Landgericht Stade
Urt. v. 18.03.2004, Az.: 4 O 166/03
Bibliographie
- Gericht
- LG Stade
- Datum
- 18.03.2004
- Aktenzeichen
- 4 O 166/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 42816
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGSTADE:2004:0318.4O166.03.0A
Amtlicher Leitsatz
Zur Aufsichtspflicht der Eltern, wenn sich ein 9-jähriges Kind unbeaufsichtigt im Straßenverkehr bewegt und dabei einen Unfall verursacht.
Gründe
Der Kläger nahm die Beklagten als Aufsichtspflichtige auf Schadensersatz und Feststellung aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 14. August 2002 gegen 17.10 Uhr auf der Bahnhofsstraße in L. ereignet hat.
Der Kläger befuhr mit seinem Pkw Chevrolet Corvette bei Feierabendverkehr die Bahnhofsstraße in L. in Richtung N. An der Kreuzung D. Straße musste der Kläger an der roten Ampel als erstes Fahrzeug anhalten. In der Gegenrichtung wartete eine Kolonne von mehreren Fahrzeugen ebenfalls bei rotem Ampellicht. Ca. 20 bis 50 m nach der Kreuzung - über die genaue Entfernung streiten die Parteien - wich der Kläger mit seinem Pkw dem Sohn der Beklagten, dem Zeugen Phillip F. aus, der mit seinem Fahrrad die Straße überqueren wollte, wobei er das Fahrrad schob. Der Kläger prallte bei dem anschließenden Ausweichmanöver mit seinem Pkw gegen einen Baum sowie einen dahinter stehenden eisernen Pfahl. Der genaue Unfallhergang ist streitig.
Der Kläger behauptete, er sei nach Umschalten der Ampel auf Grünlicht "normal" bzw. "gemächlich" angefahren. Er sei vor dem Ausweichmanöver lediglich 40 km/h gefahren. Der Sohn der Beklagten sei plötzlich und nahezu im Laufschritt hinter einem noch stehenden Fahrzeug des Gegenverkehrs aufgetaucht und habe sein Fahrzeug quer über die Fahrbahn geschoben, ohne auf den herannahenden Pkw zu achten. Zu dem Zeitpunkt, als der Sohn der Beklagten für ihn erstmalig sichtbar gewesen sei, sei er nur noch ca. eine Fahrzeuglänge entfernt gewesen. Sein Pkw sei bei dem Ausweichmanöver erheblich beschädigt worden. Das Fahrrad habe er nicht berührt. Auch habe er nicht den auf dem Grünstreifen befindlichen Baum umgefahren. Er ist der Ansicht, der Sohn der Beklagten habe den Unfall durch sein grob verkehrswidriges und leichtsinniges Verhalten allein verursacht und verschuldet. Für ihn selbst sei der Unfall unabwendbar gewesen.
Der Kläger meinte, die Beklagten würden unter dem Gesichtspunkt der Aufsichtspflichtverletzung haften. Diese hätten dafür Sorge tragen müssen, dass ihr Sohn die vielbefahrene Bahnhofsstraße - noch dazu bei starkem Feierabendverkehr - nur an der ampelgesicherten Kreuzung überquere. Er war der Ansicht, die Beklagten hätten auch überwachen müssen, ob ihre Anweisungen eingehalten werden. Der Unfall zeige, dass der Sohn der Beklagten nicht über die erforderlichen Kenntnisse und die notwendige Umsicht im Straßenverkehr verfüge.
Der Kläger beanspruchte Schadensersatz i.H.v. insgesamt 10.103, 14 EUR und ferner Feststellung, dass die Beklagten nach durchgeführter Reparatur auch die Mehrwertsteuer zu ersetzen haben.
Die Beklagten behaupteten, der Kläger sei unaufmerksam und mit einer der Verkehrssituation nicht angepassten überhöhten Geschwindigkeit gefahren. Ein "normales" Anfahren sei mit einem Pkw Coupè Chevrolet Corvette aufgrund der Motorleistung und des Hubraumes gar nicht möglich. Dem Kläger sei auch bekannt gewesen, dass sich in Höhe der späteren Unfallstelle rechts und links der Fahrbahn Einmündungen zu Einkaufsmärkten befinden, was im übrigen zwischen den Parteien auch unstreitig ist. Der Kläger habe seine Aufmerksamkeit nicht hinreichend auf die Gegenfahrbahn gerichtet. Als ihr Sohn den Pkw des Klägers erblickt habe, habe er sich etwa auf der Mitte der für ihn gegenüberliegenden Fahrbahn befunden. Der Kläger habe mit seinem Fahrzeug noch das Vorderrad des Kinderfahrrades erwischt und dieses dabei zerstört.
Die Beklagten waren im Hinblick auf das Alter und der vorhandenen Fahrkenntnisse ihres Sohnes der Auffassung, sie hätten ihrer Aufsichtspflicht genügt. Ihr Sohn, der Zeuge Phillip F., sei zum Zeitpunkt des Unfalls 9 Jahre alt gewesen. Er habe die 4. Klasse der Grundschule in L. besucht, sei außerordentlich sportlich und vielseitig interessiert. Er fahre seit seinem 4. Lebensjahr Fahrrad und seit dem Frühjahr 2002 auch mit dem Fahrrad zur Schule, die - ca. 1 km entfernt - ebenfalls im Ortsbereich liege. Die B.straße liege zwar nicht auf dem Schulweg, werde aber auch sonst von ihrem Sohn befahren. Bislang sei kein einziger Unfall ihres Sohnes bekannt geworden. Im schulischen Rahmen habe ihr Sohn erfolgreich eine Fahrradprüfung mit Geschicklichkeitsprüfung absolviert. Am Schadenstag sei ihr Sohn u.a. mit dem Fahrrad zu seinem Schulfreund gefahren und habe diesen zum Sport begleitet. Auch auf diesem Weg habe es keine Beanstandungen gegeben. Sie würden es ihrem Sohn gestatten, sich in der Ortschaft L. unbeaufsichtigt mit dem Fahrrad zu bewegen, da sie davon ausgehen könnten, dass er entsprechend informiert sei und sich an die Informationen halte. Ihr Sohn habe sich vorschriftsmäßig vor dem Betreten der Fahrbahn nach links und rechts orientiert und das Fahrrad auch geschoben.
Das Landgericht Stade hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Dem Kläger steht gegen die Beklagten kein Anspruch auf Schadensersatz oder Feststellung aus dem Unfallereignis vom 14. August 2002 in L. zu. Die Voraussetzungen einer Haftung nach § 832 BGB liegen nicht vor.
Der genaue Unfallhergang ebenso wie die Frage einer etwaigen Haftungsverteilung kann dabei offen bleiben. Eine Haftung der Beklagten als Aufsichtspflichtige ihres an dem Verkehrsunfall beteiligten Sohnes scheitert jedenfalls daran, dass sie ihrer Aufsichtspflicht Genüge getan haben.
Nach § 832 Abs. 1 Satz 1 BGB sind die nach §§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB aufsichtspflichtigen Eltern grundsätzlich verpflichtet, den Schaden zu ersetzen, den ihr Kind einem Dritten widerrechtlich zufügt.
Der Unfall hat sich am 14. August 2002 ereignet, so dass gem. Art. 229 § 8 EGBGB die Vorschriften in ihrer aktuellen Fassung anzuwenden sind. Dabei darf die in der Neufassung des § 828 Abs. 2 BGB zum Ausdruck gebrachte gesetzgeberische Wertung, die mit der Teilnahme von Kindern unter 10 Jahren am Straßenverkehr verbundenen Schadensrisiken dem haftpflicht- und häufig auch kaskoversicherten Kraftfahrer zuzuweisen, nicht durch eine Ausweitung der Haftung der aufsichtspflichtigen Eltern im Rahmen des 832 BGB wieder rückgängig gemacht werden (vgl. MüKo-Wagner, § 832 BGB, Rn. 31 m.w.N.; vgl. auch schon OLG Hamm, OLGR 2000, 266 zu den Empfehlungen des Verkehrsgerichtstages 1999).
Der Inhalt der Aufsichtspflicht ergibt sich im Einzelfall einerseits aus Alter, Eigenart und Charakter des jeweiligen Kindes, andererseits danach, was den Eltern nach den jeweiligen Verhältnissen und objektiven Umständen geboten ist und zugemutet werden kann (vgl. nur OLG Celle, NJW-RR 1988, 216 f.; OLG Hamm, OLGR 2000, 266) .
Aus der in Kopie vorgelegten Abstammungsurkunde ergibt sich, dass der Sohn der Beklagten am 21. Januar 1993 geboren wurde. Der Sohn der Beklagten war zum Zeitpunkt des Unfalls bereits 9 1/2 Jahre alt. Eine dauernde Beaufsichtigung von Kindern in diesem Alter ist nach Auffassung der Kammer grundsätzlich nicht erforderlich und den Eltern auch nicht zumutbar.
Zu berücksichtigen ist insofern auch, dass es sich bei dem in § 832 BGB normierten Aufsichtsverschulden nicht um eine Gefährdungshaftung handelt, sondern der innere Grund für die Haftung in der durch die §§ 1626ff., 1631 Abs. 1 Satz 1 BGB bestimmten gesetzlichen Pflicht zur elterlichen Personensorge liegt (vgl. OLG Celle aaO.; OLG Hamm aaO; LG Bielefeld, NJOZ 2004, 268 f.). Hierzu zählt auch eine sinnvolle Hinführung des Kindes zu einem selbständigen, verantwortungsbewußtem und umsichtigen Verhalten im Verkehr (OLG Hamm aaO.).
Auch die Straßenverkehrsordnung geht im übrigen davon aus, dass Kinder ab dem 8. Lebensjahr am Straßenverkehr teilnehmen dürfen, wie sich aus § 2 Abs. 5 StVO ergibt.
In der Rechtssprechung ist auch anerkannt, dass jedenfalls ein fast 8-jähriges Kind, das ein Fahrrad ruhig und sicher zu fahren vermag, über Verkehrsregeln eindringlich und genau unterrichtet worden ist und sich über eine gewisse Zeit im Verkehr bewährt hat, auch ohne Überwachung durch die aufsichtspflichtigen Eltern mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilnehmen kann und zwar sogar auf Bundesstraßen (vgl. OLG Celle aaO.: zur Aufsichtspflichtverletzung bei einem 6 Jahre alten Kind; LG Essen, ZfSch 1992, 76: zur Aufsichtspflicht der Eltern bei einem 8 Jahre alten Kind, das am Straßenverkehr teilnimmt; LG Darmstadt, VersR 1975, 337: zur Aufsichtspflicht der Eltern über ein 6 1/2 Jahre altes Kind, das mit dem Fahrrad die Hauptverkehrsstraße überquert; LG Oldenburg, Nds. Rpfl. 1988, 10: zur Aufsichtspflicht der Eltern über einen fast 7 Jahre alten, als Radfahrer am Verkehr teilnehmenden Sohn).
Nach dem Ergebnis der Anhörung des Zeugen Phillipp F., das der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO zugänglich ist, steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Beklagten diesen Anforderungen an die ihnen obliegende Aufsichtspflicht nachgekommen sind.
Der Sohn der Beklagten, Phillip F. hat im Rahmen seiner informatorischen Anhörung in der öffentlichen Sitzung des Gerichts am 19. Februar 2004 (Bl. 62 f. d.A.) angegeben, dass er zunächst mit einem Fahrrad mit Stützrädern angefangen habe, Rad zu fahren. Zu diesem Zeitpunkt sei er 5 oder 6 Jahre alt gewesen. Seit der 3. oder 4. Klasse fahre er auch mit dem Fahrrad zur Schule. Im schulischen Rahmen habe er eine Fahrradprüfung absolviert, bei der es auch um Verkehrsregeln gegangen sei. Er fahre auch mit seinen Eltern gemeinsam Fahrrad. Seine Eltern hätten ihn auch gleich, als er Fahrradfahren gelernt habe, angewiesen, eine Straße an der Ampel zu überqueren. Zugleich hätten sie ihm erklärt, er solle dort fahren, wo es sicherer sei. Seine Eltern hätten ihm erlaubt, in L. mit dem Fahrrad allein unterwegs zu sein. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Protokolls Bezug genommen. Die Kammer hat keine Bedenken, die Angaben zur Grundlage einer Entscheidung zu machen. Die Bekundungen von Phillip F. waren in sich schlüssig und frei von Widersprüchen. Die Kammer ist überzeugt, dass der Sohn der Beklagten die ihm von der Vorsitzenden gestellten Fragen wahrheitsgemäß beantwortet hat. So hat Phillip F. insbesondere auf die Frage, ob er sich an die Anweisung seiner Eltern, eine Fahrbahn an der Ampel zu überqueren halte, erklärt, dass er sich jetzt auf jeden Fall daran halte. Die Kammer ist nach dem Eindruck aus der Sitzung auch davon überzeugt, dass Phillip F. auf jeden Fall altersgemäß entwickelt ist und dass er dies auch zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls gewesen ist. Soweit er zu Beginn der Anhörung einen eher stillen Eindruck vermittelt hat, führt die Kammer dies auf die für das Kind besondere Situation im Gerichtssaal zurück.
Danach steht fest, dass der Zeuge Phillip F. sowohl von seinen Eltern als auch im schulischen Rahmen im Zusammenhang mit der absolvierten Fahrradprüfung über Verkehrsregeln genau unterrichtet worden ist und sich darüber hinaus zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls bereits über einen längeren Zeitraum auch ohne Überwachung seitens der Beklagten im Verkehr bewährt hatte. Aus längerem unfallfreien Fahren des Kindes kann nach der Rechtssprechung des Oberlandesgerichts Celle (a.a.O.), der die Kammer insoweit folgt, geschlossen werden, dass das Kind auch ohne Begleitung in der Lage ist, verkehrsgerecht zu fahren. Den Beklagten kann nicht vorgeworfen werden, ihrem Sohn das Fahrradfahren in L. - auch in der verkehrsreichen Bahnhofsstraße - ohne ihre Begleitung gestattet zu haben. Eine Ersatzpflicht der Beklagten scheidet daher nach Auffassung der Kammer aus.