Landgericht Stade
Urt. v. 02.03.2004, Az.: 1 S 45/03
Bibliographie
- Gericht
- LG Stade
- Datum
- 02.03.2004
- Aktenzeichen
- 1 S 45/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 42810
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGSTADE:2004:0302.1S45.03.0A
Fundstelle
- NZV 2004, 254-255 (Volltext mit red. LS)
Amtlicher Leitsatz
Auf einen Verzicht des Vorfahrtberechtigten auf die ihm zustehende Vorfahrt kann sich ein Verkehrsteilnehmer nur dann berufen, wenn der Verzicht unmissverständlich erfolgt ist und ihm eine beiderseitige Verständigung vorausging.
Gründe
Der Kläger fuhr auf der bevorrechtigten Bahnhofstraße, auf der hohes Verkehrsaufkommen herrschte, in Richtung Rotenburg. Es war dunkel.
Der Beklagte zu 2) näherte sich mit dem BMW auf der untergeordneten Straße Herrenbrümmer der Bahnhofstraße. Der Beklagte zu 2) fuhr in die Bahnhofstraße ein, um nach links abzubiegen. Es kam zur Kollision mit dem Pkw des Klägers.
Der Kläger meinte, der Beklagte habe die Vorfahrt des Klägers verletzt.
Der Kläger habe seine Geschwindigkeit verkehrsbedingt verlangsamt und zum vorausfahrenden Fahrzeug Sicherheitsabstand eingehalten. Er habe weder angehalten noch auf sein Vorfahrtsrecht verzichtet.
Die Beklagten behaupten, auf der Bahnhofstraße sei ein längerer Stau gewesen. Der Kläger habe auf der Bahnhofstraße vor der Einmündung zum Herrenbrümmer angehalten. Es sei eine größere Lücke zum vorausfahrenden Fahrzeug entstanden. Der Kläger habe dem Beklagten zu 2) zu verstehen gegeben, dass er auf seine Vorfahrt verzichte. Der Beklagte zu 2) sei langsam in die Bahnhofstraße eingefahren. Der Kläger sei plötzlich angefahren. Er habe versucht, vor dem einbiegenden langsam fahrenden Fahrzeug der Beklagten zu 1) herumzufahren.
Das Amtsgericht hat dem Kläger ein Mitverschulden in Höhe von 50% angerechnet und zur Begründung darauf ausgeführt, dass dieser nicht auf sein Vorfahrtsrecht hätte bestehen dürfen.
Das Landgericht Stade hat der hiergegen gerichteten Berufung überwiegend stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Unstreitig ereignete sich der Unfall im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Versuch des Beklagten zu 2) , aus einer untergeordneten Straße kommend nach links in die bevorrechtigte Bahnhofstraße einzubiegen, wobei es zur Kollision mit dem die Hauptstraße mit seinem Pkw befahrenden Kläger kam. Diese Konstellation begründet zulasten des Beklagten zu 2) einen Anscheinsbeweis dahingehend, dass dieser unter Verstoß gegen § 8 StVO die Vorfahrt des vom Kläger geführten Pkw nicht beachtete (vgl. BGH, NJW 1982 2686; OLG Köln, VersR 2001, 1042-1043; OLG Köln, Schaden-Praxis 1998, 273-274; LG Berlin, Schaden-Praxis 1997, 315-316; OLG Köln, Schaden-Praxis 1995, 358-359). Streitet damit für den Kläger ein Anscheinsbeweis, obliegt es als Folge dessen den Beklagten, die Möglichkeit eines atypischen, gegen diese Vermutung sprechenden Sachverhalts darzulegen und ggf. unter Beweis zu stellen. Gelingt dies nicht, ist das aufgrund des Anscheinsbeweises vermutete Verschulden des die Vorfahrt verletzenden Fahrzeugführers regelmäßig derart gewichtig, dass die Betriebsgefahr des unfallbeteiligten Fahrzeugs daneben vollständig in den Hintergrund tritt ( vgl. dazu KG, NZV 2002, 79 m.w.N.).
Die Vorfahrtsverletzung durch den Beklagten zu 2 ) erschließt sich auch aus der eigenen Darstellung des Beklagten zu 2 ) im Rahmen seiner Anhörung durch das Amtsgericht im vorliegenden Rechtsstreit sowie in dem vor dem Amtsgericht geführten Parallelprozess. Dort hat der Beklagte zu 2) nämlich dargestellt, dass er nach dem Anfahren aus der Straße Herrenbrümmer beim Hineintasten auf die Bundesstraße nach rechts und nicht nach links, wo sich der vorfahrtsberechtigte Kläger mit seinem Fahrzeug befand, geschaut hat. Er hat dargestellt, er habe nicht gesehen, dass und wann der Kläger mit seinem Pkw anfahren sei. Dieser Vortrag verdeutlicht, dass der Beklagte zu 2 ) bei seinem Einfahrmanöver in die Bundesstraße nicht, jedenfalls nicht hinreichend auf den bevorrechtigten Verkehr von links - hier den Kläger - geachtet hat.
Den gegen den Beklagten zu 2 ) sprechenden Anscheinsbeweis haben die Beklagten nicht widerlegt. Es bleiben insgesamt zu viele Zweifel, die zu Lasten der Beklagten gehen, da sie einen atypischen Geschehensablauf nicht nur behaupten sondern auch beweisen müssen.
Hinreichende Anhaltspunkte für einen von den Beklagten in Anspruch genommenen Verzicht des Klägers auf sein Vorrecht im Verhältnis zum Beklagten zu 2) liegen nicht vor. Die Ausführungen des Amtsgerichts hierzu auf Seite 5 des angefochtenen Urteils sind richtig. Ein derartiger Verzicht auf das Vorfahrtsrecht muss aus Gründen der Verkehrssicherheit und Klarheit unmissverständlich angezeigt werden ( vgl. Hentschel, Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 8 StVO, Rn. 37 m.w.N. ). Außerdem besteht Vertrauen auf den Verzicht nur nach Verständigung. Dazu haben die Beklagten schon nicht hinreichend vorgetragen. Auch hat die vom Amtsgericht durchgeführte Beweisaufnahme dazu nichts Ausreichendes ergeben. Selbst wenn der Kläger mit seinem Fahrzeug auf der Bahnhofstraße an der Einmündung zur Straße Herrenbrümmer gestanden und der Beklagte zu 2 ) Blickkontakt zum Kläger hergestellt haben sollte, stellt allein dies noch keinen Verzicht auf das Vorrecht des Klägers im Verhältnis zum Beklagten zu 2 dar. Es ist nämlich nicht ersichtlich, dass der Kläger hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hat ( etwa in Form einer akzeptierenden Handbewegung ), dass er den Beklagten zu 2) in die Bahnhofstraße einbiegen lassen würde. Es fehlt an einer klaren Verständigung zwischen dem Kläger und dem Beklagtem zu 2).
Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen reichen nicht aus, dem Kläger eine Mitverantwortung an dem Unfall, nämlich einen Verstoß gegen § 1 SVO, anzulasten. Verlässliche Feststellungen dazu, dass der Kläger unzulässigerweise auf sein Vorfahrtsrecht "gepocht" hat, sind vom Amtsgericht nicht getroffen worden und fehlen hier. Nicht gesichert ist schon, ob vor dem Einfahrmanöver des Beklagten zu 2 ) auf die Bundesstraße der Kläger mit seinem Pkw vor der Einmündung der Straße Herrenbrümmer überhaupt gestanden hat. Der Kläger hat - in Abweichung zur Darstellung des Beklagten zu 2) - im Rahmen seiner Anhörung durch das Amtsgericht ausgeführt, er habe vor der Einmündung nicht gehalten sondern sei langsam gefahren. Die Aussage des Zeugen S. hierzu ist nicht eindeutig. Zwar hat der Zeuge zunächst bekundet, der Golf, also der Pkw des Klägers, habe gestanden. Sodann hat er diese Aussage aber relativiert, indem er bekundet hat, er glaube dass der Golf gestanden habe, jedenfalls sei aber eine Lücke vorhanden gewesen.
Unabhängig davon, ob der Kläger mit seinem Pkw vor der Einmündung angehalten hatte, ist vollkommen ungeklärt, wie lange und mit welchem konkreten Abstand dieses Haltemanöver durchgeführt worden ist. Der Beklagte zu 2 ) hat dazu im Rahmen seiner Anhörung angegeben, er habe nicht gesehen, dass und wann der Kläger mit seinem Pkw angefahren sei. Welche konkrete Wegstrecke der Kläger mit seinem Pkw auf der Bahnhofstraße bis zur Kollision zurückgelegt hat, ist weder von den Beklagten dargelegt noch vom Amtsgericht im Einzelnen festgestellt worden. Die Beweisaufnahme gibt dazu keine verlässlichen Anhaltspunkte. Gleiches gilt für den Abstand und die Geschwindigkeiten der am Unfall beteiligten beiden Pkw bis zur Kollision. Da der Beklagte zu 2) nach eigener Darstellung des Beklagten zu 2 ) sich bei der herrschenden Dunkelheit in die Vorfahrtsstraße hineintastete bzw. langsam fuhr, kann auch nicht hinreichend gesichert davon ausgegangen werden, dass der Beklagte zu 2) für den Kläger dessen Vorfahrt erkennbar bestritt. Es fehlen verlässliche Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger noch erfolgreich auf die Vorfahrtsverletzung durch den Beklagten zu 2 ) hätte reagieren können.
Schließlich spricht auch das Schadensbild an beiden Pkw eher gegen die Darstellung der Beklagten, wonach der Kläger mit seinem Fahrzeug an dem stehenden Pkw der Beklagten zu 1 ) entlanggeschrammt sein soll. Vielmehr spricht der Schaden vorne links und in der Mitte des BMW ( Bl. 28 und 31 d. A. ) und insbesondere der im Schwerpunkt punktuelle Anstoß an der rechten Fahrzeugseite des VW-Golf ( s. Gutachten Bl. 7 d.A. sowie Lichtbilder Bl. 52 und 53 d.A.) dafür, dass der Kläger mit einem Teil seines Fahrzeugs den Pkw der Beklagten zu 1) bereits passiert hatte und dann der Beklagte zu 2) gegen den fahrenden Pkw des Klägers gestoßen ist.
Angesichts der aufgezeigten Unklarheiten kann andererseits zwar auch nicht festgestellt werden können, dass der Unfall für den Kläger bei optimaler Fahrweise nicht hätte vermieden werden können. Das kann aber für die Entscheidung letztlich offen bleiben, weil - wie bereits ausgeführt - die schlichte Betriebsgefahr des bevorrechtigten Fahrzeuges bei Vorfahrtsverletzungen vollständig hinter das Verschulden des Vorfahrtsverletzers zurücktritt.
Der Kläger hat gegen die Beklagten demnach Anspruch auf Ausgleich nicht nur in Höhe von 50 % sondern von 100 % des unfallbedingt entstandenen Schadens.