Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 24.03.2004, Az.: 2 A 220/03

Asylbewerber; Asylbewerberleistung; Familie; Familienangehöriger; Familienverband; Großfamilie; Kernfamilie; Kind; Kleinfamilie; Sozialhilfe; Volljährigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
24.03.2004
Aktenzeichen
2 A 220/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50957
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Flecken A. vom 27. August 2002 und des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 17. April 2003 verpflichtet, der Klägerin Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in gesetzlicher Höhe über den 22. August 2002 hinaus bis zum 17. April 2003 zu bewilligen.

Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des gegen ihn festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Hinzuziehung eines Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

Tatbestand:

1

Die im Juli 1984 geborene Klägerin ist Staatsangehörige der Republik Serbien und Montenegro. Sie reiste im September 1999 gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier einen Asylantrag, der bestandkräftig abgelehnt worden ist. Seitdem erhält die Klägerin von dem Beklagten Duldungen.

2

Die Klägerin lebt seit ihrer Einreise mit ihrer Familie in der Wohnung C. in A. und erhielt mit Unterbrechungen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.

3

Der Vater der Klägerin erzielte ausweislich eines Umsatzausdrucks der Fa. Z. (Stand: 10. April 2002) in der Zeit von Januar bis März 2002 ein durchschnittliches Monatseinkommen in Höhe von 1.372,64 Euro aus dem Verkauf von Schrott. Im Jahre 2000 hatten diese Einnahmen 5.288,42 Euro und im Jahre 2001 4.733,08 Euro betragen.

4

Mit Bescheid vom 27. August 2002 stellte der namens und im Auftrage des Beklagten  handelnde Flecken A. die Weiterbewilligung von Asylbewerberleistungen mit Wirkung vom 22. August 2002 ein. Zur Begründung führte er an, der Vater der Klägerin lebe -wieder- in der Familienwohnung und die Klägerin habe gemäß § 7 Abs. 1 AsylbLG zunächst das von ihrem Vater erwirtschaftete Einkommen aufzubrauchen. Dies stehe der Gewährung von Asylbewerberleistungen entgegen. Hiergegen legte die Klägerin mit der Begründung Widerspruch ein, ihr Vater lebe nicht mit ihr in einer Wohnung. Er lebe im Auto eines Freundes bzw. übernachte bei Freunden. Als er am 22. August 2002 in der Familienwohnung angetroffen worden sei, habe er sich lediglich zum Duschen dort aufgehalten. Darüber hinaus gehöre sie nicht zum Personenkreis der im selben Haushalt lebenden Familienangehörigen im Sinne des § 7 Abs. 1 AsylbLG, denn sie sei volljährig.

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Mit Schriftsatz vom 5. September 2002 suchte die Klägerin um einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz nach. Mit Beschluss vom 21. Oktober 2002 (1 B 1151/02) verpflichtete die seinerzeit zuständige 1. Kammer des erkennenden Gerichts den Beklagten im Wege einer einstweiligen Anordnung, der Klägerin ab dem 1. Oktober 2002 vorläufig Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren. Zur Begründung führte die Kammer im Wesentlichen an, der Anspruch der Klägerin sei nicht durch § 7 Abs. 1 AsylbLG ausgeschlossen, weil diese Vorschrift nicht auf volljährige Familienangehörige anzuwenden sei. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den den Beteiligten bekannten Beschluss der 1. Kammer verwiesen.

6

Den Widerspruch der Klägerin wies die Bezirksregierung Braunschweig mit Widerspruchsbescheid vom 17. April 2003 unter Berufung auf den Ausgangsbescheid im Wesentlichen mit der Begründung zurück, der vom Gericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vertretenen Ansicht könne nach der in Niedersachsen geltenden Erlasslage nicht gefolgt werden.

7

Hiergegen hat die Klägerin am 23. Mai 2003 Klage erhoben, zu deren Begründung sie ihr Widerspruchsvorbringen wiederholt.

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9

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

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unter Aufhebung des Bescheides des Flecken A. vom 27. August 2002 und des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 17. April 2003 den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin über den 22. August 2002 hinaus Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

13

Er tritt dem klägerischen Vorbringen unter Berufung auf die angefochtenen Bescheide in der Sache entgegen.

14

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze in diesem wie in den Verfahren 2 A 23/03, 2 A 24/03 und 1 B 1151/02 sowie die jeweiligen Verwaltungsvorgänge des Flecken A. Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Beratung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die das Gericht gemäß § 101 Abs. 2 VwGO im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und die Klägerin hat Anspruch auf Asylbewerberleistungen in gesetzlicher Höhe  über den 22. August 2002 hinaus (§ 113 Abs. 5 VwGO). Dabei ist der gerichtliche Überprüfungszeitraum wie im Sozialhilferecht auf die Zeit bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides begrenzt.

17

Die erkennende Kammer folgt der von der früher für Verfahren aus dem Recht der Asylbewerberleistungen zuständig gewesenen 1. Kammer des Gerichts vertretenen Rechtsansicht, wonach § 7 Abs. 1 AsylbLG auf volljährige Familienangehörige keine Anwendung findet. Sie schließt sich den im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gemachten Ausführungen der 1. Kammer vollinhaltlich an. In dem Beschluss vom 21. Oktober 2002 heißt es insoweit:

18

„Denn hierunter (Anm. des Gerichts: Unter den Begriff des Familienangehörigen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG) sind nach Auffassung des Gerichts lediglich der Ehegatte und die minderjährigen Kinder der nach § 1 Abs. 1 Nr. 1-5 AsylbLG leistungsberechtigten Personen zu verstehen mit der Folge, dass allein deren verfügbares Einkommen und Vermögen der primären Aufbrauchspflicht nach § 7 Abs. 1 S. 1 AsylbLG unterliegt (so auch VG Trier, Urteil vom 31. Mai 1995, GK, AsylbLG, abgedruckt unter VII-zu § 7 Abs. 1 (VG-Nr. 2); VG  Hannover, Beschluss vom 9. Dezember 1998, GK-AsylbLG Bd. 2, abgedruckt unter VII-zu § 7 Abs. 1 (VG-Nr. 8); VG Frankfurt am Main, Beschluss vom 25. Mai 2000, GK-AsylbLG Bd. 2, abgedruckt unter VII- zu § 7 Abs. 1 (VG-Nr. 18); VG München, Urteil vom 23. Februar 2001, GK-AsylbLG, Bd. 2, abgedruckt unter VII-zu § 7 Abs. 1 (VG-Nr. 21); in diese Richtung auch Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. Mai 1999 -4 L 2032/99-, GK-AsylbLG, abgedruckt unter VII-zu § 7 Abs. 1 (OVG-Nr. 4); anderer Ansicht VG Trier, Urteil vom 31. Mai 1995, GK-AsylbLG, Bd. 2, abgedruckt unter VII-zu § 7 Abs. 1 (VG-Nr. 2); VG Hamburg, Beschluss vom 13. Oktober 1998, GK-AsylbLG Bd. 2, abgedruckt unter VII-zu § 7 Abs. 1 (VG-Nr. 7)). Eine Legaldefinition, die festlegt, wer als Familienangehöriger im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1 AsylbLG anzusehen ist, ist im Gesetz nicht enthalten. Auch dem Wortlaut dieser Regelung kann nicht unmittelbar entnommen werden, ob unter dem Begriff der Familienangehörigen nur die Kernfamilie (Vater, Mutter Kind) oder auch die Großfamilie (alle miteinander verwandten und verschwägerten Personen) zu fassen ist. Allerdings hat sich der Gesetzgeber in Kenntnis der unterschiedlichen gerichtlichen Auslegungsergebnisse mit den zum 1. September 1998 in Kraft getretenen Neuregelungen in § 1 a AsylbLG und § 7 Abs. 1 S. 2 AsylbLG i. V. m. § 122 BSHG für eine einschränkende Auslegung des Begriffs der Familienangehörigen beschränkt auf Eltern und minderjährige Kinder entschieden. Im 1. Halbsatz des § 1 a AsylbLG wird der persönliche Anwendungsbereich dieser Vorschrift mit der Formulierung „Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 und ihre Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG „näher bestimmt“. § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG spricht von Ehegatten und minderjährigen Kindern, so dass der Gesetzgeber hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hat, den Begriff der Familienangehörigen auch in § 7 Abs. 1 S. 1 AsylbLG auf Ehegatten und minderjährige Kinder zu begrenzen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber den § 1 a AsylbLG in Kenntnis der Kontroverse um die Interpretation des Begriffs des Familienangehörigen in § 7 Abs. 1 S. 1 AsylbLG in das Gesetz aufgenommen hat, was auf eine einheitliche Auslegung dieses Begriff schließen lässt. Anderenfalls käme es innerhalb desselben Gesetzes zu einer unterschiedlichen Auslegung eines einzigen Begriffes, was allein schon dem Gebot einer gesetzessystematisch einheitlichen Auslegung widerspräche. Hier ist ebenfalls in den Blick zu nehmen, dass der Gesetzgeber mit Wirkung zum 1. September 1998 den neuen § 7 Abs. 1 S. 2 AsylbLG eingeführt hat, der § 122 BSHG für anwendbar erklärt hat betrifft die Einkommensanrechnung bei Personen, die in eheähnlicher Gemeinschaft leben. Hätte sich der Gesetzgeber für einen weiten Familienangehörigenbegriff im Rahmen des § 7 AsylbLG entscheiden wollen, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, § 16 BSHG neben § 122 BSHG für entsprechend anwendbar zu erklären. Dies hat er aber ausdrücklich nicht vorgenommen.

19

Der einschränkenden Auslegung des Familienangehörigenbegriffs steht auch nicht der Runderlass des MI vom 14. August 1995 zur Durchführung des Asylbewerberleistungsgesetzes (GK-AsylbLG, Bd. 1, abgedruckt unter IV-9.3.1) entgegen, zumal dieser Runderlass durch die vorerwähnten zum 1. September 1998 in Kraft getretenen Änderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes teilweise überholt ist. So wird unter Ziffer VIII des Runderlasses zunächst ausgeführt, dass Familienangehörige Ehegatten und minderjährige Kinder sind (unter Hinweis auf § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG a.F.). Warum dann andere Personen – Verwandte, gleich welchen Verwandtschaftsgrades, Verschwägerte oder Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft – im Nachfolgesatz als Familienangehörige zu betrachten sein sollen, wenn sie der Bedarfsgemeinschaft angehören, wird nicht erläutert. Auch die unter Ziff. VI am Ende bestimmte entsprechende Anwendung der §§ 16, 122 BSHG ist nach dem Vorgesagten unzutreffend. Insbesondere hat der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 7 Abs. 1 S. 2 AsylbLG ausdrücklich nur § 122 BSHG für entsprechend anwendbar erklärt. Für eine generelle Anwendung des BSHG – hier des § 16 BSHG – ist bei Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz kein Raum, es sei denn, der Gesetzgeber hat dies ausdrücklich vorgesehen (vgl. Urteil des erkennenden Gerichts vom 23. April 2002 - 1 A 1143/00 -). Im übrigen könnte diese norminterpretierende Verwaltungsvorschrift nur die zuständigen Verwaltungsbehörden, nicht dagegen die Gerichte binden, da derartige Vorschriften ihre Rechtswirkung grundsätzlich nur im behördlichen Innenbereich entfalten und ihnen Außenwirkung nur aufgrund der darauf beruhenden Verwaltungspraxis in Verbindung mit dem Gleichheitssatz nach Artikel 3 Abs. 1 GG zukommen kann. Wenn solche Verwaltungsvorschriften jedoch das Gesetz wie hier unzutreffend auslegen, kommt ihnen schon deshalb keine Bedeutung zu, weil sich ein Anspruchsberechtigter unmittelbar auf das Gesetz berufen und seinen Anspruch gerichtlich durchsetzen können muss.“

20

Neue Rechtserkenntnisse liegen nicht vor, so dass dem nichts hinzuzufügen ist.

21

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

22

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.

23

Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig, da die Klägerin der rechtskundigen Unterstützung bedurfte, um ihre Rechte wirkungsvoll gegenüber der staatlichen Verwaltung durchzusetzen.