Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.09.2005, Az.: 9 LA 166/05
Beginn der Frist für den Antrag auf Zulassung der Berufung; Entgegennahme von Urteil und Empfangsbekenntnis; Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand; Bedeutung der Rechtsmittelfrist in der Handakte und der Notierung der Frist im Fristenkalender des Rechtsanwalts; Organisationsverschulden der Rechtsanwaltskanzlei
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 28.09.2005
- Aktenzeichen
- 9 LA 166/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 34162
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2005:0928.9LA166.05.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Osnabrück - 06.04.2005 - AZ: 1 A 38/05
Rechtsgrundlagen
- § 60 VwGO
- § 124a Abs. 4 S. 1 VwGO
- § 174 ZPO
- § 173 VwGO
- § 85 Abs. 2 ZPO
Fundstellen
- FStBay 2006, 400
- NJW 2005, 3802-3803 (Volltext mit red. LS)
- NJW 2005, XII Heft 48 (amtl. Leitsatz)
- NVwZ 2006, 615 (red. Leitsatz)
Verfahrensgegenstand
Anschluss- und Benutzungszwang (Nahwärme)
- Antrag auf Zulassung der Berufung -
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Für den Beginn der Frist für den Antrag auf Zulassung der Berufung ist üblicherweise maßgeblich auf das Datum des Zustellungsvermerks abzustellen. Dies gilt auch, wenn der Prozessbevollmächtigte sich auf einen späteren Zeitpunkt der Entgegennahme und Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses beruft. Der zulässige Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in dem Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben kann nur dann gelingen, wenn die Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses vollständig ausgeschlossen wird.
- 2.
Ein die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließendes Verschulden eines Beteiligten liegt vor, wenn dessen Prozessbevollmächtigter das Empfangsbekenntnis unterzeichnet und zurückgibt, ohne die zugehörige Frist zuvor im Fristenkalender notiert zu haben und darüber hinaus in der Kanzlei keine schriftlichen organisatorischen Vorkehrungen für diesen Fall getroffen worden sind.
In der Verwaltungsrechtssache
hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 9. Senat -
am 28.09.2005
beschlossen:
Tenor:
Der Antrag des Beklagten, ihm Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Stellung des Antrages auf Zulassung der Berufung zu gewähren, wird abgelehnt.
Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Einzelrichterin der 1. Kammer - vom 6.04.2005 wird verworfen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zulassungsverfahren auf 10.200 EUR festgesetzt.
Entscheidungsgründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist als unzulässig zu verwerfen, weil der Beklagte die Monatsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO nicht gewahrt hat und dem Beklagten die beantragte Wiedereinsetzung in die versäumte Frist nach § 60 VwGO nicht gewährt werden kann.
Wird - wie hier - die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Das mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück ist dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 15.04.2005 zugestellt worden.
Mit den Beteiligten geht der Senat davon aus, dass die Frist für den Antrag auf Zulassung der Berufung am 15.04.2005 zu laufen begann. Auch wenn der Prozessbevollmächtigte des Beklagten in seiner anwaltlichen Versicherung ausgeführt hat, dass er das Urteil und das Empfangsbekenntnis erst am 18.04.2005 entgegengenommen und das Empfangsbekenntnis erst dann unterschrieben habe, worauf es üblicherweise für die Zustellung nach § 174 ZPO und den Fristbeginn allein - und nicht auf den Eingang des Urteils in der Kanzlei - ankommt (vgl. BGH, Beschluss vom 16.04.1996 - VI ZR 362/95 - NJW 1996, 1968 = MDR 1996, 967 zu § 212a ZPO a.F.), so hat er dennoch im Bewusstsein unterschrieben, dass das Empfangsbekenntnis das Datum 15.04.2005 trägt. Da der Prozessbevollmächtigte mit der Unterzeichnung selbst den Zeitpunkt bestimmt, zu dem er das ihm zuzustellende Schriftstück als zugestellt annimmt, stellt der Vermerk den zuverlässigsten Hinweis auf den Beginn der Rechtsmittelfrist dar (BSG, Beschluss vom 8. 7. 2002 - B3 P3/02 R - NJW - RR 2002, 1652 [BSG 08.07.2002 - B 3 P 3/02 R]). Gegen die Annahme, dass das Urteil tatsächlich erst am 18.04.2005 zugestellt wurde, spricht ganz maßgeblich das Empfangsbekenntnis mit dem Datum 15.04.2005, welches als öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 ZPO den vollen Beweis dafür erbringt, dass der darin angegebene Zustellungszeitpunkt der Wirklichkeit entspricht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.2.2001 - 6 BN 1/01 - Buchholz 340 § 5 VwZG Nr. 19).
Nach ständiger Rspr. ist jedoch der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in dem Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben zulässig. Dabei reicht es allerdings nicht aus, dass die Richtigkeit der Datierung in dem Empfangsbekenntnis lediglich durch die Möglichkeit der Unrichtigkeit des angegebenen Datums erschüttert ist. Die Beweiswirkung muss vielmehr vollständig entkräftet, jede Möglichkeit der Richtigkeit des Empfangsbekenntnisses daher ausgeschlossen sein (BGH, Beschluss vom 19.2.1997 - XII ZB 132/96 - NJW - RR 1997, 769 [BGH 19.02.1997 - XII ZB 132/96] = FamRZ 1997, 736). Einen solchen Gegenbeweis hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten bereits deshalb nicht geführt, weil er selbst nicht vorträgt, dass das Datum auf dem Empfangsbekenntnis unrichtig ist. Er geht vielmehr als selbstverständlich davon aus, dass das Empfangsbekenntnis korrekt den 15.04.2005 als Zustellungsdatum ausweist. Anders wäre es auch nicht zu erklären, weshalb der Prozessbevollmächtigte bei der Unterschrift des Empfangsbekenntnisses am 18.04.2005 das Datum auf dem Empfangsbekenntnis nicht vom 15.04.2005 auf den 18.04.2005 geändert hat. Mithin begann der Lauf der Monatsfrist am 15.04.2005 und endete diese am 17.05.2005, dem Dienstag nach Pfingsten.
Der Zulassungsantrag ging erst am 18.05.2003 und damit verspätet beim Verwaltungsgericht ein.
Eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist kommt nicht in Betracht. Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist dem Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne sein Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Verschulden liegt vor, wenn der Betroffene diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (VGH Baden - Württemberg, Beschluss vom 25.08.2004 - 12 S 274/04 - VBlBW 2005, 115-116 = FEVS 56, 166-167 m.w.N.)
Die Versäumung der Monatsfrist beruht hier auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Beklagten, das dieser sich nach § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss. Das schriftsätzliche Vorbringen des Beklagten, wonach der sonst zuverlässige Mitarbeiter seines Prozessbevollmächtigten dessen Einzelanweisung, die Monatsfrist ausgehend vom Eingang am 15.04.2005 zu errechnen und im Fristenkalender sowie an der Rechtsmittelbelehrung im Urteil zu vermerken, nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe, lässt nicht den Schluss zu, dass allein ein Mitarbeiter der Kanzlei seines Bevollmächtigten, nicht aber dieser selbst sich fahrlässig verhalten habe. Ein Rechtsanwalt muss zur rechtzeitigen Erledigung von Rechtsmitteln eine zuverlässige Fristenkontrolle organisieren (OVG Münster, Beschluss vom 29.07.2004 - 11 A 2998/04.A - zitiert nach juris).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der sich der Senat anschließt, darf der Rechtsanwalt das Empfangsbekenntnis über eine Urteilszustellung erst unterzeichnen und zurückgeben, wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist (BGH, Beschluss vom 17.09.2002 - VI ZR 419/01 - NJW 2002, 3782-3783 = MDR 2003, 239-240; BGH Beschluss vom 26.03.1996 - VI ZB 1,2/96 - NJW 1996, 1900, 1901 [BGH 26.03.1996 - VI ZB 1/96]; vgl. BGH, Beschluss vom 30.11.1994 - XII ZB 197/94 - BGHR ZPO § 233 - Empfangsbekenntnis 1 m.w.N.). Dieses Sorgfaltsgebot hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten verletzt, als er am 18.04.2005 das Empfangsbekenntnis unter dem Datum 15.04.2005 unterzeichnet und zurückgegeben hat, ohne zuvor die Notierung der Rechtsmittelfrist sichergestellt zu haben. Er hat weder selbst das Datum 18.04.2005 auf dem Urteilsabdruck geändert noch das Zustelldatum 15.04.2005 anderweitig vermerkt. Ihn trifft ein Organisationsverschulden, weil er keine Vorkehrungen dagegen getroffen hat, dass die Ausführung seiner Anweisung unterblieb. Nach Aktenlage ist davon auszugehen, dass die Anweisung hier in mündlicher Form an Herrn B. erfolgt ist. Ob und gegebenenfalls auf welche Weise im Büro des Prozessbevollmächtigten des Beklagten die Ausführung mündlich erteilter Anweisungen kontrolliert wurde, ist nicht dargelegt. Zwar braucht ein Rechtsanwalt grundsätzlich nicht die Erledigung jeder konkreten Einzelanweisung zu überwachen. Im allgemeinen darf er vielmehr darauf vertrauen, dass ein sonst zuverlässiger Büroangestellter auch mündliche Anweisungen richtig befolgt (vgl. BGH, Urteil vom 6.10.1987 - VI ZR 43/87 - VersR 1988, 185 f.). Wenn aber ein so wichtiger Vorgang wie die Notierung einer Rechtsmittelfrist nur mündlich vermittelt wird, müssen in der Rechtsanwaltskanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass die Anweisung in Vergessenheit gerät und die korrekte Fristeintragung unterbleibt. Das Fehlen jeder Sicherung bedeutet einen entscheidenden Organisationsmangel (BGH, Beschluss vom 10.10.1991 - VII ZB 4/91 - NJW 1992, 574 = MDR 1992, 305 ).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zulassungsverfahren auf 10.200 EUR festgesetzt.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Absätze 2 und 3, 52 Abs. 3 GKG und entspricht der erstinstanzlichen Entscheidung.
Wermes
Schütte