Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 17.10.2003, Az.: 1 B 46/03
Abschiebung; Abschiebungshindernis; Afghanistan; Asylberechtigter; Asylfolgeverfahren; Asylverfahrensgesetz; durchentscheiden; Eilverfahren; Hauptsacheverfahren; neue Tatsache; Prüfungsumfang; Tatsachenvortrag; vorläufiger Rechtsschutz; Wiederaufnahmeverfahren; zurückverweisen
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 17.10.2003
- Aktenzeichen
- 1 B 46/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48374
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 16a Abs 4 S 1 GG
- § 36 Abs 4 AsylVfG
- § 71 Abs 1 AsylVfG
- § 71 Abs 4 AsylVfG
- § 51 VwVfG
- § 53 Abs 6 S 1 AuslG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Das Wiederaufnahme- und Folgeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG ist gestuft: Voraussetzung ist (nur) ein glaubhafter und substantiierter Vortrag von Tatsachen, aus denen sich die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1-3 VwVfG ergeben können müssen. Beweise sind (noch) nicht gefordert.
2. Ein in Betracht kommender, nicht offensichtlich ausgeschlossener Abschiebungsschutz aus § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG rechtfertigt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung.
3. Ein "Zurückverweisen" an das Bundesamt scheidet im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ebenso aus wie ein "Durchentscheiden".
Gründe
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg.
Ist - wie hier - Gegenstand des Eilverfahrens die Zulässigkeit der Abschiebung, ist die gesetzliche Vorgabe entsprechend Art. 16 a Abs. 4 Satz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1, 71 Abs. 4 AsylVfG zu beachten, wonach die Abschiebung nur ausgesetzt werden darf, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme bestehen. Anknüpfungspunkt für die vom Bundesamt verfügte Abschiebungsandrohung ist die Ablehnung, ein weiteres Asylverfahren durchzuführen und die im ersten Asylverfahren zu § 53 AuslG getroffenen Feststellungen abzuändern. Gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Das ist der Fall, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG), oder wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVG). Hiervon ausgehend erweist sich der angefochtene Bescheid des Bundesamtes als voraussichtlich teilweise rechtswidrig.
Die Antragstellerin hat nach der hier allein gebotenen und möglichen summarischen Prüfung aufgrund der allgemein bekannten Änderung der Sachlage in Afghanistan voraussichtlich jedenfalls einen Anspruch auf Durchführung eines Asylfolgeverfahrens zu der Frage, ob ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG besteht (a). Dies führt dazu, dass die Antragstellerin vorerst von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu verschonen ist (b).
a) Das Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG ist gestuft: Voraussetzung für die Wiederaufnahme ist ein glaubhafter und substantiierter Vortrag von Tatsachen, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergibt (§ 71 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Eines Beweises des neuen Vortrages bedarf es hierfür noch nicht. Ob der neue Vortrag tatsächlich zutrifft, ob die Verfolgungsfurcht begründet und die Annahme einer asylrechtlich relevanten politischen Motivierung der Verfolgung gerechtfertigt ist, kann erst nach der Wiederaufnahme des Verfahrens geprüft werden. Allerdings kann ein Folgeantrag dann als unbeachtlich angesehen werden, wenn das Vorbringen zwar glaubhaft und substantiiert, jedoch von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet ist, dem Antragsteller zur Asylberechtigung oder zum Abschiebungsschutz zu verhelfen (BVerfG, Beschl. v. 11.5.1993 - 2 BvR 2245/92 -, DVBl. 1994, 38; Beschl. v. 13.3.1993 - 2 BvR 1988/92 -, InfAuslR 1993, 229, 233).
Hiernach bedarf die - mit der Klage allein angefochtene - Ablehnung der Antragsgegnerin im Bescheid des Bundesamtes vom 24. September 2003, die Feststellung im Ausgangsbescheid vom 28. Januar 1994 zu § 53 AuslG, und hier insbesondere zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG abzuändern, einer näheren Überprüfung im Hauptsacheverfahren. Auch wenn nach der bisher bekannten und vom Bundesamt in seinem Bescheid vom 24. September 2003 zum Teil zitierten Rechtsprechung von Verwaltungsgerichten in Klageverfahren im gegenwärtigen Zeitpunkt eine extreme Gefahrenlage, die ausnahmsweise eine Individualentscheidung auch außerhalb des § 54 AuslG zuließe, jedenfalls im Raum Kabul nicht besteht (vgl. hierzu etwa OVG Hamburg, Urt. v. 14.6.2002 - 1 Bf 37 und 38/02.A -, seitdem st. Rspr., vgl. nur des Weiteren Urt. v. 11.4.2003 - 1 Bf 104/01.A - m. w. N.; OVG Münster, Urt. v. 20.3.2003 - 20 A 4329/97.A -), so rechtfertigt dies jedoch nicht die Annahme, dass ein Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise von vornherein und offensichtlich ausgeschlossen ist. Die Antragsteller hat in ihrer Klage- und Antragsschrift hinreichende Anhaltspunkte vorgetragen, die eine andere Betrachtungsweise jedenfalls nicht gänzlich ausschließen.
b) Sind hiernach die Voraussetzungen für die Durchführung eines Asylfolgeverfahrens erfüllt, darf das Gericht im Klageverfahren die Sache nicht an das Bundesamt „zurückverweisen“, sondern muss über das hier geltend gemachte Begehren, das Vorliegen von Abschiebungshindernissen gemäß 53 AuslG festzustellen, selbst entscheiden. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.2.1998 - 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171 = NVwZ 1998, 861) rechtfertigen es auch die Besonderheiten des asylrechtlichen Folgeantragsverfahrens nicht, das Verfahren an das Bundesamt zur Prüfung und Feststellung des Asylanspruches und der Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG zurückzugeben. Dies führt aber nicht dazu, dass im vorliegenden Eilverfahren, das gemäß §§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 3 Satz 4 AsylVfG ohne mündliche Verhandlung und damit ohne mündliche Befragung des Asylbewerbers zu noch verbleibenden Unklarheiten und Einzelheiten und ohne Beweisaufnahme durchzuführen ist, ebenfalls „durchzuentscheiden“ ist. Ein solches „Durchentscheiden“ ist mithin erst im Klageverfahren zulässig und möglich; im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist daher die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b Abs. 1 AsylVfG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.