urt.v. 25.10.1988 - 9 C 76.87 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 96 u.v. 2.8.1990 - 9 C 22.89 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 131; OVG Münster, Urt.v. 12.7.2005 - 8 A 780/04.A - ZAR 2005, 422)"
- so Urt. Nds. OVGv. 7.7.2008 - 9 LB 160/06 -,
geht daran vorbei, dass § 28 Abs. 1a AsylVfG inzwischen die behauptete Kausalität "zwischen Verfolgung und Flucht" aufgelöst und für eine Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG auch gerade solche Ereignisse gelten lässt, die zeitlich nach dem Verlassen des Herkunftslandes vom Bewerber um die Flüchtlingseigenschaft selbst geschaffen wurden (vgl. dazu auch Damson-Asadollah in InfAuslR 2006, 426; vgl. ebenso OVG Rheinland-Pfalz, Asylmaganzin 11/2007, S. 23).
3.3 Eine begründete Furcht vor Bedrohung bzw. sonstigen ernsthaften Schäden hat der Kläger für den Fall seiner Abschiebung oder sonstigen Rückführung nach Afghanistan hier in einer Weise geltend gemacht, dass sie beachtlich wahrscheinlich ist.
Als "Verfolgungs"- bzw. Bedrohungshandlungen im Sinne von Art. 9 Qualifikationsrichtlinie, die eine nachvollziehbar begründete Bedrohungsfurcht erzeugen können, kommen hier neben der Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (Art. 9 Abs. 2a der Richtlinie) auch die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 9 Abs. 2d) und u.U. auch diskriminierende Maßnahmen iSv Art. 9 Abs. 2b) der Richtlinie in Betracht, die allesamt als Grund und Anlass den christlichen Glauben des Klägers haben dürften.
Der Kläger ist inzwischen unstreitig christlichen Glaubens (vgl. Schreiben vom 28.4.2006 und Taufbescheinigung v. 11.6.2006). Wenngleich dieser Gesichtspunkt im Erstverfahren noch nicht vorhanden und erst danach neu "entstanden" ist, kann die Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG darauf nicht ohne Weiteres angewendet werden. Zwar mag es sich um einen persönlichen "Umstand" iSv Art. 4 Abs. 3c der Richtlinie handeln, so dass Art. 5 Abs. 3 Richtlinie iVm § 28 Abs. 2 AsylVfG grundsätzlich zur Anwendung kommt, aber nach der GFK und der Qualifikationsrichtlinie ist aufgrund einer individuellen Prüfung (Art. 4 Abs. 3 RL) eine Bewertung dahingehend vorzunehmen, ob von der bloßen "Regel" des § 28 Abs. 2 AsylVfG, die ohnehin zurückhaltend und eng auszulegen ist, im vorliegenden Fall eine Ausnahme zu machen ist. Das ist hier der Fall. Denn es ist nicht erkennbar, dass der Kläger aus lediglich asyltaktischen Gründen zum christlichen Glauben übergewechselt ist. Er hat eine ganze Reihe von jeweils einstündigen Gesprächen mit dem Pastor der Evang.-luth. Kirchengemeinde C. geführt, der im Falle des Klägers "besonders sorgfältig" geprüft hat, ob der christliche Glaube "seine neue geistliche Heimat werden" könne (Schr.v. 28.4.2006/ Bl. 31 VerwV.). Der Kläger hat danach wichtige Teile der Bibel auf persisch gelesen und sich mit dem Koran und mit der Bibel beschäftigt. Es kann davon ausgegangen, dass der gen. Pastor den Kläger nicht getauft hätte, wenn dieser nicht zur Überzeugung des Pastors eine inhaltlich christliche Haltung gefunden hätte. Abgesehen davon, dass seine Aussagen kohärent und plausibel (Art. 4 Abs. 5c Richtlinie), zudem sogar durch Bescheinigungen und Schreiben belegt sind (Bl. 31 und Bl. 44 VerwV.), ist auch im Übrigen sehr nachvollziehbar, dass er unter dem Einfluss seiner Ehefrau schon in Russland begonnen hat, sich mit dem christlichen Glauben zu beschäftigen. Wenn im angef. Bescheid bezüglich des Glaubenswechsels und der Abwendung des Klägers vom Islam demgegenüber von "nicht nachprüfbaren Behauptungen" (S. 6 d. Bescheides) die Rede ist, so wird das in seiner Oberflächlichkeit der Sach- und Rechtslage nicht gerecht.
Unter solchen Umständen ist der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan in einem hohen Maße gefährdet und damit europarechtlich schutzbedürftig. Denn eine Religionsfreiheit, wie sie in der afghanischen Verfassung unter starken Einschränkungen angesprochen ist, wird in der Realität Afghanistans nicht beachtet und gewährt. Vgl. Sächs. OVG, Urt.v. 26.8.2008 - A 1 B 499/07 -:
"Die aktuelle Verfassung von 2003 erklärt in ihrem Art. 2 den Islam zur Staatsreligion. Zugleich wird den Angehörigen anderer Religionen das Recht gewährt, ihre Religion frei auszuüben, wobei sich dieses allerdings "innerhalb des gesetzlichen Rahmens" zu halten hat. Der einschränkende Charakter dieser Regelung wird deutlich bei einem Blick auf Art. 3 der Verfassung, wonach kein Gesetz gegen die heilige Religion des Islam verstoßen darf.
Somit sind alle Gläubigen, die sich nicht zum Islam bekennen, also nicht nur Hindus, sondern auch Christen in Afghanistan nach wie vor in einem sehr hohen Maße gefährdet, sobald sie dort als Andersgläubige erkannt worden sind. Vgl. dazu Sächs. OVG, Urt.v. 26.8.2008 - A 1 B 499/07 -:
"Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Hindus als kleine Minderheit in Afghanistan, deren Zahl von 1992 bis heute von 50 - 200 000 Mitgliedern auf 2 500 - 5 000 Mitglieder geschrumpft ist (SFH, a.a.O., S. 5 f.; Afghan Hindu e.V., a.a.O., S. 3), für den Fall öffentlicher Religionsbetätigung, insbesondere im Zusammenhang mit der Veranstaltung von religiösen Festen und der Durchführung von Totenritualen, einer kollektiven Verfolgungsgefahr im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt sind, da sie den mit Gefahr für Leib und Leben verbundenen Übergriffen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung schutzlos ausgeliefert sind."
Was für Hindus als Andersgläubige gilt, das gilt in einem vergleichbaren Maße auch für Christen. Vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 19.6.2008 - 20 A 3886/05.A -:
"Eine nennenswerte christliche Minderheit gab und gibt es in Afghanistan nicht. Möglichkeiten zur öffentlichen Ausübung der christlichen Religion in Gemeinschaft bestehen nicht. Die Zahl der Konvertiten ist seit jeher gering. Deren tatsächliche Situation ist weithin unbekannt. Sie versuchen ihr Bekenntnis aus Angst vor Übergriffen der Staatsorgane oder des sozialen Umfeldes, geheim zu halten. Selbst zu Gottesdiensten, die in Privathäusern von internationalen Organisationen regelmäßig abgehalten werden, erscheinen sie, aus Angst aufzufallen, nicht (AA 07.03.2008, 22.12.2004). Diese Furcht ist angesichts der gegebenen gesellschaftlichen und politischen Strukturen objektiv begründbar. Die Sicherheitslage ist landesweit weiterhin sehr angespannt.
Die Gesellschaftsstrukturen sind trotz der Verabschiedung einer vom Westen stark beeinflussten Verfassung nach wie vor islamistisch geprägt. Dabei herrscht eine ausgeprägte Gruppen- und Stammesmentalität. Die Menschenrechtssituation in Afghanistan verbessert sich nur langsam (AA 07.03.2008). Allerorten ist eine besondere Sensibilität festzustellen, was eine von außen herangetragene abweichende Prägung der Gesellschaft, vor allem was vermeintliche Angriffe gegen den Islam angeht. Die Notwendigkeit, sich dessen zu erwehren, wird praktisch nicht in Frage gestellt. Das Recht der Scharia beansprucht im Grunde in allen Landesteilen und Lebensbereichen Geltung. Die Apostasie wird demgemäß weiterhin als eines der schwersten Verbrechen empfunden, das den Tod verdient. Schwierigkeiten bei diesbezüglichen Auffälligkeiten ergeben sich nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch in der weiteren Umgebung (Danesch 13.05.2004). Darüber hinaus stehen zugleich Maßnahmen durch Behörden bzw. Gerichte der erst im Aufbau befindlichen afghanischen Staatsorganisation zu befürchten; staatlicher Schutz gegen mit Apostasie begründete Übergriffe ist jedenfalls nicht zu erlangen. Denn der Islam ist Staatsreligion. Die in Art. 2 Absatz 2 der am 26. Januar 2004 von Staatspräsident Karsai unterzeichneten afghanischen Verfassung bestimmte Religionsfreiheit schützt Angehörige anderer Religionen; sie gilt nicht für Muslime (AA 07.03.2008). Des weiteren enthält die Verfassung den Vorbehalt, dass Gesetze nicht dem Glauben und den Bestimmungen des Islam zuwiderlaufen dürfen (Art. 3). Im Lichte dieses Vorbehaltes ist die in Art. 7 vorgeschriebene Gültigkeit der ratifizierten internationalen Verträge, auch die der "Allgemeinen Menschrechtserklärung" zu sehen. Der Vorbehalt wird von den meisten afghanischen Juristen als Erfordernis der Konformität mit der Scharia ausgelegt (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht vom 03.01.2008). Dafür, dass sich die Verfassungswirklichkeit anders ausgestaltet, spricht nichts. Viele in der Justiz Tätige sind Imame oder Kleriker. Auch sonst sind Grund- und Menschenrechte unter praktizierenden Richtern weitgehend unbekannt und werden schon deshalb nicht angemessen berücksichtigt (Max-Planck-Institut a.a.O.). Die besondere Gefahrenlage, die sich im Falle der Apostasie ergeben kann, verdeutlichen einzelne Vorfälle, die zwar allein nach ihrer Zahl - zumal jeweils Besonderheiten einzustellen sein dürften - trotz der als klein anzunehmenden, jedoch nicht verlässlich zu ermittelnden Größe des Kreises möglicherweise Betroffener noch nicht zwingend auf eine beachtliche Wahrscheinlichkeit schließen lassen, aber unter gebotener Berücksichtigung der gesellschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten sowie des Gewichtes drohender Maßnahmen zu einer solchen Folgerung führen."
Eine Beschränkung seiner Glaubensbetätigung auf den häuslich-privaten Bereich, die nach dem angefochtenen Bescheid offenbar für zumutbar gehalten wird (S. 5), kann dem Kläger nicht angesonnen und zugemutet werden, wie Art. 10 Abs. 1b) der Richtlinie aufzeigt: Hiernach ist bei religiöser Betätigung auch der öffentliche Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, ausdrücklich umfasst. Insofern geht der Bescheid von einem unzutreffenden Maßstab aus. Vgl. Sächs. OVG, Urt.v. 26.8.2008 - A 1 B 499/07 -:
"Im Ergebnis gehen Art. 9 und Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie damit über die bisherige Rechtsprechung hinaus, .... Über das danach ausschließlich geschützte "forum internum" kommt unter der Geltung der Richtlinie grundsätzlich auch der Schutz des "forum externum" in Betracht."
Selbst dann jedoch, wenn der Kläger sich - ähnlich wie in Afghanistan lebende Hindus - auf ein forum-internum beschränkte, wäre damit noch nicht garantiert, dass nicht doch Nachbarn oder Bekannte ihn als Christ erkennen und entlarvten. Da Staatsbedienstete und Richter vorwiegend Imame und Kleriker sind, wäre dann eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafe wahrscheinlich - abgesehen von menschenunwürdigen Diskriminierungen aller Art, denen der Kläger dann ausgesetzt sein könnte.
Zu Recht verweist der Kläger in diesem Zusammenhang auf den "Fall" des ebenfalls zum Christentum konvertierten afghanischen Staatsbürgers Abdul Rahman: Nur aufgrund eines massiven Drucks aus dem Ausland und besonderer Bemühungen des deutschen Außenministeriums konnte seine Hinrichtung bzw. unverhältnismäßige Bestrafung verhindert werden. Auch nach Ausrufung der Republik Afghanistan, in der theoretisch eine Religionsfreiheit existiert, werden somit die gesellschaftlichen Verhältnisse tatsächlich noch von traditionellen islamischen Werten bestimmt. Konvertiten sind der staatlich-gerichtlichen bzw. besonders der nichtstaatlichen Verfolgung und demgemäß einer unübersehbaren Bedrohung ausgesetzt.
Somit ist der Kläger als Flüchtling (Kap. I Art. 1 A 2 der GFK) anzuerkennen.
4. Von dieser Flüchtlingsanerkennung und Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen hat der Kläger jedoch auch - wie hilfsweise beantragt - einen Anspruch darauf, dass der Beklagte zu seinen Gunsten eine positive Feststellung gem. § 60 Abs. 5 AufenthG trifft.
Denn dann, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen, kann sich jenseits von § 71 AsylVfG aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG iVm Art. 1 und 2 GG die Verpflichtung ergeben, ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren wieder aufzugreifen und so eine neue Sachentscheidung gem. § 60 Abs. 2-7 AufenthG herbeizuführen. Unerheblich ist dabei, wann diese Verbote geltend gemacht worden sind (vgl.BVerfG, Beschluss vom 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, InfAuslR 2000, 16 und VGH Baden-W., NVwZ-RR 2000, 261).
Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die negative Feststellung des Bundesamts im Asylerstverfahren entgegen: Der Beklagte ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn aufgrund einer entsprechenden Sach- und Rechtslage klar wird, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (BVerwG NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr vorliegt, die ein Abschiebungsverbot rechtfertigt, ist dabei ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen (neu) zu beurteilen (vgl.BVerwG, Urteil vom 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urteil vom 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).
Beim Kläger liegt ein Abschiebungsverbot iSv § 60 Abs. 5 AufenthG vor. Das eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ist im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-W., NVwZ-RR 2000, 261). Selbst wenn eine Ermessensreduzierung auf Null nur dann angenommen werden könnte, wenn ein Festhalten an der bestands- und rechtskräftig negativen Entscheidung zu § 60 Abs. 2-7 AufenthG zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde (vgl. BVerwGE 122, 103[BVerwG 20.10.2004 - 1 C 15.03]), besteht hier die Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt. Denn im vorliegenden Fall kann ausschließlich eine für den Kläger günstige Entscheidung ermessensfehlerfrei ergehen. Das Abschiebungsverbot ergibt sich daraus, dass die EMRK (G.v. 7.8.1952 / BGBl. II S. 685, 953) mit ihrem Art. 9 (Religionsfreiheit) hier entgegensteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.