Landgericht Stade
Urt. v. 02.11.2004, Az.: 1 S 35/04

Bibliographie

Gericht
LG Stade
Datum
02.11.2004
Aktenzeichen
1 S 35/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 42811
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGSTADE:2004:1102.1S35.04.0A

Amtlicher Leitsatz

Wer in einer Fahrzeugkolonne zuerst ausschert, um die vor ihm fahrenden Fahrzeuge zu überholen, hat grundsätzlich vor allen anderen Kolonnenfahrzeugen Vorrang. Beachtet der Fahrer eines anderen Kolonnenfahrzeugs diesen Vorrang nicht und schert er ebenfalls aus, so haftet er bei einem Zusammenstoß mit dem früher ausgescherten Fahrzeug allein.

Tatbestand:

1

Der Kläger befuhr die Ost - Umgehung aus Stade - Bützfleth kommend in Fahrtrichtung Agathenburg, um nach rechts in die Altländer Straße einzubiegen. Vor dem Kläger fuhr auf der Ost - Umgehung der Zeuge A. mit seinem Pkw. Davor fuhr der Beklagte zu 1). und davor fuhr ein Lkw.

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Auf der Strecke ist eine Geschwindigkeit von 70 km/h zugelassen.

3

Der Kläger wollte die genannten, vor ihm fahrenden Fahrzeuge überholen. Er begab sich auf die linke Fahrspur, um zu überholen. Auch der Beklagte zu 1) wollte - den ihm vorausfahrenden Lkw - überholen.

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Der Kläger wollte dem ebenfalls auf der Gegenfahrspur befindlichen Pkw des Beklagten zu 2) ausweichen, geriet dabei auf den Seitenstreifen und verunfallte dort, ohne dass sich die Fahrzeuge berührten

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Der Kläger behauptete, er habe sich vergewissert, dass kein Gegenverkehr komme und er gefahrlos überholen könne. Dann habe er zum Überholen angesetzt. Als er sich fast auf der Höhe des Zeugen A. befunden habe, habe der Beklagte zu 1) versucht, den vor ihm fahrenden Lkw zu überholen. Er sei auf die Überholspur gefahren, sei dann aber wieder hinter den Lkw eingeschert. Er - Kläger - habe angenommen, dass der Beklagte zu 1) von seinem Überholmanöver Abstand genommen habe. Da immer noch kein Gegenverkehr nahte, habe er - Kläger - sein Überholmanöver fortgesetzt. Er habe sich fast auf der Höhe des vom Beklagten zu 1) gefahrenen Ford Transit befunden, als dieser, ohne Blinkzeichen zu geben, wiederum auf die Überholspur gezogen sei. Um eine Zusammenstoß zu vermeiden, habe er - Kläger - sein Fahrzeug nach links hinüberziehen müssen. Ein Bremsen sei wegen des überraschenden Fahrmanövers des Beklagten zu 1) nicht mehr möglich gewesen.

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Offensichtlich habe sich der Beklagte zu 1) beim Ausscheren nicht darüber vergewissert, dass sich bereits ein Fahrzeug auf der Überholspur neben ihm befunden habe.

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Die Beklagten behaupteten, der Beklagte zu 1) habe den linken Blinker des Ford Transit gesetzt und sich durch Rückschau versichert, dass sämtliche Pkw noch hinter ihm gewesen seien. Der Kläger habe sich noch nicht im Überholvorgang befunden. Der Beklagte zu 1 ) habe dann ein Stück nach links hinübergezogen. Da kein Gegenverkehr gekommen sei, sei der Beklagte zu 1) vollständig auf die linke Fahrspur hinübergefahren, um den Lkw zu überholen. In diesem Moment müsse sich auch der Kläger ent-schlossen haben, die vor ihm fahrenden Fahrzeuge zu überholen. Der Kläger habe sich mit seinem Fahrzeug nicht direkt hinter dem Ford Transit befunden. Im Übrigen hätte der Kläger mit dem Überholvorgang des Beklagten zu 1) rechnen müssen, da der linke Blinker gesetzt gewesen sei. Der Kläger hätte den Unfall durch schlichtes Abbremsen verhindern können.

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Das Amtsgericht hat der Klage nur zum Teil stattgegeben, da der Kläger eine Mitschuld am Unfall zu tragen habe.

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Hiergegen richtete sich die Berufung des Klägers, der seinen ursprünglichen Anspruch vollumfänglich weiter verfolgte.

Gründe

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Das Landgericht Stade hat der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt:

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Unstreitig ereignete sich der vorbenannte Unfall zwischen dem Beklagten- und dem Klägerfahrzeug im Zuge eines beiderseits durchgeführten Überholmanövers. Dabei ist es für die Haftung der Beklagten unerheblich, dass es zu keiner Berührung zwischen den beiden Fahrzeugen gekommen ist. Für die Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG genügt es, dass der Betrieb des Kleinlasters des Beklagten zu 2 ) bzw. die Fahrweise des Beklagten zu 1) zu dem Unfall, d.h. zu dem Abkommen des Pkw Mercedes des Klägers von der Fahrbahn beigetragen hat ( vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 7 StVG, Rn 10 m.w.N. ).

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Darüber hinaus ist bereits unter Zugrundelegung der Aussage des Zeugen A. von einer Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten zu 1) in Form eines Verstoßes gegen § 5 Abs. 4 StVO auszugehen. Die Kammer ist insoweit an die zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts in dem angefochtenen Urteil gemäß § 529 Abs. 1 Ziffer 1 ZPO gebunden. Der Kläger hatte bereits sein Überholmanöver eingeleitet und befand sich als Überholer auf der Gegenfahrbahn in Höhe des dicht hinter dem Kleinlaster des Beklagten zu 2) fahrenden Pkw des Zeugen A., als der Beklagten zu 1) sein unfallursächliches Überholmanöver einleitete.

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Dies aber begründet einen Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 5 Abs. 4 StVO. Danach muss sich ein Fahrzeugführer im Rahmen eines Überholvorganges so verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Damit verbunden ist die Verpflichtung, sich vor Einleitung des mit einem Spurwechsel verbundenen Überholvorganges sorgfältig zu vergewissern, dass nachfolgende Verkehrsteilnehmer nicht im Begriff sind, ihrerseits zu überholen. Ein etwaiger Vorrang vor nachfolgenden Überholern besteht dabei nicht. Das Vorrecht beim Überholen in einer Fahrzeugkolonne steht vielmehr demjenigen zu, der zuerst ausschert. Auch vorausfahrende Fahrzeugführer haben dies zu beachten und ggf. von dem eigenen beabsichtigten Überholvorgang zunächst Abstand zu nehmen (BGH, NJW 1987, 322; KG Berlin, NZV 1995, 359-360).

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Unter Berücksichtigung der dargestellten Sorgfaltsanforderungen hätte der Beklagte zu 1) bei ordnungsgemäßer Durchführung seiner Rückschau das hinter ihm befindliche und bereits im Überholvorgang begriffene Klägerfahrzeug erkennen müssen. Das Klägerfahrzeug scherte nämlich zeitlich vor dem des Beklagten zu 2 ) auf die Gegenfahrbahn aus. Anders kann nicht erklärt werden, dass sich das Klägerfahrzeugfahrzeug jedenfalls teilweise bereits auf der Höhe des hinter dem Kleinlaster des Beklagten zu 2) fahrenden Pkw des Zeugen A. und damit notwendigerweise auf der Gegenfahrbahn befand, als der Beklagte zu 1) seinerseits auf die Gegenspur fuhr. Befand sich das Klägerfahrzeug aber bereits auf der Gegenspur, als der Beklagte zu 1) mit dem Kleinlaster ausscherte, kann nur mit einer unterbliebenen oder unachtsamen Rückschau erklärt werden, dass Beklagte zu 1) hinter ihm gleichwohl kein Fahrzeug erkannt haben will.

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Demgegenüber kann dem Kläger eine Mitverantwortung an dem Unfall nicht angelastet werden. Insbesondere ist nicht feststellbar, dass sein Ausweichmanöver in den Seitenbereich verkehrswidrig war. Dieses Manöver diente ersichtlich dazu, einen Zusammenstoß mit dem plötzlich ausscherenden Kleinlaster des Beklagten zu 2) zu vermeiden.

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In Abweichung der Bewertung durch das Amtsgericht, kann dem Kläger auch kein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 StVO und damit ein Überholen bei unklarer Verkehrslage angelastet werden. Insbesondere musste der Kläger nicht damit rechnen, dass der Beklagte zu 1) nach dem ersten Ausscheren auf die Gegenfahrbahn alsbald abermals ausscheren würde:

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Durch das zunächst durchgeführte, dann aber abgebrochene Ausschwenkmanöver des Beklagten zu 1) ergab sich für den nachfolgenden Kläger bei der erforderlichen objektiven Betrachtung noch nicht der zwingende Schluss, der Beklagte zu 1 werde alsbald ohne Rücksicht auf den nachfolgenden Verkehr nach links auf die Gegenfahrbahn zum Zwecke eines Überholmanövers ausscheren, ohne dies vorher ordnungsgemäß und rechtzeitig anzuzeigen. Er musste lediglich damit rechnen , der Beklagte zu 1) werde zu irgendeinem späteren Zeitpunkt möglicherweise zum Überholen des vorausfahrenden Lkw ansetzen. Damit korrespondiert die Aussage des Zeugen A., wonach das erste Ausscheren des Kleinlasters nicht unmittelbar in das zweite Ausscheren übergegangen, sondern der Kleinlaster "schon ein Stück rechts gefahren" sei. In dieser Situation bestand für den Kläger kein verkehrsbedingter Anlass, nach dem Abbruch des ersten Linksschwenkmanövers durch den Beklagten zu 1) von seinem eigenen Überholmanöver Abstand zu nehmen. Vielmehr musste - wie oben bereits ausgeführt - der Beklagte zu 1) zurückstehen und die Beendigung des bereits erkennbar eingeleiteten Überholmanövers des Klägers abwarten, bevor er dann seinerseits - bei freier Strecke - zum Überholen des Lkw hätte ansetzen dürfen.

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Auch sonstige Anzeichen, die auf einen unmittelbar bestehendes Überholmanöver des Beklagten zu 1) hindeuteten und die vom Kläger zu beachten gewesen wären, sind nicht gesichert. Zwar hat der Beklagte zu 2) im Rahmen seiner Anhörung angegeben, dass der Beklagte zu 1) beim zweiten Ausscheren auf die Gegenfahrbahn den linken Blinker betätigt habe. Zum einen geht aus dieser Äußerung aber schon nicht hervor, dass dies so rechtzeitig geschah, dass der Kläger darauf noch hätte unfallabwendend reagieren können. Darüber hinaus hätte der Kläger aber sein bereits erkennbar eingeleitetes Überholmanöver aufgrund eines erst danach am Kleinlaster gesetztes Blinkers nicht mehr abbrechen müssen. Vielmehr gebührte ihm der Vorrang vor dem Beklagten zu 1).

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Auch die Tatsache, dass der Kläger eine vor ihm befindliche und aus zwei bzw. drei Fahrzeugen bestehende Kolonne überholte, begründet kein Überholverbot. Unklar ist die Verkehrslage, wenn der Überholende nicht zuverlässig beurteilen kann, was der Vorausfahrende sogleich tun wird (KG Berlin, NJW-RR 1987, 1251-1252). Das ist beispielsweise der Fall, wenn bei einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird, dies der nachfolgende Verkehrsteilnehmer erkennen konnte und dem überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren - ohne Gefahrenbremsung - möglich ist. Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen an das Bestehen einer unklaren Verkehrslage ist das Überholen einer Fahrzeugkolonne auch nach § 5 Abs. 3 Ziffer 1 StVO nicht generell verboten. Ohne Hinzutreten von besonderen Umständen, die für ein unmittelbar folgendes Ausscheren sprechen, muss der eine Fahrzeugkolonne Überholende nicht damit rechnen, dass ein in der Kolonne befindliches Fahrzeug unvermittelt nach links ausschert (vgl. Hentschel, "Straßenverkehrsrecht", 37. Aufl., § 5 StVO, Rn. 34 m.w.N.). Auch in diesem Zusam-menhang ist zu berücksichtigen, dass das Ausscheren zum Überholen - wie bereits dargestellt - rechtzeitig unter Benutzung des Fahrtrichtungsanzeigers angekündigt werden muss. Außerdem obliegt dem Überholer ohne Ausnahme nach § 5 Abs. 4 Satz 1 StVO die Pflicht, vor dem Ausscheren auf den nachfolgenden Verkehr zu achten. Er hat sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausge-schlossen ist. Deshalb darf der Überholende seinerseits grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Fahrer eines vorausfahrenden Personenkraftwagens nicht ohne rechtzeitiges Einschalten des linken Fahrtrichtungsanzeigers und ohne auf den nachfolgenden Verkehr zu achten, seinerseits zum Überholen ansetzen wird (BayObLG VRS 64, 55, 56).

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Damit verbleibt es bei der Feststellung, dass der Beklagte zu 1) gegen seine Sorgfaltspflichten verstieß, während dem Kläger keine Sorgfaltspflichtverletzung nachzuweisen ist.

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Für die Frage der Haftungsquote kommt es nicht darauf an, ob dem Kläger der Unabwendbarkeitsbeweis gemäß § 17 Abs. 3 StVG gelungen ist. Jedenfalls tritt die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs angesichts des erheblichen Verschuldens des Beklagten zu 1 ) vollständig zurück, sodass die Beklagten für den entstandenen Schaden des Klägers vollständig einzutreten haben.