Landgericht Stade
Urt. v. 22.06.2004, Az.: 1 S 34/04

Bibliographie

Gericht
LG Stade
Datum
22.06.2004
Aktenzeichen
1 S 34/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 42817
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGSTADE:2004:0622.1S34.04.0A

Amtlicher Leitsatz

Wer einen Abbiegevorgang nach rechts abbricht und statt dessen auf einer Vorfahrtstraße geradeaus weiterfährt, hat bei einer Kollision mit einem anderen Fahrzeugführer, der auf die angezeigte Abbiegeabsicht vertraut, für die eigenen Schäden teilweise einzustehen.

Gründe

1

Der Kläger befuhr am Unfalltag mit seinem Audi A 4 die Buxtehuder Straße in Richtung Harsefeld. Am Unfallort besteht eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70km/h. Da er noch vor Erreichen der Ortschaft nach rechts in die nachrangige Straße "Im Sande" abbiegen wollte, setzte er den rechten Blinker. Kurz vor Erreichen der Straße entschloss er sich jedoch, geradeaus weiterzufahren.

2

Der Beklagte stand seinerseits mit seinem Skoda Oktavia in der Straße "Im Sande". Nachdem er den Blinker am Klägerfahrzeug wahrgenommen hatte, beschleunigte er sein Fahrzeug, um nach links auf die Buxtehuder Straße einzufahren. Dabei kam es zur Kollision beider Kfz.

3

Der Kläger behauptet, dass er ca. 50 Meter vor Erreichen der Straße "Im Sande" den Blinker wieder ausgeschaltet habe. Trotzdem habe der Beklagte zu 1) seinem Fahrzeug die Vorfahrt genommen. Er begehrt Ersatz von 50% des ihm entstandenen Sachschadens. Dabei rechnet er wegen eines wirtschaftlichen Totalschadens auf der Grundlage einer fiktiven Wiederbeschaffung abzgl. Restwert ab. Obwohl er sich kein Ersatzfahrzeug angeschafft hat, begehrt er auch die im Wiederbeschaffungswert enthaltene Mehrwertsteuer.

4

Die Beklagten behaupten, dass der Kläger nicht nur den Blinker gesetzt, sondern auch seine Fahrt verlangsamt habe. Mangels anderweitiger Straßen, in die der Kläger hätte einbiegen können, sei der Beklagte zu 1) deshalb davon ausgegangen, dass er gefahrlos in die Buxtehuder Straße einfahren dürfe. Der Kläger habe seinen Blinker nicht wieder ausgeschaltet.

5

Das Amtsgericht hatte Beweis erhoben durch Vernehmung der Beifahrerin im Fahrzeug des Beklagten zu 1). Danach sei das Blinken des Klägerfahrzeugs durchgehend gewesen und nicht zurückgenommen worden.

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Das Amtsgericht wies die Klage daraufhin ab und führte zur Begründung aus, dass der Unfall für den Beklagten zu 1) unabwendbar gewesen sei. Dies ergebe sich aus der Aussage der Zeugin, an der zu zweifeln das Gericht keinen Anlass habe.

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Hiergegen legte der Kläger Berufung ein.

8

Das Landgericht Stade hat den Parteien einen - von diesen angenommenen - schriftlichen Vergleichsvorschlag unterbreitet. Zur Begründung hat es ausgeführt:

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Beiden Parteien des Verkehrsunfalls dürfte im vorliegenden Fall eine Sorgfaltspflichtverletzung zur Last zu legen sein.

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Der Beklagte zu 1) dürfte gegen die ihm gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO obliegenden Sorgfaltspflichten verstoßen haben. Danach darf derjenige, der die Vorfahrt zu gewähren hat, nur dann weiterfahren, wenn er die vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmer weder gefährdet, noch wesentlich behindert. Diese Sorgfaltsanforderung beachtete der Beklagte zu 1) nicht, indem er von der Straße "Im Sande" auf die bevorrechtigte Buxtehuder Straße fuhr und es in der Folge zur Kollision mit dem vom Kläger geführten Pkw kam. Dass der Kläger seinerseits den Blinker gesetzt hatte und der Beklagte zu 1) aufgrund dessen von einer Abbiegeabsicht des Klägers in die Straße "Im Sande" ausging, ändert an der Feststellung eines Vorfahrtverstoßes nichts (vgl. OLG Karlsruhe, DAR 2001, 128-129; OLG München, DAR 1998, 474; KG Berlin, NZV 1990, 155). Vielmehr ist dieser Umstand erst im Rahmen der Haftungsabwägung gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG zu berücksichtigen (vgl. KG Berlin, a.a.O.).

11

Aber auch der Kläger dürfte gegen die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten verstoßen haben. Gemäß § 1 Abs. 2 StVO hat sich jeder Verkehrsteilnehmer so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt oder gefährdet wird. Dies beinhaltet die Verpflichtung, eine Abbiegeabsicht gemäß § 9 Abs. 1 StVO unter Verwendung der Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig und vor allem unmissverständlich anzuzeigen. Wer den Abbiegevor-gang abbricht, hat die entsprechende Anzeige wieder zurückzunehmen. Keinesfalls darf er den Blinker dauerhaft in Betrieb belassen, weil hierdurch unter Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO für andere Verkehrsteilnehmer eine unklare und missverständliche Verkehrssituation geschaffen wird. Wie bei einer Kollision zwischen einem wartepflichtigen Pkw und einem Fahrzeug, dessen Führer eine tatsächlich nicht bestehende Abbiegeabsicht unzutreffend ange-zeigt hat, die Verursachungsbeiträge zu bewerten sind, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig.

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Die Kammer vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass allein die Anzeige der Abbiegeabsicht keinen Vertrauenstatbestand zugunsten des Wartepflichtigen begründet (ebenso OLG Karlsruhe, DAR 2001, 128.129; KG Berlin, NZV 1990, 155; OLG Hamburg, VersR 1966, 195; LG Halle, VersR 2002, 1525-1528). Dies beruht auf der Überlegung, dass allein das Blinken eines bevorrechtigten Kfz nicht eindeutig auf eine Abbiegeabsicht des Fahrzeugführers schließen lässt. Erfahrungsgemäß ergeben sich im Straßenverkehr immer wieder Situationen, in denen die Rückstellautomatik des Blinkers wegen eines zu großen Kurvenradius nicht greift und der Blinker aktiviert bleibt. In Betracht kommt aber auch eine versehentliche Betätigung des Blinkers oder eine Verständigung mit dem nachfolgenden Verkehr. Um auf das bevorstehende Abbiegen vertrauen zu können, müssen deshalb noch weitere Anhaltspunkte hinzukommen, die den Schluss auf das bevorstehende Manöver des bevorrechtigten Fahrzeugsführers zuverlässig erlauben. Je stärker das Vertrauen in die Abbiegeabsicht des die Vorfahrt-straße Befahrenden, desto höher fällt dessen Haftung aus.

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Im vorliegenden Fall ist ein solcher Anhaltspunkt in der von der Zeugin beobachteten Verlangsamung des Klägerfahrzeugs vor dem Erreichen der Straße "Im Sande" zu sehen. Dieses begründet für unbeteiligte Verkehrsteilnehmer die Vermutung, dass der Kläger den Blinker nicht nur versehentlich in Betrieb genommen bzw. belassen hatte, sondern dass er darüber hinaus auch tatsächlich beabsichtigte, in die Straße "Im Sande" abzubiegen. Das Fehlen weiterer Abbiegemöglichkeiten hinter der Straße "Im Sande" ist hingegen keine geeignete Anknüpfungstatsache, da hieraus allein in Verbindung mit dem (möglicherweise auch nur versehentlichen) Blinken nicht auf eine bevorstehende Abbiegeabsicht geschlossen werden kann. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Grundvoraussetzung, dass ein Vertrauenstatbestand bei Hinzutreten weiterer Anknüpfungstatsachen überhaupt erst entstehen kann. Wären demgegenüber weitere Abbiegemöglichkeiten vorhanden gewesen, wäre schon die Entstehung des Vertrauenstatbestandes an sich zweifelhaft (vgl. LG Halle, NZV 2003, 34-37).

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Damit kommt als alleiniger Anhaltspunkt, der einen Vertrauenstatbestand begründen könnte, das in Verbindung mit dem Blinken beobachtete Verlangsamen des Klägerfahr-zeugs in Betracht. Dies allein dürfte allerdings keine Alleinhaftung des Klägers begründen. Bei einer Abwägung der Verursachungsbeiträge ist vielmehr zu berücksichtigen, dass es im vorliegenden Fall an weiteren - bereits vom Klägervertreter beispielhaft aufgelisteten - Anknüpfungstatsachen fehlt. So fehlt es sowohl an einer Einordnung des Klägerfahrzeugs zur rechten Fahrbahnseite oder auch am Einschlagen des Lenkrads und damit verbunden einer zumindest beginnenden Abbiegebewegung. Auch die Verlangsamung selbst kann das Gewicht der Sorgfaltspflichtverletzung durch den Kläger nur eingeschränkt erhöhen. Insoweit fehlt es nämlich an hinreichend konkreten Anhaltspunkten, die eine nähere Objektivierung der von der Zeugin beobachteten Verzögerung erlauben würden. Insbesondere ist nicht bekannt, in welchem Umfang die Geschwindigkeit des Klägerfahrzeugs reduziert wurde. Zulasten der insoweit beweispflichtigen Beklagten ist deshalb davon auszugehen, dass die Geschwindigkeit gerade soweit verringert wurde, dass dies von anderen Verkehrsteilnehmern noch wahrgenommen werden konnte. Eine weitergehende Verlangsamung hat die erstinstanzliche Beweisaufnahme hingegen nicht ergeben.

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Unter diesen Umständen scheint eine Haftungsverteilung von 80% zulasten des Klägers angemessen, sodass diesem noch 20% des ihm entstandenen Gesamtschadens zustehen.