Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 04.04.2012, Az.: 10 LA 184/10

Unregelmäßigkeit; Vorsatz; vorsätzlich

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
04.04.2012
Aktenzeichen
10 LA 184/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 44397
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 04.11.2010 - AZ: 2 A 271/09

Gründe

Der u.a. auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat Erfolg.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung im Sinne der genannten Vorschrift sind dann gegeben, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und zugleich die Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung in ihrem Ergebnis ernstlichen Zweifeln unterliegt.

Der Kläger beantragte am 2. Mai 2006 u.a. die Gewährung einer Betriebsprämie für den Schlag 29 (Osterfeld II) zur Größe von 0,8 ha. Zur Nutzung dieser Fläche gab er in dem zugrunde liegenden Antrag den Kulturcode 641 (Stärkekartoffeln, Vertragsanbau für Emslandstärke) an. Bereits im April 2006 hatte der Kläger mit der C. GmbH einen Anbau- und Liefervertrag für Stärkekartoffeln mit einem Stärkeäquivalent von rd. 6 t und einer Anbaufläche von 0,8 ha geschlossen (Bl. 17 Beiakte B). Die von dieser Fläche geernteten Kartoffeln lieferte der Kläger aber nicht an die C. GmbH, sondern veräußerte sie anderweitig als Speisekartoffeln. Im Rahmen der Anhörung machte der Kläger geltend, er habe vergessen, der Bewilligungsbehörde den Sachverhalt mitzuteilen. Mit Bescheid vom 28. Oktober 2009 nahm die Beklagte die Bewilligungsbescheide über die Betriebsprämie 2006 vom 27. Dezember 2006 sowie über eine zusätzliche Beihilfe 2006 vom 31. August 2007 zurück und forderte Beihilfen in Höhe von 26.116,73 EUR zurück. Zur Begründung führte die Beklagte aus, der Kläger werde nach Art. 53 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 796/2004 von der Gewährung der Beihilfe zur Direktzahlung 2006 (Betriebsprämie 2006) wegen vorsätzlich begangener Unregelmäßigkeiten vollständig ausgeschlossen.

Mit Urteil vom 4. November 2010 hat das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Sanktion nach Art. 53 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 796/2004 lägen nicht vor. Das Gericht sei davon überzeugt, dass der Kläger vom Zeitpunkt seiner Entscheidung, die Kartoffeln nicht der Stärkeerzeugung zuzuführen, bis zur Bekanntgabe des Bescheides vom 26. Mai 2008 sich seiner Pflicht, diesen Umstand der Beklagten mitzuteilen, nicht bewusst gewesen sei und auch nicht daran gedacht habe, dass damit die Angabe des Kulturcodes 641 im Antrag unrichtig geworden sei.

Die Beklagte wendet hiergegen u.a. ein: Dem Kläger habe die Unrichtigkeit seiner Antragsangaben bewusst sein müssen, weil er im Rahmen der Antragstellung in den Belehrungen des Sammelantrags auf seine Verpflichtungen hingewiesen worden sei, der Bewilligungsbehörde unverzüglich Tatsachen mitzuteilen, die der Bewilligung der Beihilfe entgegenstünden. Dies ergebe sich bereits aus Ziffer 21 (richtigerweise gemeint: Ziffer 24) des Sammelantrags. Der Kläger habe in seinem Antrag erklärt, dass er „jede Abweichung von den Antragsangaben (insbesondere hinsichtlich der Größe und der Nutzung von Flächen) … sowie jede Nichteinhaltung von Beihilfevoraussetzungen durch Abgabe einer schriftlichen Erklärung gegenüber der zuständigen Dienststelle der Landwirtschaftskammer …“ mitteilen werde. Weiter habe der Kläger unter Ziffer 20 des Sammelantrags erklärt, dass ihm die für die Gewährung der Beihilfezahlungen geltenden Rechtsgrundlagen bekannt seien.

Mit diesem Vorbringen hat die Beklagte in hinreichender Weise dargelegt, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestehen. Art. 53 UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 796/2004 verlangt weder eine Betrugsabsicht noch einen Vorsatz in Bezug auf die Unrechtmäßigkeit der bewilligten Beihilfe. Diese Vorschrift setzt - wie schon der Wortlaut aufzeigt - lediglich einen Vorsatz in Bezug auf die Unregelmäßigkeit voraus, wobei eine Unregelmäßigkeit in jeder Missachtung der für die Gewährung der betreffenden Beihilfe geltenden Rechtsvorschrift zu sehen ist (Art. 2 Abs. 10 der Verordnung). In Fällen von Veränderungen nach Antragstellung ist daher maßgebend, ob der Antragsteller es vorsätzlich unterlassen hat, der zuständigen Behörde Veränderungen mitzuteilen, die zu einem Auseinanderfallen von angemeldeter und tatsächlicher Anbaufläche geführt haben (vgl. Senatsbeschluss vom 22. November 2010 - 10 ME 148/10 -, RdL 2011, 107 zum Vorsatz nach Art. 52 Abs. 3 UAbs. 1 der Verordnung, der auf Art. 53 UAbs. 1 der Verordnung übertragbar ist). Im Hinblick auf die bei Antragstellung unter Ziffer 20 und 24 des Sammelantrags abgegebenen Erklärungen ist regelmäßig davon auszugehen, dass ein Antragsteller um seine Verpflichtungen weiß, Abweichungen (Änderungen) in der Nutzung einer beantragten Fläche der Bewilligungsbehörde unverzüglich mitzuteilen. Unterlässt es ein Antragsteller in solchen Fällen, eine (gewollte) Nutzungsänderung der Bewilligungsstelle unverzüglich mitzuteilen, ist ein solches Unterlassen regelmäßig als vorsätzlich im Sinne des Art. 53 UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 796/2004 anzusehen.

Des Weiteren unterliegt die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Vorschrift des Art. 53 UAbs. 1 Verordnung (EG) Nr. 796/2004 entspreche nicht den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit.

Die Beklagte hat hierzu vorgetragen: Art. 53 Verordnung (EG) Nr. 796/2004 eröffne keinen Ermessenspielraum. Vielmehr habe die Europäische Union ein abgestuftes Sanktionssystem vorgegeben. Wolle das Verwaltungsgericht die Verhältnismäßigkeit dieser Bestimmung anzweifeln, so hätte es die damit einher gehende Frage der Gültigkeit dieser Vorschrift dem Europäischen Gerichtshof vorlegen müssen. Nur der Europäische Gerichtshof sei befugt, eine EU-Verordnung wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für ungültig zu erklären. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (C-63/00) verfügten die Gemeinschaftsorgane im Agrarbereich über ein weites Ermessen. Zum anderen sehe die Verordnung abgestufte Sanktionen je nach Schwere und Ausmaß der begangenen Unregelmäßigkeit vor. Daher sei es weder ungerechtfertigt noch unverhältnismäßig, einem Betriebsinhaber, dem - wenn auch im guten Glauben und ohne Betrugsabsicht - ein Irrtum unterlaufen sei, eine abschreckende und wirksame Sanktion aufzuerlegen. Nicht anderes gelte, wenn es sich um eine vorsätzliche Unregelmäßigkeit handele. Durch das abgestufte Sanktionssystem werde bereits dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Verordnung Rechnung getragen. Schließlich sei zur Vermeidung unbilliger Härten in Art. 53 UAbs. 1 der Verordnung eine Bagatellgrenze eingeführt worden. Eine zusätzliche Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes über diese Regelung hinaus verstoße gegen EU-Recht.

Mit diesem Vorbringen hat die Beklagte hinreichend ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung in Bezug auf die vom Verwaltungsgericht angenommene Unverhältnismäßigkeit dargelegt.

Die Verordnung (EG) Nr. 796/2004 sieht im Falle von Unregelmäßigkeiten ein abgestuftes Sanktionssystem vor. So bestimmt Art. 51 Abs. 1 UAbs. 1 der Verordnung, dass bei Differenzen zwischen angemeldeter und ermittelter Fläche von mehr als 3 % der ermittelten Fläche oder von mehr 2 ha, aber weniger als 20 % der ermittelten Fläche, die Beihilfe um das Doppelte der festgestellten Differenz gekürzt wird. Liegt die festgestellte Differenz hingegen über 20 % der ermittelten Fläche, so wird für die betreffende Kulturgruppe keine flächenbezogene Beihilfe gewährt (Art. 51 Abs. 1 UAbs. 2 der Verordnung). Liegt in Bezug auf die ermittelte Gesamtfläche, für die ein Sammelantrag auf Beihilfegewährung (ausgenommen für Stärkekartoffeln und Saatgut gemäß den Art. 93 bzw. 99 der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003) gestellt wird, die angegebene Fläche um mehr als 30 % über der ermittelten Fläche, so wird im laufenden Kalenderjahr keine Beihilfe im Rahmen der betreffenden Beihilferegelungen, auf die der Betriebsinhaber Anspruch gehabt hätte, gewährt (Art. 51 Abs. 2 UAbs. 1 der Verordnung); liegt diese Differenz sogar über 50 %, so ist der Betriebsinhaber ein weiteres Mal in einer näher bestimmten Höhe auszuschließen (Art. 51 Abs. 2 UAbs. 2 der Verordnung). Die Sanktionen werden in Fällen vorsätzlicher Übererklärungen weiter verschärft: Beruhen die festgestellten Differenzen zwischen der angegebenen Fläche und der ermittelten Fläche auf vorsätzlich begangenen Unregelmäßigkeiten, so wird dem Betriebsinhaber im laufenden Kalenderjahr keine Beihilfe im Rahmen der betreffenden Beihilferegelung gewährt, auf die er Anspruch gehabt hätte (Art. 53 UAbs. 1 der Verordnung). Dieser Ausschluss greift aber nur ein, wenn die genannte Differenz mehr als 0,5 % der ermittelten Fläche oder mehr als ein Hektar beträgt (Art. 53 UAbs. 1 der Verordnung in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 380/2009 der Kommission vom 8. Mai 2009 (ABl. EG Nr. L 116 Nr. 9), worauf sich der Kläger nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Verordnung (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 (ABl. EG Nr. L 312 S. 1) dem Grunde nach berufen kann. Beläuft sich die Differenz auf mehr als 20 % der ermittelten Fläche, so ist der Betriebsinhaber ein weiteres Mal bis zur Höhe eines Betrages, der der Differenz zwischen der angegebenen Fläche und der ermittelten Fläche entspricht, von der Beihilfegewährung auszuschließen (Art. 53 UAbs. 2 der Verordnung). In diesen Vorschriften findet sich ein abgestuftes Sanktionssystem je nach Schwere und Ausmaß der begangenen Unregelmäßigkeit. Der auch im Unionsrecht geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt keine noch weitergehende Differenzierung der Sanktionsbestimmungen, zumal bereits eine Bagatell-Regelung vorhanden ist und der Gegenstand der Sanktionsbestimmungen einen Bereich der Leistungsverwaltung betrifft. Dementsprechend betont auch der Europäische Gerichtshof, dass die Gemeinschaftsorgane im Agrarbereich über ein weites Ermessen verfügen (EuGH, Urteil vom 16. Mai 2002 - C-63/00[Schilling und Nehring] -, Slg. I-4483, Rdnr. 39).