Landgericht Stade
Urt. v. 05.01.2004, Az.: 4 O 330/03
Abbiegen; Alleinhaftung; Alleinverschulden; Anscheinsbeweis; Autobahnmeisterei; Betriebsgefahr; Einbiegen; Fahrzeugführer; fließender Verkehr; freie Beweiswürdigung; Gegenfahrbahn; Grundstücksausfahrt; Grundstückseinfahrt; Kfz-Unfall; Parkplatz; Schadensersatzanspruch; Schneeschieber; Sorgfaltspflicht; tatrichterliche Überzeugungsbildung; unabwendbares Ereignis; Verkehrsunfallhaftung; Verkehrsverstoß; Vertrauensschutz; Vorfahrtberechtigung; Vorfahrtrecht; Winterdienstfahrzeug; Zufahrtstraße
Bibliographie
- Gericht
- LG Stade
- Datum
- 05.01.2004
- Aktenzeichen
- 4 O 330/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 51057
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- nachfolgend
- OLG Celle - 09.09.2004 - AZ: 14 U 32/04
Rechtsgrundlagen
- § 7 StVG
- § 17 StVG
- § 10 StVO
Tenor:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger auferlegt.
3. Das Urteil ist für die Beklagten hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe von 115 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
4. Der Streitwert für den Rechtsstreit wird auf 3.712, 41 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Die Parteien streiten um Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 31. Januar 2003 gegen 12:00 Uhr in L. ereignet hat.
Der Kläger hatte mit seinem Pkw Golf auf dem Parkplatz der in der Straße R. Nr. 1 befindlichen Autobahnmeisterei geparkt. Er beabsichtigte, über die Straße R. in Richtung Landesstraße 120 nach Hause zu fahren und befuhr daher die Zufahrt zur Straße R. Der Beklagte zu 1) führte das Winterdiensteinsatzfahrzeug, dessen Halterin die Beklagte zu 2) ist, auf der Straße R. aus Richtung L 120 kommend. Der Beklagte zu 1) wollte in die Zufahrt zur Autobahnmeisterei abbiegen. Es herrschte klares Winterwetter bei Sonnenschein. In der Höhe der Einfahrt zur Autobahnmeisterei kam es auf der Straße Rs zu einer Kollision. Auf die in der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft befindliche Unfallskizze wird in diesem Zusammenhang verwiesen. Ferner wird hinsichtlich der Örtlichkeit auf die von dem beklagten Land vorgelegten Lichtbilder Bezug genommen.
Der Kläger behauptet, er sei äußerst rechts gefahren, und zwar im Schritttempo. Er habe die Blinklichtanlage betätigt, um anzuzeigen, dass er nach rechts abbiegen wolle. Im Einmündungsbereich habe er angehalten. Er habe ganz rechts gestanden. Die Kollision habe der Beklagte zu 1) verursacht, indem er sich bereits auf die Gegenfahrbahn eingeordnet habe und im Begriff gewesen sei, die Kurve zu schneiden. Der Beklagte zu 1) sei so auf die Zufahrt der Autobahnmeisterei zugefahren, dass der Schneeschieber nach links über die Mittellinie herausgeragt habe. Der Kläger meint, er selbst habe die ihm obliegende Sorgfalt beim Einbiegen auf die Straße beachtet. Der Unfall sei für ihn unabwendbar gewesen. Der Beklagte zu 1) hingegen habe bereits vor Ort eingeräumt, den Kläger bzw. dessen Pkw infolge der Sonneneinstrahlung übersehen zu haben, was im Übrigen zwischen den Parteien unstreitig ist. Der Kläger trägt zudem vor, die Zufahrt zu dem Parkplatz ebenso wie die Straße R. seien Gemeindestraßen. Er beansprucht Schadensersatz und Schmerzensgeld, und zwar 1.000,00 € für den Fahrzeugschaden, 340,00 € Nutzungsausfall für die Dauer von 10 Tagen, Sachverständigenkosten in Höhe von 217,00 €, eine Kostenpauschale in Höhe von 25,00 € sowie 930,41 € als Haushaltsführungsschaden. Er hält ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 1.200,00 € für angemessen, wobei er vorträgt, bei der Kollision ein HWS Schleudertrauma erlitten zu haben und für die Dauer von 4 Wochen arbeitsunfähig gewesen zu sein. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Klageschrift vom 7. Juli 2003 ebenso wie auf den Schriftsatz vom 3. November 2003 Bezug genommen.
Die Klage gegen den Beklagten zu 1) hat der Kläger zurückgenommen.
Der Kläger beantragt,
1. die Beklagte zu 2) zu verurteilen, an den Kläger 2.512,41 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab dem 30. Juli 2003 zu zahlen,
2. die Beklagte zu 2) zu verurteilen, an den Kläger ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 1.200,00 € betragen sollte.
Das beklagte Land beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das beklagte Land meint, dem Kläger sei ein Verstoß gegen § 10 StVO zur Last zu legen. Der Beklagte zu 1) habe die Kollision nicht verschuldet. Vielmehr sei der Kläger dem Schneeschieber aus Unachtsamkeit in Höhe des Einmündungstrichters der Grundstückszufahrt frontal in den Weg gefahren. Es sei auch nicht richtig, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Kollision gehalten habe. Dieser habe selbst nach dem Unfall eingeräumt, ca. 15 km/h gefahren zu sein. Der Kläger sei verpflichtet gewesen, auf der Grundstückseinfahrt zurückzubleiben, scharf rechts heranzufahren und dem überbreiten Schneefahrzeug die Einfahrt in das Grundstück zu ermöglichen. Der seitliche Abstand des klägerischen Fahrzeugs zur rechten Fahrbahnkante habe zum Zeitpunkt der Kollision hingegen mindestens 0,80 Meter betragen. Das von dem Beklagten zu 1) geführte Fahrzeug sei mit Begrenzungsleuchten, weiß-roten Fahnen und gelbem Rundlicht gefahren sowie mit eingeschaltetem Licht. Das beklagte Land meint, die Zufahrt zum Betriebshof der Autobahnmeisterei sei nicht dem allgemeinen öffentlichen Verkehr gewidmet. Die Schadenshöhe bestreitet das beklagte Land. Mangels einer zeitnahen Ersatzbeschaffung könne der Kläger nicht den Wiederbeschaffungswert einschließlich Mehrwertsteuer verlangen, sondern allenfalls den Nettobetrag ohne Steuern. Aus diesem Grund entfalle auch eine Nutzungsentschädigung. Zudem sei das Fahrzeug über 14 Jahre alt gewesen, sodass allenfalls eine Nutzungsentschädigung in Höhe von 27,00 € täglich zu veranschlagen sei. Auch den Haushaltsführungsschaden bestreitet das Land der Höhe nach. Der Kläger habe nicht jeden Tag körperlich anstrengende Haushaltstätigkeit verrichten müssen. Die Schmerzensgeldforderung sei überhöht. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Schriftsatzes vom 23. September 2003 verwiesen.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Beklagten zu 1) als Zeugen sowie des Zeugen W. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Die Akte der Staatsanwaltschaft Stade ist zu Beweiszwecken beigezogen worden.
Entscheidungsgründe
I.
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Dem Kläger steht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld aus dem Verkehrsunfall vom 31. Januar 2003 zu. Ein Anspruch ergibt sich weder aus § 839 BGB, Art. 34 GG i.V.m. § 10 NStrG noch aus §§ 7, 17 StVG.
Der Kläger hat den ihm obliegenden Beweis dafür, dass dem Beklagten zu 1) ein Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls traf, nicht führen können. Gegen denjenigen, der beim Ausfahren aus einem Grundstück mit dem fließenden Verkehr kollidiert, spricht der Anschein der schuldhaften Unfallverursachung (vgl. OLG Celle, Urteil vom 22.05.2003, 14 O 239/02, NJW-RR 2003, 1536 f. [OLG Celle 23.07.2003 - 9 U 42/03]; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Auflage, § 10 StVO, Rn. 11 m. w. H.). Gemäß § 10 StVO muss derjenige, der aus einem Grundstück oder von anderen Straßenteilen zur Eingliederung in den fließenden Straßenverkehr einfährt, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließen. Ob es sich bei der Zufahrt zur Autobahnmeisterei um ein Privatgrundstück oder eine Gemeindestraße handelt, kann dabei offen bleiben. Die Zufahrt dient jedenfalls nicht dem durchgehenden Verkehr, so dass „andere Straßenteile“ i. S. v. § 10 StVO gegeben sind und die Vorschrift jedenfalls eingreift. Der in § 10 StVO normierte Sorgfaltsmaßstab beruht auf dem Gedanken, dass durch das Anfahren eine besonders gefährliche Situation geschaffen wird. Durch das Zusammentreffen eines Anfahrenden mit dem in der Regel wesentlich schnelleren fließenden Verkehr werden erhebliche Risiken begründet, die zwar regelmäßig der Anfahrende, nicht hingegen die Teilnehmer des fließenden Verkehrs beeinflussen können. Der zeitliche und örtliche Zusammenhang zwischen dem Anfahren und der anschließenden Kollision ist gegeben. Einer Anwendung des § 10 StVO steht vorliegend nicht entgegen, dass sich der Beklagte zu 1) mit dem von ihm geführten Wintereinsatzfahrzeug auf der Gegenfahrbahn befand. Die Vorschrift entfaltet auch für solche Fälle Geltung. Auch den die Gegenfahrbahn befahrenden Verkehrsteilnehmern hat der Einfahrende den Vorrang zu belassen und ihn nicht zu behindern. Der aus anderen Straßenteilen Einfahrende muss sich grundsätzlich darauf einstellen, dass der ihm gegenüber für die gesamte Straße Vorfahrtberechtigte in diesem Sinn von seinem Recht Gebrauch macht. Es besteht keine Verpflichtung anderer Verkehrsteilnehmer, die Möglichkeit eines Einfahrens in Betracht zu ziehen und ihr Fahrverhalten entsprechend anzupassen. Vielmehr dürfen die Verkehrsteilnehmer des fließenden Verkehrs auf den ihnen eingeräumten Vorrang vertrauen (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl, § 10 StVO, Rn. 10).
Den gegen ihn insoweit sprechenden Anscheinsbeweis hat der Kläger nicht erschüttern können. Ein Sorgfaltsverstoß des Beklagten zu 1) kann nicht festgestellt werden. Zwar ist unstreitig, dass der Beklagte zu 1) das Fahrzeug des Klägers wegen der ihn im Außenspiegel blendenden Sonneneinstrahlung vor der Kollision nicht wahrgenommen hat. Dies hat der Beklagte zu 1) im Rahmen seiner zeugenschaftlichen Vernehmung bestätigt. Der Anscheinsbeweis ist hierdurch indessen noch nicht erschüttert. Dass der Beklagte zu 1) den Kläger ohne die Sonneneinstrahlung rechtzeitig als Hindernis wahrgenommen hätte, steht nicht fest. Auch der Zeuge W. hat bekundet, dass er den Kläger mit seinem Fahrzeug erst gesehen habe, als dieses aus der Ausfahrt habe herausfahren wollen. Vorher habe er den PKW nicht gesehen. Der Kläger hat nicht bewiesen, dass er mit seinem Pkw solange an der Einmündung gehalten hat, dass er für den Beklagten zu 1) rechtzeitig erkennbar gewesen wäre, auch wenn dieser nicht durch die Sonneneinstrahlung geblendet gewesen wäre. Es steht bereits nicht fest, dass der Kläger an der Einmündung gehalten hat, bevor er in die Straße R. eingefahren ist. Die Angaben des Beklagten zu 1), der nach der Rücknahme der Klage gegen ihn als Zeuge vernommen werden konnte, waren insoweit unergiebig. Der Beklagte zu 1) hat bekundet, er könne nicht sagen, ob der Kläger vor der Kollision mit seinem Fahrzeug gestanden habe. Er habe ihn ja vorher nicht gesehen. Der Zeuge W. hat im Rahmen seiner Vernehmung bekundet, dass beide Fahrzeuge ineinander reingefahren seien. Er sei der Meinung, dass der Kläger vor der Kollision nicht gestanden habe. Die Anhörung des Klägers gemäß § 141 ZPO - auf dessen Inhalt wegen der Einzelheiten verwiesen wird (Bl. 84 f. d.A.) - ist kein Beweismittel. Soweit ihr Ergebnis in die Beweiswürdigung nach § 286 ZPO mit einfließt (vgl. dazu BGH NJW 1999, 363, 364 [BGH 16.07.1998 - I ZR 32/96]), führt dies vorliegend nicht dazu, dass der Parteierklärung der Vorzug zu geben wäre. Das Gericht hält vielmehr die Angaben des Beklagten zu 1) und des Zeugen W. für glaubhaft. Beide Aussagen wurden detailreich geschildert. Die Bekundungen des Beklagten zu 1), der aufgrund der Klagerücknahme als Zeuge vernommen werden konnte, wiesen auch keinerlei Belastungstendenzen auf. Der Beklagte zu 1) hat vielmehr freimütig eingeräumt, aufgrund der Sonneneinstrahlung den Pkw des Klägers nicht wahrgenommen zu haben. Auch könne er nicht sagen, wer wen angefahren habe.
Zum Zeitpunkt der Kollision befand sich der Kläger mit seinem Pkw jedenfalls bereits teilweise auf der Straße R. Dies ergibt sich sowohl aus der von den aufnehmenden Polizeibeamten gefertigten Skizze, die sich in der beigezogenen Ermittlungsakte befindet und im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird, als auch aus den glaubhaften Bekundungen des Beklagten zu 1) sowie des Zeugen W., auf deren Inhalt Bezug genommen wird.
Eine Vernehmung der vom Kläger im Schriftsatz vom 03. November 2003 benannten Zeugen I. und H. war nach Auffassung des Gerichts nicht erforderlich. Die Zeugen I. und H., die als Polizeibeamte den Unfall aufgenommen haben, können zum Unfallhergang aus eigener Anschauung nichts beitragen. Die Zeugen könnten allenfalls Angaben zum Standort der beiden Fahrzeuge bei ihrem Eintreffen oder aber zur Vernehmung der Unfallbeteiligten tätigen. Der Standort auf der Straße R. ergibt sich aus der beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Stade. Der Beklagte zu 1) hat im Rahmen seiner zeugenschaftlichen Vernehmung bestätigt, dass er den Kläger nicht gesehen habe, weil er von der Sonne geblendet worden sei. Auch zu dieser Behauptung ist daher eine Vernehmung der Polizeibeamten I. und H. nicht erforderlich.
Im Ergebnis kann ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 9 Abs. 5 StVO bzw. § 1 Abs. 2 StVO nicht festgestellt werden. Es verbleibt dabei, dass der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Klägers an dem Verkehrsunfall spricht. Diesem ist ein Verstoß gegen § 10 StVO vorzuwerfen.
Ob der Unfall für den Beklagten zu 1) unabwendbar i. S. v. § 17 Abs. 3 StVG war, kann offen bleiben. Die Betriebsgefahr des Wintereinsatzfahrzeuges tritt jedenfalls angesichts des erheblichen Gewichts der Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers, entgegen § 10 StVO beim Einfahren aus anderen Straßenteilen eine Gefährdung des fließenden Verkehrs nicht ausgeschlossen zu haben, vollständig in den Hintergrund.
Die Klage war nach alledem abzuweisen.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO bzw. hinsichtlich der teilweisen Rücknahme der Klage auf § 269 Abs. 3 ZPO. Anlass, dem Beklagten zu 1) Kosten aufzuerlegen, besteht nach Auffassung des Gerichts nicht.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO, die Streitwertfestsetzung aus §§ 12 GKG, 3 ZPO.