Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 24.03.2004, Az.: 2 A 200/03

Arbeit; Arbeitsbemühung; Arbeitsverweigerung; Beratung; Betreuung; Bewerbung; Erstattung; Fahrlässigkeit; grobe Fahrlässigkeit; Haftung; Hilfe; Hilfe zur Arbeit; Hinweis; Interessenwahrungsgrundsatz; Kosten; Kostenerstattung; Sozialhilfe; Verschulden; Verweigerung; Vorsatz; Weigerung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
24.03.2004
Aktenzeichen
2 A 200/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50956
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Der erstattungsberechtigte Sozialhilfeträger handelt rechtswidrig, wenn er einen Hilfesuchenden nicht nachhaltig anhält, sich Arbeit zu suchen.

2. Der erstattungsberechtigte Sozialhilfeträger "haftet" nicht nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit.

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruchs des Beklagten abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Beklagte dem Kläger Kosten zu erstatten hat, die dieser im Zeitraum vom 01.02.1995 bis zum 31.01.1997 an Hilfe zum Lebensunterhalt für den am K. geborenen afghanischen Staatsangehörigen L. M. aufgewandt hat.

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L. M., der seit Oktober 1993 Sozialhilfeempfänger war und zuvor Wirtschaftswissenschaften studiert hatte, zog am 01.02.1995 von C. nach A.. Am gleichen Tag zog seine Ehefrau N. M. aus einem anderen Ort zu. Beide wohnten fortan in A. -O. in einer Wohnung, die dem Bruder des Herrn M. gehörte. Auf den Sozialhilfeantrag vom 16.02.1995 gewährte die namens und im Auftrage des Klägers handelnde Stadt A. Herrn M. ab 01.03.1995 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Stadt A. forderte ihn auf, sich beim Arbeitsamt arbeitssuchend zu melden und nahm ihn in eine Kartei der Arbeitssuchenden auf. Nach dem Vortrag des Klägers wurde Herr M. außerdem mündlich eindringlich aufgefordert, sich Arbeit zu suchen. Ab Oktober 1995 arbeitete er als Küchenhilfe in der Gaststätte „P.“ in A. -O. bei seinem Bruder Q. M. und verdiente dort bei einer Wochenarbeitszeit von 10 Stunden 600,00 DM im Monat. Nachdem Herr M. im Frühjahr 1999 kurze Zeit im R. C. als Küchenhilfe gearbeitet hatte, ist oder war er ab 01.08.1999 in der Gaststätte seines Bruders vollzeitbeschäftigt und verdiente dort zunächst 3.000,00 DM im Monat; der Kläger gewährte dem Arbeitgeber für die ersten 10 Monate der Beschäftigungszeit einen Lohnkostenzuschuss von 1.400,00 DM monatlich. N. M. war nicht berufstätig; sie erhielt ab August 1995 Leistungen nach BAföG und bekam im Juni 1996 ihr erstes Kind.

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Bereits am 16.02.1995 machte die Stadt A. gegenüber der namens und im Auftrage des Beklagten handelnden Stadt C. einen Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 107 BSHG geltend. Sie erinnerte mehrmals. Am 17.06.1999 erteilte die Stadt C. das begehrte Anerkenntnis, „soweit die gewährte Hilfe dem BSHG entspricht (§ 111 Abs. 1 BSHG)“. Mit Schreiben vom 30.11.1999 forderte die Stadt A. daraufhin Kostenerstattung in Höhe von 13.404,24 DM. Die Stadt C. erhob am 16.05.2002 für das Jahr 1995 und am 15.01.2003 für die Jahre 1996 und 1997 die Einrede der Verjährung.

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Der Kläger hat am 09.05.2003 Klage erhoben. Er trägt vor: Der aus § 107 BSHG folgende Kostenerstattungsanspruch gegen dem Beklagten sei bereits am 16.02.1995 geltend gemacht worden, wodurch die Ausschlussfrist des § 111 SGB X eingehalten worden sei; von Herrn M. seien hinreichende Nachweise über Arbeitsbemühungen verlangt worden; die Verjährungsfrist sei durch das Kostenanerkenntnis vom 17.06.1999 unterbrochen worden; die Einrede der Verjährung stellte im Übrigen eine unzulässige Rechtsausübung dar, da die Stadt C. das Erstattungsverfahren unnötig verzögert habe.

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Der Kläger beantragt,

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den Beklagten zu verurteilen, an ihn 6.853,48 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen,

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hilfsweise, die Berufung im Hinblick darauf zuzulassen, dass die Frage der Verjährung grundsätzliche Bedeutung hat.

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Er erwidert: Ein evt. Kostenerstattungsanspruch des Klägers sei verjährt; im Übrigen sei der aus § 111 BSHG folgende Interessenwahrungsgrundsatz verletzt worden, denn die Stadt A. habe Herrn M. nicht in ausreichendem Maße aufgefordert, sich um Arbeit zu bemühen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und auf die Verwaltungsvorgänge beider Beteiligter Bezug genommen. Die Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Leistungsklage ist unbegründet.

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Sie ist nicht schon deshalb begründet, weil die Stadt C. den Klaganspruch  unter dem 17. Juni 1999 anerkannt hat, denn das Anerkenntnis enthielt den zulässigen Vorbehalt, „soweit die gewährte Hilfe dem BSHG entspricht“. Dieser Vorbehalt schlägt durch.

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Gemäß § 107 Abs. 1 BSHG ( in der hier maßgebenden, bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung des Gesetzes) ist, wenn eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltes verzieht, der Träger der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen i.S.v. § 97 Abs. 2 S. 1 zu erstatten, wenn die Person innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf. Diese Verpflichtung endet gemäß § 107 Abs. 2 S. 2 des Gesetzes spätestens nach Ablauf von 2 Jahren seit dem Aufenthaltswechsel. Nach § 111 Abs. 1 BSHG sind die aufgewendeten Kosten zu erstatten, soweit die Hilfe diesem Gesetz entspricht, wobei die Grundsätze für die Gewährung von Sozialhilfe gelten, die am Aufenthaltsortes des Hilfeempfängers zur Zeit der Hilfegewährung bestehen.

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Der von dem Kläger geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch - dessen Voraussetzungen im Übrigen gegeben sind - scheitert daran, dass die Herrn M. geleistete Hilfe zum Lebensunterhalt im streitigen Zeitraum dem BSHG nicht entsprochen hat. Insoweit ist maßgebend, ob die Leistungen materiell rechtmäßig sind. Sie sind es etwa dann nicht, wenn unberechtigte Nachzahlungen erfolgt sind, der Einkommens- und Vermögenseinsatz nicht gefordert wurde, auf Überleitungsanzeigen oder Erstattungsansprüche verzichtet wurde oder soweit Leistungen freiwillig, also ohne gesetzliche Grundlage gewährt werden. Die Rechtsprechung hat ferner aus § 111 Abs. 1 BSHG den sogenannten Interessenwahrungsgrundsatz herausgearbeitet: danach hat der erstattungsberechtigte Sozialhilfeträger alle nach Lage des Einzelfalles zumutbaren und möglichen Maßnahmen und Vorkehrungen zu treffen, die erforderlich sind, um die erstattungsfähigen Kosten möglichst niedrig zu halten (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.01.2002 - 4 L 4201/00 -, FEVS 54, Seite 171); sonst handelt er rechtswidrig.

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In zahlreichen zu diesem Problemkreis ergangenen Spruchstellenentscheidungen (zitiert etwa bei Mergler/Zink, BSHG, § 111, Anm. 10 a ff) wird die Auffassung vertreten, dass der erstattungsberechtigte Sozialhilfeträger (nur) für vorsätzliches und grob fahrlässiges Verhalten einzutreten hat. Dieser Auffassung folgt das Gericht nicht. Das Gesetz bietet keinen Ansatz für ein derartiges Rechtsverständnis. Die im BSHG normierten Kostenerstattungsansprüche sanktionieren nicht schuldhaftes Verhalten, sondern ordnen einen „Lastenausgleich“ zwischen Sozialhilfeträgern an (vgl. LPK zum BSHG, 6. Auflage, vor § 103, Rn 7 ff), wobei insbesondere solche Träger entlastet werden sollen, in deren Bezirk vollstationäre Einrichtungen oder beliebte Zuzugsorte vorhanden sind. Der an sich erstattungspflichtige Träger muss dabei solche Kosten nicht tragen, die bei rechtmäßiger Handhabung der einschlägigen Vorschriften nicht entstanden wären. Anders gewendet: der sich rechtswidrig verhaltende Träger kann die insoweit entstandenen Kosten billigerweise nicht abwälzen; er „haftet“ für rechtswidriges Verhalten (Tun oder Unterlassen). Was rechtswidrig ist, ergibt sich dabei unmittelbar aus dem BSHG oder aus sonstigen anwendbaren Bestimmungen oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Derartigen Verhaltensregeln für Sozialleistungsträger ist ein Verschuldensprinzip fremd. Dieses hat lediglich den Zweck, die Haftung (einer natürlichen Person) auf Fälle zu beschränken, in denen der persönliche Vorwurf von Vorsatz (Handeln oder Unterlassen mit Wissen und Wollen) oder Fahrlässigkeit (außer Acht lassen der gebotenen Sorgfalt) erhoben werden kann.

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„Haftet“ der erstattungsberechtigte Sozialhilfeträger aber für rechtswidriges Verhalten, so hat er auch das Risiko der Unaufklärbarkeit eines Geschehensablaufs bei unterstelltem rechtmäßigen Verhalten zu tragen - wenn also nicht feststellbar ist, was geschehen wäre, wenn der Rechtsverstoß nicht erfolgt wäre (vgl. dazu Mergler/Zink, a.a.O., Anm. 10 a). Denn zum einen stellt es einen allgemeinen Rechtsgrundsatz dar, dass derjenige, der einen Anspruch erhebt, die materielle Beweislast für das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen trägt; zum anderen darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der erstattungspflichtige Träger regelmäßig keinen Einfluss auf das Verhalten des erstattungsberechtigten Trägers hat.

18

Die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt an L. M. war rechtswidrig, weil die Stadt A. Herrn M. nicht in ausreichendem Umfang dazu angehalten hat, seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen. Nach § 18 Abs. 1 BSHG muss jeder Hilfesuchende seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einsetzen. Nach Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes ist darauf hinzuwirken, dass der Hilfesuchende sich um Arbeit bemüht und Arbeit findet. Ergänzend bestimmt § 25 Abs. 1 des Gesetzes, dass derjenige, der sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder zumutbaren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nachzukommen, keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt hat. Die Rangfolge der verschiedenen Arbeitshilfemaßnahmen im BSHG ist auf der differenzierenden Einschätzung begründet, in welcher Weise die verschiedenen, ins Ermessen des Sozialhilfeträgers gestellten Maßnahmen geeignet sind, die Betroffenen zur Selbsthilfe zu führen (vgl. LPK, a.a.O., § 18 Rn. 1). D.h.: der Sozialhilfeträger hat die Möglichkeit, in einem breiten Spektrum die Maßnahmen zu ergreifen, die ihm nötig erscheinen, Hilfesuchende zur Arbeit zu bewegen bzw. ihnen Arbeit zu beschaffen, wenn der Hilfesuchende arbeitsfähig ist und die Maßnahmen nicht von vorneherein aussichtslos erscheint. Danach handelt der Sozialhilfeträger im Einzelfall in Anwendung der genannten Vorschrift dann rechtswidrig, wenn er das ihm zur Verfügung gestellte Instrumentarium ohne vernünftigen Grund außer acht lässt oder offenbar fehlerhaft (d.h. in einer mit dem Zweck der Vorschriften nicht zu vereinbarenden Weise) mit ihm umgeht. Bedenklich wäre es auch, wenn in Fällen, in denen es einen Erstattungspflichtigen gibt, laxer verfahren würde als in den Fällen, in denen der Sozialhilfeträger eigene Mittel einzusetzen hat.

19

Die Stadt A. hat Herrn M. im vorliegenden Fall aufgefordert, sich beim Arbeitsamt arbeitssuchend zu melden, hat ihn in eine Kartei der Arbeitssuchenden eingetragen und (wenn man dem Vortrag des Klägers folgt) ihn mündlich darauf hingewiesen, dass er sich Arbeit zu suchen habe. Damit hatte es sein Bewenden. Schon eine Beratung und Betreuung des Hilfesuchenden hat offenbar nicht stattgefunden. Ihre Notwendigkeit bestand jedoch augenscheinlich: Herr M. war bei seinem Umzug nach A. S. Jahre alt, hatte gerade geheiratet, konnte eine qualifizierte Ausbildung nachweisen und zog zu seinem Bruder, der im selben Haus eine Gaststätte betrieb. Es lag auf der Hand, dass Herr M. arbeitsfähig und arbeitswillig war, zumal ausländerrechtliche Bestimmungen einer Beschäftigung nicht entgegenstanden. Ihm wurde auch keine Arbeitsgelegenheit im Sinne von § 19 BSHG angeboten; er wurde weder aufgefordert, eine bestimmte Anzahl von Bewerbungen pro Monat abzufassen, noch wurde er auf die Folgen einer Arbeitsverweigerung hingewiesen. Von einem nachdrücklichen Anhalten zur Arbeit - welches das Gesetz fordert - kann zu diesem Zeitpunkt keine Rede sein. Die Verpflichtung der Stadt A., Herrn M. zur Arbeit anzuhalten, endete auch nicht, als er im Oktober bei seinem Bruder eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen hatte. Diese nahm nur rund ¼ seiner Arbeitskraft und -zeit in Anspruch, und verschaffte ihm bei weitem nicht die Mittel, die er für seinen Lebensunterhalt benötigte. Es mag offen bleiben, weshalb im vorliegenden Fall so wenig unternommen wurde. Dem Gericht ist einerseits geläufig, dass erst Ende der 90er Jahre von Sozialhilfeträgern verstärkt Anstrengungen unternommen wurden, um Hilfeempfängern Arbeit zu vermitteln; andererseits sind dem Gericht auch Fälle aus der Mitte der 90er Jahre bekannt, in denen anders verfahren wurde als hier.  Das nachlässige Verhalten der Stadt A. kann jedenfalls nicht  mit in A. geltenden Grundsätzen für die Hilfegewährung (vgl. § 111 Abs. 1 BSHG) gerechtfertigt werden; denn die oben näher beschriebenen gesetzlichen Anforderungen bestanden auch damals schon uneingeschränkt.

20

Wie bereits oben ausgeführt, hat das rechtswidrige Unterlassen der Stadt A., Herrn M. nachhaltig zur Arbeitsleistung anzuhalten, den gänzlichen Verlust des Kostenerstattungsanspruchs zur Folge. Das gilt schon vom Beginn des Erstattungszeitraums an. Dabei berücksichtigt die Kammer, dass im Monat Februar 1995 keine Kosten angefallen sind; dass eine Arbeitsaufnahme durch Herrn M. bereits zum 1. März 1995 möglich gewesen wäre, ist jedoch nicht auszuschließen.

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Da die Klage aus den genannten Gründen Erfolg hat, kommt es nicht mehr darauf an, ob der Beklagten die Einrede der Verjährung zu Recht erhebt. Auch ist über dessen Hilfsantrag nicht zu entscheiden.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.