Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 08.06.2007, Az.: 1 B 18/07
Abschiebungsandrohung; Abschiebungshindernisse; Asyl; Asylablehnung; Asylfolgeantrag; Bedrohung; einstweiliger Rechtsschutz; Folgeverfahren; freiwillige Ausreise; Kumulation; Kumulierung; opferbezogene Flüchtlingsbetrachtung; Qualifikationsrichtlinie; Sachänderung; Verfolgungshandlung; Verfolgungsmaßnahme; Verschärfung politischer Verhältnisse; Vietnam; vietnamesischer Staatsangehöriger; vorläufiger Rechtsschutz; Wiederaufnahmeverfahren; Zuwanderungsgesetz; Änderung der Sachlage
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 08.06.2007
- Aktenzeichen
- 1 B 18/07
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2007, 71921
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 123 VwGO
- § 71 Abs 1 AsylVfG
- § 60 Abs 1 AufenthG
- Art 9 Abs 1b EGRL 83/2004
- § 10 MRK
- § 7 MRK
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG ist seit dem 11. Oktober 2006 unmittelbar
geltendes Recht.
2. Diese Richtlinie hat die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Flüchtling konkretisiert und qualitativ verändert.
3. Verfolgungscharakter können nach Art. 9 Abs. 1 b der Richtlinie auch je für sich weniger gravierende Maßnahmen haben, die jedoch in ihrer Kumulierung ähnlich menschenrechtsverletzend sind wie schwerwiegende Einzelmaßnahmen.
Gründe
I.
Der 1967 geborene Antragsteller vietnamesischer Staatsangehörigkeit kam 2001 in das Bundesgebiet und stellte einen Asylantrag, der nach einer Anhörung vom 14. Januar 2002 durch Bescheid des Bundesamtes vom 1. April 2003 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde; zugleich wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote oder -hindernisse iSd damals geltenden §§ 51 und 53 AuslG nicht vorliegen. Der Antragsteller wurde zum Verlassen des Bundesgebietes aufgefordert, wobei ihm die Abschiebung nach Vietnam (oder einen anderen Staat) für den Fall angedroht wurde, dass er nicht fristgerecht freiwillig ausreise. Eine dagegen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg (Urteil der Kammer vom 8. Februar 2006 - 1 A 68/03 - und Beschluss des Nds. OVG vom 9. Mai 2006 - 9 LA 75/06 -).
Im Juni 2006 stellte er einen Asylfolgeantrag, der mit Unterlagen belegt wurde, die bereits Gegenstand des vorangegangenen Klageverfahrens waren. Der Antrag wurde durch Bescheid vom 7. Juni 2006 (per Einschreiben am 11.7.2006 zur Post) abgelehnt. Zugleich wurde der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 1. April 2003 bezüglich der Feststellung zu Abschiebungsverboten und -hindernissen abgelehnt. Eine erneute Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung erging mit Rücksicht auf die Vollziehbarkeit der früheren Abschiebungsandrohung nicht.
Am 26. Juli 2006 hat der Antragsteller um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Dieser Antrag wurde durch Beschluss der Kammer vom 15. August 2006 - 1 B 33/06 - abgelehnt, u.zw. deshalb, weil die Angaben des Antragstellers unglaubwürdig seien, wie das Urteil vom 8. Februar 2006 - 1 A 68/03 - zeige.
Am 4. Juni 2007 hat der Antragsteller die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und die Abänderung des Beschlusses vom 15. August 2006 mit der Begründung beantragt, es lägen jetzt Vorladungen der vietnamesischen Polizei vom 3. und 10. April 2007 vor, die belegten, dass die akute Gefahr bestehe, bei einer Rückkehr nach Vietnam verhaftet zu werden und „seine Freiheit und mehr zu verlieren“ . Sein Rückflug nach Vietnam sei für Montag, den 11. Juni 2007, vorgesehen.
Die Antragsgegnerin hat sich bislang nicht geäußert.
II.
Der zulässige Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat im vorliegenden Fall vor allem im Hinblick auf Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560) - GFK - Erfolg (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG, Art. 13 der Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 / Amtsblatt der EG v. 30.9.2004, L 304/12).
1. Der Antrag, Eilrechtsschutz gem. § 123 VwGO zu gewähren, weil erst noch ein Asylfolgeverfahren (1 A 163/06) durchzuführen sei, ist bei der vorliegenden Fallgestaltung der zutreffende Antrag, da eine Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung nicht mehr - wie noch nach der alten Rechtslage - ergangen ist. In diesem Fall gebietet es Art. 19 Abs. 4 GG iVm § 123 VwGO, das Eintreten vollendeter Tatsachen jedenfalls dann zu unterbinden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der behördlichen Maßnahmen bestehen (VG Stuttgart, Urt. v. 12.6.2003 - A 4 K 11624/03 -; VGH Mannheim, NVwZ-Beilage I 2001, S. 8). Derartige Zweifel liegen hier inzwischen vor.
2. Die rechtliche Prüfung im Folge- und Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG hat in Anlehnung an die Vorwirkungen der Richtlinie 2005/85/ EG d. Rates v. 1. Dezember 2005grundsätzlich in Stufen zu erfolgen (h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217 [VG Lüneburg 06.10.2003 - 1 B 45/03]). Ein entsprechender Wiederaufnahmevortrag kann jedoch nur dann als unbeachtlich verworfen werden, wenn er nach jeder Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot zu verhelfen (BVerfG, DVBl. 1994, 38 [BVerfG 11.05.1993 - 2 BvR 2245/92]; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht mehr vor, wie die eingereichten Vorladungen v. 3. und 10.4.07 zeigen.
3. Der Antragsteller hat neue, sich nach dem Urteil der Kammer vom 8. Februar 2006 ereignete Rechtsänderungen (u.a. Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie 2004/ 83/EG) und Sachänderungen - die eingereichten Vorladungen - einschließlich eines schärferen Umgangs des vietnamesischen Staates mit Minderheiten/ „Abweichlern“ vorgetragen. Das ist im Verbund mit den polizeilichen Vorladungen Anlass genug, die Sach- und Rechtslage erneut zu prüfen.
4. Die Erfolgsaussichten des Antrages in der Sache sind hier deshalb anzunehmen, weil bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Art. 1 des Zuwanderungsgesetzes v. 30.7.2004 / BGBl. I S. 1950) iVm der jetzt uneingeschränkt geltenden Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) nicht von der Hand zu weisen ist (vgl. dazu die Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urteile v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 - und v. 22.9. 2005 - 1 A 32/02 - sowie v. 28.9.2005 - 1 A 252/02). Diese Richtlinie hat die Anforderungen an eine Substantiierung asyl- und flüchtlingsrelevanten Vorbringens, aber auch die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling (vgl. Kapitel II und III der Richtlinie) qualitativ grundlegend verändert, was zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigen ist. Das gilt aber auch angesichts des § 60 Abs. 1 AufenthG, der mit seinem Wechsel der Perspektive von einer täter- zu einer opferbezogenen Flüchtlingsbetrachtung den damit befassten Verwaltungsstellen wie auch den Gerichten eine völlig neue Wertung abverlangt (vgl. dazu Urteil des VG Stuttgart v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - , InfAuslR 2005, S. 345; Urteil der Kammer v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 -). Es geht jetzt auf dem Hintergrund der GFK darum, ob eine „wohlbegründete Furcht“ vor einer Bedrohung im Heimatland plausibel erscheint (so VG Frankfurt, Asylmagazin 9/2006, S. 23/24). Damit ist eine stärker subjektive, die Sicht des Flüchtlings betonende Wertung prognostischer Art geboten.
Unter diesen Umständen sind die eingereichten Vorladungen ein hinreichender Anlass für eine Verfolgungsfurcht des Antragstellers. Denn diese Vorladungen beziehen sich laut ihrer Übersetzung auf „Gerichtsverfahren in der Kaffeestube“ vom Juli 2001. Sie können bei der z.Z. nur gebotenen summarischen Prüfung nicht von vorneherein außer Betracht gelassen werden. Mit Blick auf Art. 9 Abs. 2 b und c der Qualifikationsrichtlinie kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass bei einer Rückkehr des Antragstellers anlässlich des gen. Gerichtsverfahrens Verfolgungsmaßnahmen gegen den Antragsteller ergriffen werden, die in ihrer Kumulation einen hinreichenden Schweregrad iSv Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie erreichen. Denn es ist so, dass nach der unmittelbar geltenden Qualifikationsrichtlinie (Art. 9 Abs. 1 b) auch die Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen in einer vorzunehmenden Gesamtschau Verfolgungscharakter haben kann. Dieser Aspekt erlangt in Vietnam ganz besondere Bedeutung, da dort eine dem Strafrecht vorgelagerte Repression (vgl. dazu die Lagebericht des AA mit Beispielen) besonders ausgeprägt ist: Dissidenten und „Abweichler“ sind Maßnahmen seitens der Regierung ausgesetzt wie z.B. Telefon- und Mailüberwachung, Hausarrest, Aufnahme in eine schwarze Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird usw. usw. Aktive Gegner des Sozialismus bzw. auch solche, die dafür nur gehalten werden (Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie: „zugeschrieben“), können nach den weit gefassten und (willkürlich) weit verstandenen Vorschriften jederzeit nach (willkürlichem) Belieben der vietnamesischen Polizeibehörden inhaftiert oder in sog. „Umerziehungslager“ verbracht werden (vgl. Art. 7 EMRK).
Es gibt in Vietnam zudem weder eine Presse- noch eine Meinungsfreiheit (vgl. Art. 10 EMRK). „Hart durchgegriffen“ wird bei Internet-Dissidenten sowie religiösen Organisationen (so ausdrücklich S. 358 des 7. Berichts der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen v. 15.6. 2005).
Der Antragsteller hat bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage somit voraussichtlich einen Anspruch auf Durchführung eines Asylfolgeverfahrens - jedenfalls hinsichtlich der Frage, ob unter den vorgetragenen Veränderungen in Vietnam die Voraussetzungen des ab 1. Januar 2005 geltenden § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der jetzt unmittelbar geltenden Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG vorliegen und der Antragsteller im Falle der Rückkehr (nur) bedroht wäre bzw. hinsichtlich auch der Frage, ob die gesetzliche Regel des § 60 Abs. 7 AufenthG bei ihm zwecks Vermeidung einer „Schutzlücke“, wie vom Gesetzgeber gewollt (vgl. die Regel des § 60 Abs. 7 AufenthG), entgegen der Ansicht der Beklagten zum Zuge kommt.
Es ist deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass der Antragsteller aus den vorgebrachten Gründen inzwischen - u.a. aufgrund der „Ereignisse“ und Verschärfung der Verhältnisse in Vietnam (vgl. u.a. Urteil der Kammer v. 16.8.2006 - 1 A 406/03 -) - bei einer Rückkehr iSv § 60 AufenthG tatsächlich ernsthaft bedroht ist. Das wäre im Folgeverfahren einer individuellen Prüfung iSv Art. 4 Abs. 3 Qualifikationsrichtlinie zu unterziehen.
5. Der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stehen auch nicht ganz besonders gewichtige Gründe entgegen, die es erlaubten, schon vor Abschluß des Hauptsacheverfahrens die letztlich vollendete Tatsachen schaffende Abschiebung durchzuführen. Denn der Rechtschutzanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG ist um so stärker, je gewichtiger die abverlangte Belastung - hier die Rückkehr nach Vietnam - ist (BVerfGE 35, 382 / 4o2; BVerfGE, NVwZ 1985, 4o9; BVerfG (3. K. des 2. Senats) NVwZ-Beilage 1996, 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.). Deshalb ist ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur im Falle eindeutiger und unumstößlicher Richtigkeit (BVerfG, InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]) abweisbar:
Droht ... dem Ast. bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - ... - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (so die 3. Ka. des 2. Senats des BVerfG, Beschl. v. 27.1o.1995, NVwZ-Beilage 3/1996, S. 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.)
6. Auch eine reine Interessenabwägung ergibt, dass die Interessen des Antragstellers an einem vorläufigen Verbleib in Deutschland diejenigen der Antragsgegnerin an einer Abschiebung überwiegen: In dem Falle nämlich, dass der Antragsteller im Verfahren der Hauptsache obsiegte, sich jedoch wegen der vollzogenen Abschiebung in Vietnam befände, würde erheblich mehr und - zu Unrecht (siehe Hauptsacheverfahren) - schwerwiegender in seine Interessen eingegriffen als in dem Falle, dass er zunächst einmal nicht nach Vietnam abgeschoben würde, aber dann im Verfahren der Hauptsache unterläge: Hiermit wäre nur ein Aufschub der Abschiebung verbunden, während im zuerst genannten Fall u.U. schon Verfolgungsmaßnahmen der vietnamesischen Behörden, die derzeit in gar keiner Weise von der Hand zu weisen sind, durchgeführt sein könnten. Es bestünde also die Gefahr, dass bei einer baldigen Abschiebung ganz erheblich in Freiheitsrechte oder gar in die körperliche Unversehrtheit der Antragsteller eingegriffen wird, u.zw. mit Hilfe der von deutschen Behörden veranlassten Abschiebung. Dieser Gefahr ist auf dem Boden des Grundgesetzes (Art. 1 GG) zu begegnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO iVm § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
Dieser Beschluß ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.