Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.03.2012, Az.: 8 LA 26/12

Erfordernis eines sechs Jahre ununterbrochenen Aufenthalts bei der Aufenthaltsgewährung an gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende nach § 25a Abs. 1 AufenthG

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
29.03.2012
Aktenzeichen
8 LA 26/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 13215
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2012:0329.8LA26.12.0A

Fundstellen

  • AUAS 2012, 134-135
  • DÖV 2012, 571
  • InfAuslR 2012, 213-214

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Erlaubte kurzfristige Unterbrechungen des nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erforderlichen Aufenthalts, die erkennbar nicht auf die Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts oder Lebensmittelpunktes im Bundesgebiet gerichtet sind, können unschädlich sein.

  2. 2.

    Tatsächliche Aufenthaltsunterbrechungen können nicht nach§ 85 AufenthG außer Betracht bleiben.

Tenor:

Die Anträge der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses ihre auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG gerichtete Klage abgewiesen hat (1.), und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungszulassungsverfahren (2.) haben keinen Erfolg.

Gründe

1

1.

Die Klägerin hat ihren Antrag auf Zulassung der Berufung auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils gestützt. Dieser Zulassungsgrund liegt nicht vor.

2

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind zu bejahen, wenn aufgrund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten (vgl. Senatsbeschl. v. 11.2.2011 8 LA 259/10 , [...] Rn. 3). Die Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.3.2004 7 AV 4.03 , NVwZ-RR 2004, 542, 543).

3

Die Klägerin wendet gegen die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung ein, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 AufenthG verneint. Die Ausreise aus dem Bundesgebiet und der Aufenthalt in Schweden in der Zeit von August bis November 2009 sei allein auf eine Panikreaktion des psychisch erkrankten Vaters der Klägerin zurückzuführen, welche die Klägerin nicht zu vertreten habe.

4

Diese Einwände begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.

5

Nach § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann einem geduldeten Ausländer, der in Deutschland geboren wurde oder vor Vollendung des 14. Lebensjahres eingereist ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich seit sechs Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält (Nr. 1), er sechs Jahre erfolgreich im Bundesgebiet eine Schule besucht oder in Deutschland einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss erworben hat (Nr. 2) und der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Vollendung des 15. und vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird (Nr. 3), sofern gewährleistet erscheint, dass er sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann.

6

Hier erfüllt die Klägerin die sich aus § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ergebenden Voraussetzungen nicht. Sie hält sich nicht seit sechs Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet auf.

7

Nach dem Wortlaut des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ("ununterbrochen") erfüllt dessen Voraussetzungen ein Ausländer grundsätzlich schon dann nicht, wenn er in dem genannten Zeitraum - gleich aus welchen Gründen - das Bundesgebiet auch nur kurzzeitig verlassen hat (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 3.4.2008 10 ZB 08.34 , [...] Rn. 2 (zu § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG)). Nach Sinn und Zweck der Bestimmung können ausnahmsweise erlaubte kurzfristige Unterbrechungen des Aufenthalts, die erkennbar nicht auf die Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts oder Lebensmittelpunktes im Bundesgebiet gerichtet sind, unschädlich sein (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 9.12.2009 13 S 2092/09 , [...] Rn. 25; GK-AufenthG, Stand: Januar 2012, § 104a Rn. 25 (jeweils zu § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG)).

8

Hier hat die minderjährige Klägerin gemeinsam mit ihren Eltern und ihren Geschwistern im August 2009 das Bundesgebiet verlassen. Die Familie hat ihre Wohnung im Bundesgebiet aufgegeben, die Möbel veräußert und die Miete nicht mehr gezahlt. Alle Familienmitglieder stellten in Schweden unter falschen Namen Asylanträge. Die Familie wollte damit im Zeitpunkt der Ausreise aus dem Bundesgebiet erkennbar ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet aufgeben, um unter einer neuen Identität dauerhaft in Schweden zu leben. Dieses Verhalten hindert die Annahme eines ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, ohne dass es noch darauf ankäme, dass die Familie nach Aufdeckung des Mehrfachasylantrages durch die schwedischen Behörden im November 2009 in das Bundesgebiet zurückgekehrt ist. Die minderjährige Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, die Ausreise sei durch ihre Eltern bestimmt und daher nicht von ihr zu vertreten. Denn auf ein solches Vertretenmüssen kommt es ungeachtet des allein den Eltern der Klägerin nach § 1631 Abs. 1 BGB zustehenden Aufenthaltsbestimmungsrechts nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht an. Maßgeblich ist allein, ob sich der Ausländer tatsächlich ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufgehalten hat.

9

Das Verwaltungsgericht hat schließlich zutreffend festgestellt, dass die Unterbrechung des tatsächlichen Aufenthalts auch nicht ausnahmsweise nach § 85 AufenthG außer Betracht bleiben kann. Der Anwendungsbereich der Bestimmung ist nach deren Wortlaut auf die Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts und nach deren Sinn und Zweck auf die Unterbrechung von Zeiten des Titelbesitzes (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.11.2009 1 C 24.08 , BVerwGE 135, 225, 231 f.) beschränkt. Eine Anwendung auf die Unterbrechung des Aufenthalts als solchen, die hier im Raum steht, kommt hingegen nicht in Betracht (vgl. mit eingehender Begründung: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 9.12.2009 13 S 2092/09 , [...] Rn. 25).

10

2.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist gemäߧ 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO unbegründet, weil der Berufungszulassungsantrag, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, keine Aussicht auf Erfolg hat.