Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 26.04.2012, Az.: 11 ME 113/12

Öffentliches Singen oder Besprechen des Liedes "Ein junges Volk steht auf" i.R.e. Versammlung als strafbares Kennzeichen gem. 86a StGB

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
26.04.2012
Aktenzeichen
11 ME 113/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 16428
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2012:0426.11ME113.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 24.04.2012 - AZ: 5 B 63/12

Fundstellen

  • DÖV 2012, 648-649
  • NdsVBl 2012, 244-245

Amtlicher Leitsatz

Das Lied "Ein junges Volk steht auf" stellt ein nach § 86a StGB strafbares Kennzeichen dar und darf daher im Rahmen einer Versammlung weder öffentlich gesungen noch besprochen werden.

Beschluss

1

Der Antragsteller meldete für die Jugendorganisation der NPD für den 27. April 2012 in der Zeit von 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr in Braunschweig vor dem dortigen Schloss eine stationäre Kundgebung an, in deren Mittelpunkt das Lied "Ein junges Volk steht auf", insbesondere dessen umstrittene und vom Antragsteller verneinte Strafbarkeit nach § 86a StGB, stehen soll; das Lied soll auch gesungen werden.

2

Die Antragsgegnerin kam u.a. gestützt auf ein zeithistorisches Gutachten zu der Ansicht, dass es sich bei dem Lied um ein offizielles Propagandalied der NSDAP und ihrer Gliederungen, insbesondere der Hitlerjugend, gehandelt habe, ihm der gleiche Symbolcharakter wie dem "Horst-Wessel-Lied" oder dem Lied "Es zittern die morschen Knochen" zukomme und demnach jegliche öffentliche Verbreitung in Form von Singen oder Besprechen nach § 86a StGB strafbar sei. Da eine solche Verbreitung zentraler Gegenstand der angezeigten Versammlung sei, müsse diese nach § 8 Abs. 2 Satz 1 NVersG verboten werden. Ein entsprechender, sofort vollziehbarer Verbotsbescheid erging am 18. April 2012.

3

Den hiergegen gerichteten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 24. April 2012 abgelehnt. Es hat zur Begründung über die in Bezug genommenen Gründe des angegriffenen Bescheides hinaus ausgeführt, dass die Antragsgegnerin aller Voraussicht nach zu Recht von der Strafbarkeit des Liedes ausgegangen sei und bei dieser Sachlage das öffentliche Interesse an dem - formell ordnungsgemäß begründeten - Sofortvollzug überwiege. Die im Antragsverfahren vorgetragenen Einwände des Antragsstellers gegen die Strafbarkeit des Liedes überzeugten nicht. § 86a StGB setze nicht voraus, dass es sich um das alleinige Kennzeichen einer einzigen (verbotenen) Organisation gehandelt habe. Ob ein Kennzeichen i.S.d. § 86a StGB zusätzlich auch gemäß § 86 Abs. 2 StGB inhaltlich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sein müsse, sei zweifelhaft, hier aber letztlich unerheblich. Denn nach seinem Inhalt verstoße das streitige Lied zumindest gegen den Grundsatz der Völkerverständigung.

4

Zur Begründung seiner Beschwerde trägt der Antragsteller unter Bezugnahme auf insbesondere strafgerichtliche Entscheidungen vor, dass nur ein solches Kennzeichen nach § 86a StGB verboten sei, das Symbolcharakter für die gesamte (verbotene) Organisation habe. Das streitige Lied "Ein junges Volk ..." sei aber kein parteiamtliches Lied der Hitlerjugend gewesen; diese Funktion habe vielmehr das Lied "Vorwärts! Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren" gehabt. Zudem werde das hier streitige Lied vom "Mann auf der Straße" schon mangels Bekanntheitsgrad nicht - wie für eine Strafbarkeit erforderlich - als nationalsozialistisches Kennzeichen erkannt. Schließlich sei der Inhalt des Liedes nicht spezifisch nationalsozialistisch. Es habe nur eines von 36 Pflichtliedern der Hitlerjugend dargestellt und sich formal an ein Lied von Theodor Körner aus dem Jahr 1813 angelehnt.

5

Der Senat hat den Beteiligten ergänzend zwei (sprachwissenschaftliche) Stellungnahmen von G. Hartung, Analyse eines faschistischen Liedes, Wiss. Z. Univ. Halle XXIII'74 G, H. 6, S. 47 ff., und Ketelsen, Literatur und Drittes Reich, 2. Aufl., 349 ff., zum streitigen Lied zur Kenntnis gegeben.

6

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig hat keinen Erfolg. Die vom Antragsteller dargelegten und nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO vom Senat allein zu prüfenden Gründe rechtfertigen keine abweichende Entscheidung. Der Antragsteller wendet sich im Beschwerdeverfahren - soweit ersichtlich - im Wesentlichen gegen die Auslegung des § 86a StGB durch das Verwaltungsgericht und ggf. auch gegen die Subsumtion im konkreten Fall. Diese vom Antragsteller aufgeworfenen Fragen, insbesondere die nach der richtigen Auslegung des § 86a StGB, können in diesem verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren nicht abschließend und mit der vom Antragsteller nach seinem Vorbringen in der Antragsschrift offenbar gewünschten Allgemeinverbindlichkeit beantwortet werden. Auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung der vorrangig zur Auslegung des Strafgesetzbuches berufenen ordentlichen Gerichte sowie der in das Verfahren eingeführten sprachwissenschaftlichen und zeithistorischen Gutachten zu dem umstrittenen Lied bestehen aber unter Berücksichtigung der geringen dem Senat zur Entscheidungsfindung zur Verfügung stehenden Zeit keine Bedenken gegen die Richtigkeit der - u.a. vom Verwaltungsgericht, aber auch den bereits von der Antragsgegnerin zitierten ordentlichen Gerichten (AG Säckingen, Urt. v. 31.8.2011 - 12 Cs 13 Js 4110/11 Hw-; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 28.12.2011 - 3 (4) Ss 682/11- AK 279/11) vorgenommenen - Einordnung des Liedes als nach § 86a StGB strafbar.

7

Nach § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer im Inland Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen verbreitet oder öffentlich, in einer Versammlung oder in von ihm verbreiteten Schriften (§ 11 Abs. 3) verwendet; nach § 86a Abs. 2 StGB sind Kennzeichen im Sinne des Absatzes 1 namentlich Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen. Dass damit auch Lieder zu verbotenen Kennzeichen gehören können, ist allgemein anerkannt (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 18.5.2009 - 2 BvR 2202/08 -, [...]) und wird auch vom Antragsteller nicht bestritten. Entgegen der Annahme des Antragstellers muss ein solches Kennzeichen weder in dieser Form für eine bestimmte verbotene Vereinigung einmalig noch von dieser Vereinigung "(partei)amtlich" als Kennzeichen festgelegt noch für Außenstehende als spezifisches Kennzeichen allgemein bekannt sein. Der letztgenannten, u.a. vom Bayrischen Obersten Landesgericht in einer vom Antragsteller zitierten Entscheidung vertretenen Ansicht (Beschl. v. 27.10.1988 - 5 St RR 185/98 -, [...]) hat sich der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 31. Juli 2002 (- 3 StR 495/01 -, NJW 2002, 3186 [BGH 31.07.2002 - 3 StR 495/01]) ausdrücklich nicht angeschlossen, sondern klargestellt, dass es "auf einen gewissen Bekanntheitsgrad des Kennzeichens" (in der allgemeinen Bevölkerung) "als Symbol einer verfassungswidrigen Organisation nicht ankommt". Einer solchen Auslegung steht u.a. die von der Verwendung des Kennzeichens einer verfassungswidrigen Organisation ausgehende, durch den Straftatbestand zu unterbindende gruppeninterne Funktion als sichtbares Symbol geteilter Überzeugungen entgegen. Denn Sinn und Zweck des Straftatbestandes ist es auch, die mit der Verwendung eines solchen Symbols einhergehende Verfestigung gegenseitiger Bindungen und die damit verbundene Gefahr einer Wiederbelebung der verfassungswidrigen Organisation zu verhindern. Ebenso ist in der bereits von der Antragsgegnerin angeführten Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Celle zur Strafbarkeit des Liedes "Es zittern die morschen Knochen" vom 3. Juli 1990 (- 3 Ss 88/90 -, NJW 1991, 1497) anerkannt, dass ein i.S.d. § 86a StGB verbotenes Kennzeichen einer nationalsozialistischen Organisation sich auch ohne formalen Akt allein durch Übung, d.h. durch sinnbildliche propagandistische Verwendung bilden kann. Der maßgebliche Symbolwert des Kennzeichens kann danach sowohl nach innen als auch nach außen allein durch die Häufigkeit und die Art des Anlasses seines Gebrauchs geschaffen werden. Daraus folgt weiterhin, dass es für eine verbotene Organisation auch jeweils mehrere Kennzeichen geben kann, wenn sie nur nebeneinander oder jeweils zu bestimmten Anlässen den entsprechenden Symbolcharakter entwickelt haben. Dementsprechend ist strafgerichtlich anerkannt, dass es mehrere nach § 86a StGB verbotene nationalsozialistische Grußformeln gegeben hat (vgl. nur die Nachweise bei Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Kommentar, 28. Aufl., 2010, § 86a, Rn. 3). Für Lieder gilt nicht anderes. Voraussetzung für die Strafbarkeit entsprechender Lieder ist demnach nicht, dass sie als alleinige Hymne dienten oder gar dazu förmlich bestimmt waren, sondern dass sie so häufig und in einer Art, d.h. z.B. bei bestimmten Anlässen, gesungen wurden, dass sie zum Symbol des Nationalsozialismus insgesamt oder einer bzw. mehrerer Teilgliederungen geworden sind. Ob ein bestimmtes Lied auch inhaltlich durch nationalsozialistische Wertvorstellungen geprägt war, ist hingegen nicht entscheidend - es können auch bloße Melodien genügen. Allerdings dürfte die Feststellung, dass es sich um ein typisches Kennzeichen einer verbotenen Organisation handelt, näher liegen, wenn das in Rede stehende Symbol nicht inhaltlich neutral oder zuvor bereits anderweitig verwandt, sondern gerade für die verbotene Organisation geschaffen worden ist und dies bereits aus dem Text oder der Abbildung des Kennzeichens unmittelbar deutlich wird.

8

Hieran gemessen ist die Kennzeicheneigenschaft und damit die Strafbarkeit gemäß § 86a StGB des hier umstrittenen Liedes zu bejahen. Wie sich übereinstimmend aus den historischen Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte (von Dr. Drecoll) vom 22. Dezember 2010 sowie des Historischen Seminars der Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg (Prof. Dr. Engehausen) vom 25. Januar 2012 ergibt, stand das von einem führenden Funktionär der Hitlerjugend speziell für diese geschriebene, an erster Stelle in Liederbüchern der Hitlerjugend abgedruckte, zu ihrem Pflichtliederkanon gehörende, wiederholt auf zentralen Parteiveranstaltungen von Angehörigen der Hitlerjugend gesungene Lied "Ein junges Volk steht auf" ungeachtet der fraglichen Qualifikation als "Zweithymne" jedenfalls faktisch an zumindest zweiter Stelle der von der Hitlerjugend gesungenen Lieder und hatte "einen hohen Symbolcharakter, der der unmittelbaren Identifikation mit der Organisation diente" (Engehausen, a. E.). Auch Drecoll betont in seiner Zusammenfassung, dass das Lied als offizielles Propagandalied der NSDAP und ihrer Gliederungen, insbesondere der HJ, gelten kann, mit dessen Hilfe die Kollektivierung und Homogenisierung der Jugend im Sinne des soldatisch-militärischen Erziehungsideals des nationalsozialistischen Regimes vollzogen werden sollte. Man müsse, so Drecoll weiter, davon ausgehen, dass die Verwendung u.a. dieses Propagandaliedes auch bei der musischen Erziehung der Jugend und bei den Veranstaltungen der HJ Verwendung finden musste. Die vom Antragsteller geltend gemachte Verbreitung des Liedes über die Hitlerjugend hinaus mag entsprechend den o. a. Quellen insoweit zutreffen, als es während der Zeit des Nationalsozialismus auch in anderen nationalsozialistisch geprägten Organisationsbereichen wie etwa dem Militär, Schulen oder dem Reichsarbeitsdienst verwendet worden ist. Seinen spezifisch nationalsozialistischen Charakter und seine bereits eindeutig aus dem Text erkennbare Zuordnung speziell zur Hitlerjugend, in der das angesprochene junge (männliche) Volk zwangsweise organisiert war, hat das Lied dadurch nicht verloren. Es ist, wie Engehausen ausführt, schwerpunktmäßig ein Jugendlied geblieben. Dass es Allgemeingut gewesen sei und insbesondere auch nach 1945 noch außerhalb der Kreise gesungen worden sei bzw. werde, in denen es gerade auf die genannten historischen Bezüge und seinen Symbolcharakter ankommt, hat der Antragsteller nicht vorgetragen und ist auch sonst für den Senat nicht zu erkennen. Dagegen und für den strafbaren Symbolcharakter sprechen schließlich ergänzend auch die sprachwissenschaftlichen Analysen des Liedes. So gelangt Hartung, dessen Ausführungen nicht allein wegen der Verwendung bestimmter, vom Antragsteller kritisierter Begriffe jede Überzeugungskraft abgesprochen werden kann, zu der Einschätzung, dass das Lied auch der "äußeren Form nach ...eine Bekenntnishymne für die Hitlerjugend darstelle". Ketelsen meint, Lieder wie das streitige, das "in der HJ fast wie ein Schlager kursierte", seien wie "Schwämme; sie saugen ihre Bestimmtheit erst aus der Situation, in der sie benutzt werden." 1935, d.h. zur Zeit seiner Entstehung bzw. kurz danach, habe sich das "Gedicht als eine Selbstsituierung der Hitlerjugend im nationalsozialistischen Machtapparat gelesen". 1940 habe es bei Abdruck in geänderter, um die dritte Strophe gekürzter Form eine veränderte Lesart erhalten und mit der "Körnerschen Formel" vom "aufstehenden Volk" schließlich auch Eingang in die offene (nationalsozialistische) Propagandarede gefunden. Damit nimmt auch dieser in der Eingangszeile des Liedes unstreitig zum Ausdruck kommende formale Bezug auf ein sehr viel älteres Lied von Theodor Körner aus dem Jahr 1813 ihm nicht seinen Symbolcharakter, sondern zeigt nur auf, wie in diesem Fall ein älterer Text zu nationalsozialistischen Zwecken genutzt bzw. missbraucht wurde.

9

Dass der Vortrag des Liedes zumindest in dem vorgesehenen Umfeld, d.h. als Thema einer Kundgebung, ausnahmsweise straffrei sei, die Versammlungsfreiheit als "ähnlicher" zulässiger "Zweck" wie etwa die in §§ 86a Abs. 3, 86 Abs. 3 StGB ausdrücklich genannte Freiheit der Kunst oder der Wissenschaft einzustufen sei, trägt der Antragsteller selbst nicht vor und träfe auch nicht zu. Das entsprechende strafbewehrte "kommunikative Tabu" (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 13, sowie der vorhergehende Beschl. v. 1.6.2006 - 1 BvR 150/03 -, [...], Rn. 18) gilt auch für den Inhalt von Versammlungen.

10

Selbst wenn man jedoch die vorherigen Ausführungen insbesondere zur historischen Einordnung des streitigen Liedes nicht als hinreichend verlässlich, sondern in einem Hauptsacheverfahren als noch ergänzungsbedürftig ansieht und deshalb in diesem Verfahren eine Interessenabwägung für notwendig erachtet, fällt diese nicht anders, sondern zu Lasten des Antragstellers aus. Denn jedenfalls spricht zur Zeit Überwiegendes für die Strafbarkeit des Liedes und damit gegen seine öffentliche Verbreitung als zentrales Thema einer öffentlichen Versammlung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.1.2002 - 1 BvQ 1/02 -, [...]), zumal die nach der Antragsschrift beabsichtigte Klärung der Rechtslage im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ohnehin nicht möglich ist, eine Kundgebung mit dem genannten Inhalt nicht an einen bestimmten Ort oder Zeitpunkt gebunden ist, also auch später noch nachgeholt werden und die politische Diskussion um die Reichweite und Rechtfertigung des § 86a StGB grundsätzlich, wenn auch ggf. nicht so plakativ auch ohne öffentliche Verbreitung von mutmaßlich strafbaren Texten bzw. Liedern geführt werden kann.