Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 29.03.2004, Az.: 4 B 32/04

Aufsichtsarbeit; Hilfsmittel; Klausur; Sanktionsnote; Täuschungsversuch

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
29.03.2004
Aktenzeichen
4 B 32/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50560
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Richtige Klageart gegen die durch gesonderten Verwaltungsakt erfolgte Vergabe der Sanktionsnote "ungenügend (0 Punkte)" ist die Anfechtungsklage.

2. Vorläufiger Rechtsschutz erfolgt regelmäßig nach § 80 Abs. 5 VwGO.

3. Die vom Prüfling in der von ihm benutzten Gesetzessammlung vor der Prüfung angebrachte Anmerkung "bei RNF erst Überltgsvfg an Rnfolger" verletzt das Kommentierungsverbot in bei der Anfertigung von Aufsichtsarbeiten verwendeten Gesetzessammlungen und macht das benutzte Hilfsmittel unzulässig.

Tenor:

Die Anträge werden abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird für das vorläufige Rechtsschutzverfahren auf 2.000,00 € festgesetzt.

Gründe

1

I. Der G. schwerbehinderte Antragsteller unterzog sich im H. im Rahmen der nochmaligen Wiederholung der 2. juristischen Staatsprüfung außerhalb des juristischen Vorbereitungsdienstes der Anfertigung von acht schriftlichen Aufsichtsarbeiten. Zum Ausgleich seiner körperlichen Behinderung hatte der Antragsgegner die Bearbeitungszeit der Aufsichtsarbeiten mit I. vom J. um jeweils 1,5 Zeitstunden verlängert. Am H. fertigte der Antragsteller die Klausur mit verwaltungsfachlicher Aufgabenstellung (V 2) an. Die K. betraf das „L.“. Bei Durchsicht der gefertigten Aufsichtsarbeit fiel auf, dass zwischen den Seiten 7 und 8 der Klausuraufgabe (Aktenauszug) ein aus der Textsammlung „März, Niedersächsische Gesetze, 57. Ergänzungslieferung“ herausgelöstes Blatt „211 A NGefAG, S. 35/36“ beilag, das die §§ 64 bis 65 NGefAG sowie teilweise auch vor- und nachfolgende Vorschriften umfasst. Auf diesem Blatt sind neben farblichen Markierungen auch mehrere handschriftliche Anmerkungen eingetragen, u.a. eine des Inhalts „bei RNF erst Überltgsvfg an Rnfolger“. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Hülle Bl. 11 BA A verwiesen. Der Antragsteller erklärte hierzu unter dem M. auf Vorhalt:

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„Die mir vom Oberlandesgericht N. ausgehändigten Richtlinien über die Benutzung erlaubter und unerlaubter Hilfsmittel sind mir - auch aus den vorangegangenen Examensprüfungen - in vollem Umfang bestens bekannt. (...)

3

Die mehreren von mir im Jahr 2002 vorgenommenen und mit Bleistift geschriebenen Anmerkungen in der Ausgabe des März Gesetzessammlung (dort im NGefAG) hatte uns einer der damaligen Ausbilder bei der Bezirksregierung N. mehr oder weniger in den Bleistift diktiert, was nach meiner Information seit langer Zeit der üblichen Praxis in der dritten Pflichtstation entspricht. Diese Art der Notiz ist weder Lehrbuchersatz, noch unerlaubte Kommentierung und schon gar kein Täuschungsversuch, sondern handschriftlicher erlaubter Zahlenhinweis.“

4

Daraufhin bewertete der Antragsgegner die vom Antragsteller am H. angefertigte Klausur V 2 mit einem Bescheid vom 12. März 2004 mit „ungenügend (0 Punkte)“. Zur Begründung wird ausgeführt, dass sich der Antragsteller unzulässiger Hilfsmittel bedient und einen Täuschungsversuch begangen habe. Es liege der Regelfall eines Täuschungsversuchs vor. Der Umfang der vom Antragsteller vorgenommenen Anmerkungen stehe der Annahme eines leichten Falles entgegen. Gründe, die ausnahmsweise eine andere Beurteilung gebieten könnten, habe der Antragsteller bei seiner Anhörung nicht vorgetragen. Die beigefügte Rechtsmittelbelehrung verweist auf die Klagemöglichkeit. Das Datum der Zustellung des Bescheides ist nicht bekannt.

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Der Antragsteller erhob jedenfalls unter dem 21. März 2004 zunächst Widerspruch, über den der Antragsgegner noch nicht entschieden hat.

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Mit einem bereits zuvor am 16. März 2004 beim Verwaltungsgericht Göttingen eingegangenen und später handschriftlich unterzeichneten Schriftsatz sucht der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nach. Zur Begründung führt er aus: Er habe keinen Täuschungsversuch begangen. Die Anmerkungen stellten keine Umgehung des Kommentierungsverbots dar. Die Ausführung seiner Handschrift sei zudem dermaßen schlecht, dass er sie aufgrund seines Gesundheitszustandes selbst nicht mehr habe lesen können. Die Notizen hätten auch keinerlei Einfluss auf die Qualität seiner Prüfungsleistung gehabt. Er begehrt, dass seine Klausur umgehend einer ordnungsgemäßen inhaltlichen Bewertung durch die zuständigen Korrektoren zugeführt wird.

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Der Antragsteller beantragt,

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1. die Herstellung der aufschiebenden Wirkung einer zukünftigen Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 12. März 2004 anzuordnen,

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2. die Rückgängigmachung der weiteren Vollziehung vorbenannten Bescheides anzuordnen und

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3. dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

11

Der Antragsgegner beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Er hält den Antrag für unzulässig und vertieft vorsorglich die Begründung des angefochtenen Bescheides.

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Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners, die dem Gericht zur Einsicht vorgelegen haben, Bezug genommen.

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II. Den Anträgen muss der Erfolg versagt bleiben.

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Mit dem streitbefangenen Bescheid vom 12. März 2004 hat der Antragsgegner eine einzelne vom Antragsteller angefertigte Aufsichtsarbeit mit einer sog. „Sanktionsnote“ belegt, d.h. von der Prüfungsbehörde wurde eine inhaltliche Bewertung der Klausur nicht vorgenommen, sondern wegen eines Verhaltens des Prüflings bei der Anfertigung der Arbeit eine fiktive Note, nämlich die schlechteste, vergeben. Hierin erschöpft sich der Regelungsgehalt des streitbefangenen Bescheides. Eine Regelung des Inhalts, dass die gesamte Staatsprüfung für „nicht bestanden“ erklärt wird (§ 15 Abs. 1 Satz 3 NJAG), enthält der Bescheid vom 12. März 2004 nicht.

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Der Antragsgegner hat die Sanktionsnote durch gesonderten förmlichen Verwaltungsakt verhängt. Der Antragsteller ist deshalb berechtigt, diese isoliert anzufechten. Er kann nicht auf die Anfechtung des Gesamtergebnisses der Staatsprüfung verwiesen werden, will er verhindern, dass die gegen ihn verhängte Sanktionsnote in Bestandskraft erwächst.

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Richtige Klageart gegen die durch Verwaltungsakt erfolgte gesonderte Vergabe einer Sanktionsnote, die den Prüfungsanspruch des Prüflings verkürzt, ist die Anfechtungsklage, weil der Antragsgegner bei Aufhebung der Sanktionsnote verpflichtet ist, die Aufsichtsarbeit erstmals inhaltlich zu bewerten, ohne dass es hierzu im Regelfall eines gesonderten Verpflichtungsausspruchs bedarf (Jakobs, VBlBW 1981, S. 173, 179 mwN; VBlBW 1984, S. 129, 131). Vorläufiger Rechtsschutz erfolgt deshalb gemäß § 123 Abs. 5 VwGO regelmäßig nach § 80 Abs. 5 VwGO (Jakobs, VBlBW 1984, S. 129, 131).

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Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO ist der vorläufige Rechtsschutzantrag des Antragstellers auch schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Der Bescheid vom 12. März 2004 ist auch noch nicht bestandskräftig, weil der Antragsteller zumindest bis zum 12. April 2004 Zeit hat, die Anfechtungsklage zu erheben, und das genaue Datum der Bekanntgabe des Bescheides nicht bekannt ist. Bei summarischer Überprüfung ist auch die Auffassung des Antragsgegners zutreffend, dass es vor Erhebung der Anfechtungsklage gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO abweichend von § 13 Abs. 5 NJAG keines Vorverfahrens bedarf, weil ein solches aufgrund der systematischen Stellung der letztgenannten Vorschrift im Gesetz nur bei Einwendungen gegen inhaltliche Bewertungen der Prüfungsleistung durchzuführen ist.

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Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist jedoch deshalb unzulässig, weil der streitbefangene Bescheid vom 12. März 2004 weder kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist, noch der Antragsgegner die sofortige Vollziehung des Bescheides nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet hat. Der noch zu erhebenden Anfechtungsklage kommt deshalb gemäß § 80 Abs. 1 VwGO kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zu. Bei rechtsgestaltenden Verwaltungsakten im Sinne von § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO hat danach aufgrund der aufschiebenden Wirkung jedwede Folgemaßnahme zu unterbleiben, da aus dem angegriffenen Verwaltungsakt keine rechtlichen oder tatsächlichen Folgerungen gezogen werden dürfen, während andererseits die rechtliche Gestaltungs- und Feststellungswirkung unberührt bleibt (Jakobs, VBlBW 1984, S. 131 mwN). Der Antragsteller hat weder vorgetragen, geschweige denn glaubhaft gemacht, dass der Antragsgegner gegenwärtig Folgerungen irgendwelcher Art für den Fortgang oder den Abschluss seiner 2. Staatsprüfung aus der Bewertung der einzelnen Klausur V 2 vom H. mit „ungenügend (0 Punkte)“ zieht. Nach seinem eigenen Vorbringen sind dem Antragsteller die übrigen Klausurergebnisse noch nicht bekannt gegeben worden. Insbesondere ist ihm bislang auch nicht der Zugang zur abschließenden mündlichen Prüfung mit der Begründung verweigert worden, er habe die Staatsprüfung bereits wegen einer unzureichenden Gesamtleistung bei den Aufsichtsarbeiten nicht bestanden (§ 14 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 NJAG bzw. § 14 Abs. 1 Nrn. 2b und 4 NJAG a.F.). Deshalb bedarf es auch gegenwärtig weder der grundsätzlich möglichen Feststellung, dass der noch zu erhebenden Anfechtungsklage kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung beikommt noch der - vom Antragsteller ebenfalls sinngemäß beantragten - Aufhebung der Vollziehung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO.

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Ein gerichtliches Einschreiten gegen den Antragsgegner ist auch nicht deshalb erforderlich, um es dem Antragsteller zu ermöglichen, von dem Makel des Täuschungsversuchs unvorbelastet seine 2. Staatsprüfung abschließen zu können. Ungeachtet der Frage, ob und auf welchem rechtlichen Weg ein solches Begehren rechtsschutzfähig wäre, ist im Falle des Antragstellers festzustellen, dass er den Makel eines Täuschungsversuchs durch eigenes Verhalten hervorgerufen hat.

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Dessen ungeachtet ist der Bescheid des Antragsgegners vom 12. März 2004 bei summarischer Überprüfung auch rechtmäßig. Die Verhängung der Sanktionsnote findet ihre Rechtsgrundlage in § 15 Abs. 1 Satz 1 NJAG. Der Antragsteller hat mit der Seite 35/36 seiner Textsammlung „März, Niedersächsische Gesetze“ ein nicht zugelassenes Hilfsmittel benutzt, weil er nach eigenem Vorbringen auf diesen Seiten handschriftliche Notizen angebracht hat, die bei summarischer Überprüfung über zulässige einzelne Verweisungen auf Vorschriften sowie ebenfalls zulässige gelegentliche Unterstreichungen hinausgehen. Bereits der von ihm am Rand des Gesetzestextes zu § 64 NGefAG angebrachte Vermerk „bei RNF erst Überltgsvfg an Rnfolger“ stellt eine Umgehung des Kommentierungsverbots dar, weil er daran erinnern soll, bei einer bestimmten Fallkonstellation eine nicht ausdrücklich im NGefAG geregelte Rechtmäßigkeitsvoraussetzung zu berücksichtigen. Der Antragsteller hat das Hilfsmittel auch benutzt. Dies hat der Antragsgegner bereits zutreffend aus dem Umstand geschlossen, dass der Antragsteller das Blatt aus der Textsammlung herausgelöst und - ersichtlich versehentlich - dem zurückgereichten Aufgabentext beigefügt hat. Zudem werden auf dem 3. Blatt seiner abgegebenen Aufsichtsarbeit die auf Seite 35/36 des von ihm benutzten Hilfsmittels abgedruckten §§ 64 Abs. 2 Satz 2, 65 Abs. 1 Nr. 1 und 66 NGefAG ausdrücklich zitiert. Danach ist offensichtlich, dass das vom Antragsteller mit handschriftlichen Anmerkungen versehene Hilfsmittel bei der Anfertigung der Aufsichtsarbeit benutzt wurde. Unerheblich ist dabei, ob dem Antragsteller die auf dem Hilfsmittel von ihm angebrachten Anmerkungen bei der Anfertigung der Aufsichtsarbeit im konkreten Sinne hilfreich waren. Denn bereits der Besitz nicht zugelassener Hilfsmittel führt dazu, dass sich für diejenigen Prüfungsteilnehmer, die sich korrekt verhalten und nur die zulässigen Hilfsmittel benutzen, objektiv ungleiche Prüfungsbedingungen ergeben. Der Besitz nicht zugelassener Hilfsmittel während der Prüfung stellt deshalb einen Regelfall des Täuschungsversuchs dar, sofern der Prüfling nicht nachweist, dass der Besitz weder auf Vorsatz noch auf Fahrlässigkeit beruht (vgl. BayVGH, Beschluss vom 11.7.1975, BayVBl. 1976, S. 60; Beschluss vom 6.4.1981, BayVBl. 1981, S. 688; Beschluss vom 16.3.1988, BayVBl. 1988, S. 434; vgl. zum Täuschungsvorsatz auch VG Göttingen, Beschluss vom 4.2.2004 - 3 B 33/04 -). Diesen Entlastungsnachweis hat der Antragsteller nicht erbracht. Seine Einlassung, ein früherer Ausbilder habe ihm die Anmerkungen „mehr oder weniger in den Bleistift diktiert“ ist ebenso wenig geeignet, sein Handeln bei der Anfertigung der Aufsichtsarbeit zu rechtfertigen wie sein Vortrag, er habe aufgrund seiner Behinderung seine eigene Schrift nicht lesen können. Auch die Schwerbehinderung des Antragstellers vermag sein Verhalten nicht zu rechtfertigen. Kompensation bei der Anfertigung der Aufsichtsarbeiten war ihm bereits durch eine erhebliche Verlängerung der Anfertigungszeit gewährt worden. Der Antragsgegner hat bei summarischer Überprüfung auch ermessensfehlerfrei gehandelt, indem er den Täuschungsversuch des Antragstellers weder als leichten Fall im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 2 NJAG, noch als schweren Fall im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 3 NJAG, sondern als Regelfall im Sinne von Satz 1 der Vorschrift mit der Folge der Vergabe einer einzelnen Sanktionsnote behandelt hat.

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Nach alledem waren die Anträge mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.

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Die Streitwertfestsetzung folgt aus den §§ 25 Abs. 2, 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG. Die Kammer bemisst das Interesse des Antragstellers mit 1/2 des Auffangwerts.