Landgericht Stade
Urt. v. 03.02.2004, Az.: 1 S 42/03

Bibliographie

Gericht
LG Stade
Datum
03.02.2004
Aktenzeichen
1 S 42/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 42812
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGSTADE:2004:0203.1S42.03.0A

Amtlicher Leitsatz

Wer von einer vorfahrtberechtigten in eine nachrangige Straße abbiegen will, darf dabei andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährden. Kommt es bei diesem Abbiegevorgang gleichwohl zu einer Kollision mit einem in der nachrangigen Straße auf der Gegenfahrbahn fahrenden und dem Abbiegenden entgegen kommenden Fahrzeug, haftet der Abbiegende regelmäßig überwiegend.

Gründe

1

Die Klägerin ist Eigentümer eines Pkw Marke Peugeot. Mit diesem Fahrzeug befuhr ihr Ehemann, der Zeuge W. am Unfalltag den Kreuzweg in Richtung Heinrich-Grube-Weg. Auf dem Weg dorthin musste er ein am rechten Straßenrand geparktes Fahrzeug passieren. Da es außerordentlich glatt war, bog der Zeuge im Schritttempo auf die Gegenfahrbahn aus, um am geparkten Pkw vorbeizufahren. In diesem Moment bog die Beklagte zu 1) mit ihrem Fahrzeug vom Heinrich-Grube-Weg kommend nach rechts in den Kreuzweg ab. Nachdem sie abgebogen war, sah sie sich unvermittelt dem entgegenkommenden Fahrzeug der Klägerin gegenüber, versuchte zu bremsen und rutschte in das Klägerfahrzeug.

2

Die Klägerin behauptet, dass die Beklagte zu 1) mit nicht angepasster und damit überhöhter Geschwindigkeit in den Kreuzweg eingebogen sei. Dies habe es ihr unmöglich gemacht, noch rechtzeitig vor dem Klägerfahrzeug anzuhalten, sodass es zur Kollision gekommen sei.

3

Die Beklagten behaupten, dass der Zeuge W. zu Beginn seines Fahrmanövers das auf dem Heinrich-Grube-Weg herannahende Fahrzeug hätte sehen können, sodass er nicht auf die Gegenfahrbahn hätte ausscheren dürfen.

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Das Amtsgericht wies die Klage ab und führte zur Begründung aus, dass die Beweisaufnahme eine überhöhte Geschwindigkeit des von der Beklagten zu 1) gefahrenen Kfz nicht bestätigt habe.

5

Hiergegen legte die Klägerin Berufung ein.

6

Das Landgericht Stade hat der Berufung stattgegeben und die Beklagten zum überwiegenden Teil zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt:

7

Eine Sorgfaltspflichtverletzung durch den Zeugen W. ist nicht ersichtlich, sodass sich die Klägerin einen etwaigen Pflichtenverstoß durch den Zeugen nicht anrechnen lassen muss.

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Das Vorbeifahren an Fahrzeugen, die am rechten Straßenrand parken, regelt § 6 StVO. Danach hat ein Fahrzeugführer, der zum Passieren eines parkenden Fahrzeugs auf die Gegenfahrbahn wechseln müsste, dem Gegenverkehr den Vorrang zu gewähren. Der Schutzzweck von § 6 StVO erstreckt sich jedoch lediglich auf die Verkehrsteilnehmer, die dem Vorbeifahrenden zum Zeitpunkt des Fahrstreifenwechsels auch tatsächlich entgegen kommen (vgl. OLG Düsseldorf, VRS 63, 60-62). Biegen entgegenkommende Verkehrsteilnehmer hingegen erst nach dem Fahrstreifenwechsel in die vom Vorbeifahrenden genutzte Straße ein und werden sie erst damit zum Bestandteil des Gegenverkehrs, erlischt ihr Vorrang und sie müssen den auf ihrem Fahrstreifen entgegen kommenden Fahrzeugführer passieren lassen (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O.).

9

Vor diesem Hintergrund war der Zeuge W. im vorliegenden Fall berechtigt, an dem im Kreuzweg parkenden Fahrzeug vorbeizufahren, denn unstreitig befand sich der Zeuge W. beim Einbiegen der Beklagten zu 2) in den Kreuzweg bereits auf der Gegenfahrbahn in Höhe des am Fahrbahnrand parkenden Fahrzeugs. Zu diesem Zeitpunkt entstand für den Zeugen W. erst Gegenverkehr, der ihn zwar an dem Fahrstreifenwechsel gehindert hätte, nicht aber an der Fortsetzung seines Manövers, nachdem er bereits auf die Gegenfahrbahn ausgeschert war.

10

Auch ein Verstoß gegen § 1 StVO ist nicht erkennbar. Zwar wäre dem Zeugen, wie die Beklagten vortragen, ein Fahrstreifenwechsel auch dann verwehrt gewesen, wenn er das Fahrzeug der Beklagten zu 1) bereits vor dem Ausscheren auf die Gegenfahrbahn als potentiellen Gegenverkehr hätte erkennen können. Dass dies so war, hat die Beweisaufnahme aber nicht ergeben. Vielmehr hat der Zeuge angegeben, dass sich zu Beginn des Fahrstreifenwechsels vor ihm keine anderen Fahrzeuge befunden hätten. Das Amtsgericht hat diese Aussage für glaubhaft erachtet und der Entscheidung zugrunde gelegt. Hieran ist das Berufungsgericht gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden.

11

Demgegenüber kam es zu einer Sorgfaltspflichtverletzung durch die Beklagte zu 1). Zwar hat das Amtsgericht eine überhöhte Geschwindigkeit der Beklagten beim Einbie-gen in den Kreuzweg nicht feststellen können. Die Beklagte zu 1) verstieß jedoch gegen § 1 Abs. 2 StVO. Danach dürfen sich Verkehrsteilnehmer nur so verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. Diese Verpflichtung hat beim Einbiegen von einer vor-fahrtberechtigten in eine nachrangige Straße zur Folge, dass dies nur unter Beachtung der anderen Verkehrsteilnehmer geschehen darf. Ist für den Abbiegenden erkennbar, dass er durch den Abbiegevorgang andere gefährden könnte, hat er von seinem beabsichtigten Manöver Abstand zu nehmen. Im vorliegenden Fall war der Kreuzweg jedenfalls bis zur späteren Unfallstelle nach dem Beklagtenvortrag für die Beklagte zu 1) bereits vor Beginn des Abbiegemanövers gut einsehbar. Unstreitig ist darüber hinaus, dass sich das Klägerfahrzeug bereits auf der Gegenfahrbahn befand, bevor die Beklagte zu 1) ihrerseits in den Kreuzweg einfuhr. In dem Fall hätte die Beklagte zu 1) aber nicht mehr abbiegen dürfen bzw. nach erfolgtem Abbiegen dem berechtigt (s.o.) die Gegenfahrbahn nutzenden und damit vorrangigen Fahrzeug der Klägerin Gelegenheit geben müssen, wieder auf die eigene Fahrspur zu gelangen. Dass es gleichwohl zum Unfall kam, kann entweder nur mit Unaufmerksamkeit der Beklagten zu 1) vor dem Abbiegevorgang oder mit überhöhter Geschwindigkeit erklärt werden. In jedem Fall kam es damit aber zu einer Sorgfaltspflichtverletzung durch die Beklagte zu 1).

12

In diesem Zusammenhang können sich die Beklagten nicht auf die zum damaligen Zeitpunkt herrschenden Straßenverhältnisse berufen. Diese befreien nicht von der Pflicht, andere Verkehrsteilnehmer zu beachten und diese nicht zu gefährden. Im Gegenteil zwang die herrschende Eisglätte die Beklagte zu 1) vielmehr, besonders vorsichtig zu fahren und den mit der Glätte verbundenen teilweise erheblich verlängerten Bremsweg bei ihrem Fahrverhalten zu berücksichtigen. Dies hätte es der Beklagten zu 1) verwehrt, jedenfalls mit der von ihr gefahrenen Geschwindigkeit in den Kreuzweg abzubiegen, da sie offenkundig nicht die Möglichkeit besaß, unmittelbar danach anzuhalten und dem Klägerfahrzeug den Vorrang zu lassen.

13

Ist eine Sorgfaltspflichtverletzung des Zeugen W. damit nicht nachweisbar, steht dem auf der anderen Seite ein Verstoß der Beklagten zu 1) gegen ihre Sorgfaltspflichten aus § 1 StVO gegenüber. Zulasten der Klägerin kann damit lediglich die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs berücksichtigt werden. Ein völliges Zurücktreten der Betriebsgefahr kommt hingegen nicht in Betracht. Insbesondere kann sich die insoweit beweispflichtige Klägerin nicht auf die Unvermeidbarkeit des Unfalls. Zwar hat der Zeuge W. im Rahmen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ausgesagt, zu Beginn seines Fahrmanövers keine entgegenkommenden Fahrzeuge gesehen zu haben. Angesichts der unmittelbar nach dem Ausscheren auf die Gegenfahrbahn erfolgten Kollision kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass der Zeuge bei entsprechender Sorgfalt das auf der bevorrechtigten Straße befindliche Fahrzeug und dessen mögliche Abbiegeabsicht hätte erkennen können. Hätte der Zeuge daraufhin (zunächst) von dem Ausscheren auf die Gegenfahrbahn Abstand genommen, wäre es zu der Kollision nicht gekommen.

14

Aber auch ein weit überwiegendes Verschulden der Beklagten zu 1) ist nicht erkennbar. Dies kommt nur bei außerordentlich groben Verkehrsverstößen in Betracht, die über das allgemeine Maß weit hinausgehen. Eine solche Konstellation liegt hier aber nicht vor.

15

Die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs ist im vorliegenden Fall mit 30% in Ansatz zu bringen. Dabei führen die extremen Straßenverhältnisse und die damit verbundene eingeschränkte Beherrschbarkeit des Fahrzeugs zu einer Erhöhung der im Allgemeinen mit 20% zu berücksichtigenden Betriebsgefahr.

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Im Ergebnis ist damit eine Haftungsverteilung von 70% zu 30% zum Nachteil der Beklagten angemessen.