Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.07.2000, Az.: 9 M 566/99
Beitrag; Brandschutz; Erschließung; Erschließungsbeitrag; Erschließungsfunktion; Erschließungswirkung; Erschlossensein; unbefahrbarer Wohnweg; Wohnweg
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 21.07.2000
- Aktenzeichen
- 9 M 566/99
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 41976
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 16.12.1998 - AZ: 1 B 34/98
Rechtsgrundlagen
- § 127 Abs 2 S 2 BauGB
- § 131 Abs 1 BauGB
- § 133 Abs 1 BauGB
- § 5 Abs 1 BauO ND
- § 2 Abs 2 BauODV ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Das niedersächsische Bauordnungsrecht normiert keine Begrenzung der Erschließungsfunktion eines unbefahrbaren Wohnweges auf eine bestimmte Höchstlänge; eine solche ergibt sich aber aus brandschutztechnischer Sicht.
2. Ist ein unbefahrbarer Wohnweg nach seiner Ausgestaltung auch für Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr nicht befahrbar, so endet die Erschließungsfunktion des Wohnweges 50 m von der Anbaustraße entfernt, in die er einmündet.
3. Kann der unbefahrbare Wohnweg von Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr befahren werden, so endet die Erschließungsfunktion des Wohnweges 50 m vom möglichen Aufstellort des Einsatzfahrzeuges entfernt.
Gründe
Die vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zugelassene Beschwerde der Antragsgegnerin hat Erfolg.
Der Antragsteller wird durch die Heranziehung zu einer Vorausleistung auf den künftigen Erschließungsbeitrag für die Straße B und die hiervon abzweigenden Wohnwege nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dem durch § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gesetzlich normierten öffentlichen Interesse am Sofortvollzug des angefochtenen Bescheides gebührt deshalb der Vorrang gegenüber dem Interesse des Antragstellers, den festgesetzten Vorausleistungsbetrag von 20.813,65 DM vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht bezahlen zu müssen.
Dem Verwaltungsgericht kann nicht dahingehend gefolgt werden, dem Grundstück des Antragstellers werde durch die Straße B keine Erschließung vermittelt. Der Antragsteller ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts verpflichtet, für diese Straße, den entlang seiner hinteren Grundstücksgrenze verlaufenden unbefahrbaren Wohnweg und die nach den Festsetzungen im einschlägigen Bebauungsplan ebenfalls unbefahrbaren Wohnwege W1 sowie W2 eine Vorausleistung auf den künftigen Erschließungsbeitrag zu erbringen, weil sein Grundstück (auch) durch diese Erschließungsanlagen im Sinne der §§ 131 Abs. 1, 133 Abs. 1 BauGB erschlossen wird.
Für die Beantwortung der Frage, ob das bereits durch die Straße A erschlossene Grundstück des Antragstellers auch durch die Straße B mit den davon abzweigenden unbefahrbaren Wohnwegen im Sinne der §§ 131 Abs. 1, 133 Abs. 1 BauGB erschlossen wird, ist entscheidend, ob dem in einem reinen Wohngebiet gelegenen Grundstück über den unbenannten Fußweg, an den es angrenzt, in Verbindung mit den unbefahrbaren beiden Wohnwegen eine Erschließung (auch) durch die Straße B vermittelt wird. Dies hängt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon ab, ob das Grundstück wegen der ihm durch die Straße B in Verbindung mit den unbefahrbaren Wohnwegen verschafften verkehrsmäßigen Erreichbarkeit nach Maßgabe der §§ 30 ff. BauGB bebaubar ist (BVerwG, Urteile v. 29.4.1988 -- 8 C 24.87 --, BVerwGE 79, 283 = DVBl. 1988, 901 = DÖV 1988, 791 = KStZ 1988, 207 = NVwZ 1988, 1134; v. 1.3.1996 -- 8 C 26.94 --, KStZ 1997, 198 u. v. 17.6.1998 -- 8 C 34.96 --, DVBl. 1998, 1225, 1226 = KStZ 1999, 54 = ZMR 1998, 804). Dabei müssen bei der Prüfung des Erschlossenseins andere das Grundstück bereits erschließende Anlagen -- hier die Straße A -- hinweggedacht werden (BVerwG, st. Rspr., z.B. Urteile v. 26.9.1983 -- 8 C 86.81 --, BVerwGE 68, 41, 45 = DVBl. 1984, 184 = DÖV 1984, 115 = NVwZ 1984, 172 = NStV-N 1983, 340 u. v. 17.6.1998, aaO). Das Erschlossensein des Grundstücks des Antragstellers ist hiernach entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts zu bejahen, obwohl es von der Straße B über den unbefahrbaren Wohnweg W1 etwa 94 m und über den unbefahrbaren Wohnweg W2 etwa 85 m entfernt liegt.
Der Senat hat bereits in seinem Zulassungsbeschluss dargelegt, dass zur Auslegung des bundesrechtlichen Begriffes des Wohnweges in § 127 Abs. 2 Nr. 2 BauGB die jeweils einschlägigen landesrechtlichen Begriffe zu Rate zu ziehen sind (Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 5. Aufl. 1999, § 12 RdNr. 61). Während das Landesrecht in Nordrhein-Westfalen die Bebaubarkeit von an unbefahrbaren Wohnwegen gelegenen Grundstücken bis zu einer Länge der Wege von 50 m normiert (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 10.12.1993 -- 8 C 58.91 --, NVwZ 1994, 912 = DVBl. 1994, 705 = DÖV 1994, 521 = KStZ 1994, 192; v. 1.3.1996 -- 8 C 27.94 --, Buchholz 406.11 § 131 BauGB Nr. 102; v. 1.3.1996 -- 8 C 26.94 --, aaO), enthält die Niedersächsische Bauordnung keine Begrenzung der Erschließungsfunktion des Wohnwegs auf eine bestimmte Höchstlänge. In § 5 Abs. 1 NBauO werden im Hinblick auf die planungsrechtlich erforderliche Erschließung des Baugrundstücks unbefahrbare Wohnwege als Verbindung zwischen den Baugrundstücken und befahrbaren öffentlichen Straßen vielmehr zugelassen, soweit durch sie der von der baulichen Anlage ausgehende Zu- und Abgangsverkehr und der für den Brandschutz erforderliche Einsatz von Feuerlösch- und Rettungsgeräten jederzeit ordnungsgemäß und ungehindert möglich sind. Die Frage, ob das Landesbaurecht dennoch eine Längenbegrenzung kennt, ab deren Überschreitung Wohnwege nicht mehr zur Erschließung angrenzender Baugrundstücke ausreichen, wird auch -- anders als dies das Verwaltungsgericht in Übereinstimmung mit der Kommentarliteratur (vg. Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO, 6. Aufl. 1996, § 5 RdNr. 12) angenommen hat -- nicht durch die Bestimmung des § 2 Abs. 2 DVNBauO generell beantwortet. Danach reichen nur bei Gebäuden geringer Höhe, die nicht mehr als 50 m von öffentlichen Verkehrsflächen entfernt liegen, für die Erschließung 1, 25 m breite Zu- oder Durchgänge von öffentlichen Verkehrsflächen aus. Liegen diese Gebäude hingegen mehr als 50 m von öffentlichen Verkehrsflächen entfernt, so können an Stelle von Zu- oder Durchgängen mindestens 3 m breite Zu- oder Durchfahrten verlangt werden. Aus dieser Bestimmung, die es in das Ermessen der Baugenehmigungsbehörde stellt, ob sie bei Überschreiten einer Länge von 50 m eine Zufahrt verlangt, lässt sich nicht herleiten, dass ein durch einen Wohnweg vermitteltes Erschlossensein eines Baugrundstücks von der nächsten Anbaustraße aus stets nur bis zu einer Länge des Wohnwegs von 50 m angenommen werden kann. Die im Zulassungsbeschluss als grundsätzlich bedeutsam bezeichnete Frage, ob sich aus baurechtlichen Gesichtspunkten gleichwohl eine metrische Begrenzung der Erschließungsfunktion eines Wohnweges ergibt, lässt sich nach erneuter Prüfung nunmehr dahingehend beantworten, dass aus Gründen des Brandschutzes Wohngrundstücke über einen unbefahrbaren Wohnweg in Verbindung mit der öffentlichen Straße, in die dieser einmündet, nur dann noch als erschlossen angesehen werden können, wenn die Entfernung zwischen dem möglichen Standort für ein Feuerwehrfahrzeug und dem jeweiligen Wohngrundstück nicht mehr als 50 m beträgt. Ist der unbefahrbare Wohnweg wegen seiner Breite oder seines Ausbauzustandes auch für Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr unbefahrbar, reicht mithin die Erschließungsfunktion des Wohnweges nur bis zu einer Länge von 50 m. Ist hingegen der Wohnweg für die Feuerwehr befahrbar, kommt es darauf an, wie weit mit Feuerwehrfahrzeugen in den Wohnweg hereingefahren werden kann. Von diesem Standort aus endet dann nach weiteren 50 m die Erschließungsfunktion des unbefahrbaren Wohnweges.
Die Grenze von 50 m zwischen dem im Brandfall möglichen Standort des Feuerwehrfahrzeuges und dem am unbefahrbaren Wohnweg gelegenen Grundstück hält der Senat aus brandschutztechnischer Sicht für geboten. Nach der in diesem Verfahren eingeholten fachlichen Auskunft der Feuerwehr arbeitet diese bei kleineren Bränden mit einem formbeständigen Schnellangriffsschlauch vom Fahrzeugtank aus. Der Schlauch hat eine Länge von 80 m, so dass bei einem Abstand des Fahrzeuges zum Grundstück von 50 m eine für die Brandbekämpfung im Regelfall ausreichende Schlauchlänge von 30 m auf dem Grundstück verbleibt. Bei größeren Bränden wird von der Feuerwehr mittels sog. B-Schläuche eine Wasserversorgung vom Hydranten zur Wasserpumpe am Fahrzeug und von dort aus weiter zum Brandobjekt gelegt. Von diesen Schläuchen befinden sich 12 Stück zu je 20 m auf den Löschfahrzeugen. Bei einem Abstand zwischen dem Hydranten und dem Fahrzeug von 100 m und einer Entfernung des Fahrzeuges von 50 m zum Grundstück verbleibt zur Brandbekämpfung auf dem Grundstück ebenfalls hinreichend Schlauchlänge, obwohl sich die (verlängerten) Schläuche nie exakt gerade legen lassen. Es kommt hinzu, dass bei nur fußläufig erreichbaren Grundstücken die Einsatzgeräte für die Rettung von Menschen (z.B. 75 kg schwere tragbare Leitern, Hochdrucklüfter) zum Einsatzort getragen werden müssen. Bei einer Verlängerung des Angriffsweges um 50 m ist mit einer Verlängerung der Entwicklungszeit ("Aufbauzeit") um mindestens 30 Sekunden zu rechnen. Angesichts dessen, dass nach dem Einatmen von Kohlenmonoxid der Tod schon nach wenigen Sekunden eintritt, ist es aus der fachlichen Sicht der Feuerwehr nicht hinnehmbar, für die Brandbekämpfung einen fußläufigen Angriffsweg zwischen Standort des Löschfahrzeuges und Grundstück von mehr als 50 m vorzusehen.
Das Wohngrundstück des Klägers wird hiernach über die Straße B in Verbindung mit den unbefahrbaren Wohnwegen W1 und W2 sowie dem Fußweg an der rückwärtigen Grundstücksseite erschlossen. Denn W1 und W2 sind nach den Angaben der Feuerwehr und ausweislich des Lageplanes mit etwa 3 m ausreichend breit, um auf ihnen mit einem Löschfahrzeug bis zu ihrem Ende fahren zu können. Von dort aus beträgt die fußläufige Entfernung zum Grundstück des Antragstellers jeweils nur noch etwa 35 m.
Für das Erschlossensein des Grundstücks des Antragstellers ist es nicht entscheidungserheblich, ob und ggf. wo der Antragsteller die für eine Bebauung erforderlichen Stellplätze nachweisen könnte. Denn die Verpflichtung aus § 47 NBauO zur Schaffung notwendiger Einstellplätze gilt nicht ausnahmslos. Vielmehr besteht nach § 47 a NBauO auch die Möglichkeit, die Pflicht zur Herstellung notwendiger Einstellplätze abzulösen. Die bauordnungsrechtlichen Stellplatzverpflichtungen der Länder wirken sich deshalb auf das Erschlossensein eines Wohngrundstücks, für das ein Herauffahrenkönnen nicht verlangt wird, im Regelfall -- so auch hier -- nicht aus (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.3.1991 -- 8 C 59.89 --, BVerwGE 88, 70 (75) = DVBl. 1991, 593 = NVwZ 1991, 1090).
Allerdings durfte die Antragsgegnerin, die Straße B und die von ihr abzweigenden unbefahrbaren Wohnwege nicht gemeinsam abrechnen und den Antragsteller hierfür zu einer Vorausleistung auf den künftigen Erschließungsbeitrag heranziehen. Denn Wohnwege sind weder fähig, Bestandteil der Anbaustraße zu sein, in die sie einmünden, noch dürfen sie nach § 130 Abs. 2 Satz 2 BauGB mit der Anbaustraße zur gemeinsamen Aufwandsermittlung und -verteilung zusammengefasst werden (BVerwG, Urt. v. 10.12.1993 -- 8 C 58.91 --, DVBl. 1994, 705 = NVwZ 1994, 912). Dieser Fehler der Antragsgegnerin wirkt sich indes nicht im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO zum Nachteil des Antragstellers aus. Denn bei der hier gebotenen Einzelabrechnung der das Grundstück des Antragstellers erschließenden Anlagen (B, W1, W2 und rückwärtiger Fußweg) beliefe sich der vom Antragsteller zu erhebende Vorausleistungsbetrag nach der vorgelegten Alternativberechnung der Antragsgegnerin auf insgesamt 27.991,47 DM. Festgesetzt wurden indes nur 20.813,65 DM.