Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 07.09.2005, Az.: 13 LA 209/05

Anspruch des Schülers auf Unterrichtung in der dem allgemeinen Gebrauch im deutschen Volk entsprechenden Rechtschreibung; Zur Verfassungsmäßigkeit der Einführung einer reformierten Rechtschreibung durch bloßen Ministerialerlass; Parallele Unterrichtung in den herkömmlichen Schreibweisen und Unterlassung der Bewertung herkömmlich richtiger Schreibweisen als falsch

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
07.09.2005
Aktenzeichen
13 LA 209/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 28892
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2005:0907.13LA209.05.0A

Verfahrensgang

vorgehend
NULL

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat
am 7. September 2005
beschlossen:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 6. Kammer - vom 9. Juni 2005 wird zugelassen.

Gründe

1

Der Antrag hat Erfolg.

2

Dagegen, dass er schon vor der Zustellung des Urteils, gegen das er sich richtet, gestellt worden ist, bestehen keinerlei Bedenken (Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, § 124a RdNr. 40 m.w.N.). Die insoweit allenfalls für den Rechtsmittelführer bestehende Gefahr, Zulassungsgründe geltendzumachen, die neben der Sache liegen, hat sich hier nicht verwirklicht, da das Urteil des Verwaltungsgerichts (offenbar) bereits mündlich so begründet worden ist, wie es später abgefasst wurde. Auch die formellen Anforderungen des § 124a Abs. 4 VwGO an einen Zulassungsantrag sind erfüllt. Der Antrag ist auch begründet. Die Klägerin macht zu Recht geltend, dass "ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils" (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen.

3

Das Verwaltungsgericht hat den von der Klägerin erhobenen Anspruch, dass im neuen Schuljahr 2005/2006 (ihre) Schreibweisen in der herkömmlichen Orthografie, die nicht der reformierten Rechtschreibung entsprechen, nicht als fehlerhaft "markiert" bzw. "bewertet" werden, und dass sie auch in der herkömmlichen Orthografie unterrichtet werde, allein unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten geprüft und letztlich unter Heranziehung des (nach Rücknahme der Verfassungsbeschwerde ohne Beschwerdeführer erlassenen) Rechtschreibreform-Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 - (BVerfGE 98, 218) als unbegründet abgewiesen. Dem tritt die Klägerin zu Recht mit der Begründung entgegen, in jenem Verfahren sei lediglich die Frage geprüft worden, ob das (gerichtlich gebilligte) Einführen einer reformierten Rechtschreibung durch bloßen Ministerialerlass verfassungsgemäß sei. Dagegen gehe es vorliegend um eine "parallele Unterrichtung in den herkömmlichen Schreibweisen und Unterlassung der Bewertung herkömmlich richtiger Schreibweisen als falsch", und dies zu einem Zeitpunkt, da die (seinerzeitige) Prognose, die neue Rechtschreibung werde allgemeine Akzeptanz finden, als widerlegt anzusehen sei. Das ist zutreffend, sodass insoweit ernstliche Zweifel gegen die Richtigkeit des Urteils vom 9. Juni 2005 bestehen.

4

Wie der Senat mehrfach entschieden hat (Beschluss vom 17.10.97, 13 M 4160/97, NJW 1997, 3456; Urteil vom 20.6.01, 13 L 2463/98, NVwZ-RR 2002, 191 [OVG Niedersachsen 20.06.2001 - 13 K 2463/98]), hat der Schüler - nach Schulrecht - Anspruch darauf, in der Rechtschreibung unterrichtet zu werden, die insofern "richtig" ist, als sie dem allgemeinen Gebrauch im deutschen (Schreib-)Volke entspricht. Demgegenüber ist die Ansicht des Beklagten, "regulierende Eingriffe in die Rechtschreibung im Schulunterricht" entzögen sich "auch" der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung, unzutreffend. Die Rechtsprechung des Senats hat das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts, welches das Urteil des Senats vom 20. Juni 2001 immerhin zitiert hat, indessen vollständig unberücksichtigt gelassen, sodass es insoweit "ernstlich zweifelhaft" ist. Dass das im Ergebnis deshalb zu verneinen wäre, weil, wie vom Senat seinerzeit angenommen, die Reform sich weitgehend durchgesetzt habe, ist nicht anzunehmen. Das folgt nicht nur daraus, dass nach wie vor Schriftsteller die Reform verweigern und sich seit dem Urteil des Senats weitere Zeitungsverlage von der Reform abgewandt haben, sondern, wie sich im Verfahren 13 MC 214/05 ergeben hat, auch aus dem derzeitigen Stand der Reform von 1996, die inzwischen selbst "überholt" ist.

5

Die bereits in Art. 3 der "Wiener Absichtserklärung" vom 1. Juli 1996 (BAnz Nr. 205a) vorgesehene "Zwischenstaatliche Kommission" hatte ihre Arbeit zwar bereits 1997 aufgenommen, bis zum Zeitpunkt des Senatsurteils indessen keinerlei Änderungsvorschläge gemacht. Sie hatte lediglich "unter der Hand" mit den Wörterbuchverlagen, deren Wörterbücher infolge unterschiedlicher Auslegung der neuen Regeln differierende Schreibweisen enthielten, (nach eigenem Ermessen) dieses "besprochen und zur einvernehmlichen Interpretation der Regeln beigetragen" (siehe S. 39 des 3. Kommissionsberichtes vom 15.12.01). Nachdem sie auch schon früher konkrete Änderungsvorschläge gemacht hatte, die aber ohne Konsequenzen blieben, hat sie zum Abschluss ihrer Arbeit erneut Vorschläge unterbreitet, (4. Bericht vom 27.11.03, 2001 bis 2003), diese unter dem 18. Mai 2004 noch ergänzt und schließlich unter Einbeziehung weiterer Änderungswünsche der Kultusminister nach deren Billigung (Kultusministerkonferenz vom 3./4.6.04) in Form eines völlig neuen Regelwerks "Regeln und Wörterverzeichnis, Amtliche Regelung, überarbeitete Fassung 2004" herausgegeben. Diese Reform 2004, die die von 1996 ersetzt, ist nicht veröffentlicht, sondern lediglich "ins Internet gestellt" worden. Zu ihr hat die KMK einen "Rat für deutsche Rechtschreibung" eingesetzt, der (offenbar) die Aufgabe hat, das Reformwerk (weiter) zu überprüfen. Nach seinen Empfehlungen hat die KMK am 2./3. Juli 2005 beschlossen, in den Schulen die Reform 2004 am 1. August 2005 (nur) teilweise für verbindlich zu erklären, in wesentlichen Bereichen dagegen die bisherigen Schreibweisen weiterhin zu "tolerieren". Danach wäre heute unerheblich, ob sich die Reform von 1996 tatsächlich durchgesetzt hat; denn sie ist nicht mehr maßgeblich. Ein Durchsetzen der Reform 2004 indessen scheidet schon deswegen aus, weil sie weder bekannt sein dürfte, für sich selbst nur in Teilen Geltung beansprucht und überdies die Zeit für ein allgemeines Durchsetzen noch viel zu kurz wäre. So hat selbst die "Kommission" konstatiert (3. Bericht, S. 108), dass "Rechtschreibreformen ... auf sehr eingefahrene Verhaltensweisen" träfen und daher Zeit brauchten, bis sie sich durchsetzten. Das ist fraglos richtig und hinsichtlich der Reform von 2004 keineswegs der Fall.

6

Das Zulassungsverfahren wird unter dem neuen Aktenzeichen 13 LB 303/05 als Berufungsverfahren fortgeführt. Die Berufung ist nunmehr binnen eines Monats unter Stellen eines Berufungsantrages und Angabe der Berufungsgründe zu begründen. Anderenfalls würde sie unzulässig werden.

7

Ein Rechtsmittel gegen diesen Beschluss ist nicht gegeben (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ballhausen
Dr. Uffhausen
Schiller