Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 24.03.2004, Az.: 2 A 2282/02

Aufenthalt; Aufenthaltsort; Begründung; Berufsausbildung; Berufsvorbereitung; Berufsvorbereitungsmaßnahme; Betreuung; Betreuungsbedarf; Dauer; Einrichtung; Eltern; Elternteil; gewöhnlicher Aufenthalt; Hilfe zum Lebensunterhalt; Internat; Minderjähriger; Minderjährigkeit; Personensorge; Personensorgerecht; Sozialhilfe; Sozialhilfeträger; Zuständigkeit; örtliche Zuständigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
24.03.2004
Aktenzeichen
2 A 2282/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 51082
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Der Aufenthalt in einem Internat, der nur der Berufsvorbereitung dient, ist kein Aufenthalt in einer Einrichtung im Sinne von § 97 Abs. 4 BSHG.

2. Minderjährige haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Regel bei den personensorgeberechtigten Eltern.

Tenor:

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die von diesem in dem Zeitraum vom 21. August 2001 bis 21. August 2003 an Frau D. erbrachten Aufwendungen für die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 7.642,35 Euro zu erstatten.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 8.000,00 Euro vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Erstattung von Leistungen der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt, die er der im November 1983 geborenen D. in der Zeit vom 21.08.2001 bis 21.08.2003 gewährt hat.

2

Bis zum 31.08.2000 lebte Frau D. im Zuständigkeitsbereich des Beklagten bei ihrem sorgeberechtigten Vater. Mit Beginn des 01.09.2000 begann sie im Christlichen Jugenddorf (im Folgenden: CJD) E. eine internatsgestützte Berufsvorbereitungsmaßnahme. Die Maßnahme dauerte bis zum 31.08.2001. Während dieser Zeit war Frau D. im Christlichen Jugenddorf untergebracht, besuchte in der unterrichtsfreien Zeit jedoch ihren Vater und erhielt, jedenfalls während der Schulferien im August 2001, vom zuständigen Sozialhilfeträger anteilige Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Kosten der Berufsvorbereitungsmaßnahme trug das Arbeitsamt F., auf dessen Veranlassung hin Frau D. daran teilnehmen konnte. Ziel der Förderung war es, die Teilnehmer während der 1-jährigen Bildungsmaßnahme mit unterschiedlichen Berufsfeldern vertraut zu machen, festgestellte Leistungspotenziale zu stärken sowie individuelle Schwächen, insbesondere auch im schulischen Bereich, durch kompensatorische Förderung aufzuarbeiten. Neben den berufsorientierenden Aspekten nahmen die Teilnehmer zweimal wöchentlich vormittags am Berufsschulunterricht teil. In der zweiten Lehrgangshälfte wurde mit den zuständigen Berufsberatern die Förderung nach Abschluss der Berufsvorbereitungsbildungsmaßnahme im CJD E. abgestimmt.

3

Dieser berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme liegt ein Vertrag zwischen der Bundesanstalt für Arbeit und dem CJD E. (Träger) zu Grunde. Danach führt der Träger in E. für maximal 60 Teilnehmer/innen einen Förderlehrgang mit integriertem Internatsaufenthalt durch. Der Träger verpflichtet sich, den Teilnehmer/innen die in dem Unterweisungsplan aufgeführten Fertigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln. Während eines jeden Förderlehrgangs finden individuell festgelegte betriebliche Praktika statt. Der Träger nimmt in die Maßnahme nur solche Teilnehmer/innen auf, die ihm vom Arbeitsamt benannt werden. Die förderungsrechtlichen Voraussetzungen der Teilnehmer/innen klärt das Arbeitsamt. Den Teilnehmer(n)/innen wird am Ende des Förderlehrgangs eine Bescheinigung erteilt, in der die Dauer der Teilnahme und die im Förderlehrgang vermittelte Fachpraxis und -theorie bestätigt werden. Ausweislich einer Stellungnahme des Einrichtungsträgers an den Beigeladenen vom 21.11.2003 wird durch die Teilnahme an der Berufsvorbereitungsbildungsmaßnahme im CJD E. kein erster Wohnsitz begründet. Es handele sich bei dieser Maßnahme nicht um eine im Rahmen des BSHG geförderte Maßnahme.

4

Am 20.08.2001 verzog Frau D., die seinerzeit schwanger war und kurz vor der Entbindung stand in den Zuständigkeitsbereich des Klägers, von dem sie seit dem 21.08.2001 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhielt. Sie nahm Aufenthalt bei den Eltern des ebenfalls minderjährigen Kindesvaters.

5

Der Kläger machte zunächst einen Kostenerstattungsanspruch gegenüber der namens und im Auftrag des Beigeladenen handelnden Stadt E. und, nachdem diese den Anspruch abgelehnt hatte, mit Schreiben vom 10.09.2001 gegenüber dem namens und im Auftrag des Beklagten handelnden Flecken G. geltend. Auch der Flecken G. lehnte die Kostenerstattung ab.

6

Nachdem weitere Bemühungen, eine der genannten Körperschaften in Anspruch zu nehmen, gescheitert waren, hat der Kläger am 31.10.2002 Klage erhoben.

7

Er ist der Ansicht, ihm stünde gegenüber dem Beklagten ein Kostenerstattungsanspruch nach § 107 BSHG zur Seite. Frau D. habe in E. keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, weil es sich bei dem Christlichen Jugenddorf E. um eine Einrichtung i.S.v. § 97 Abs. 2 BSHG handele.

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Der Kläger beantragt sinngemäß,

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den Beklagten zu verurteilen, ihm die von ihm in dem Zeitraum vom 21.08.2001 bis 21.08.2003 an Frau D. erbrachten Aufwendungen für die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 7.642,35 Euro zu erstatten,

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hilfsweise,

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den Beigeladenen zur Anerkennung des Kostenerstattungsanspruchs zu verpflichten.

12

Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er ist der Ansicht, nicht er, sondern der Beigeladene sei erstattungspflichtig. Frau D. habe in E. einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, weil es sich um ein Internat, nicht aber eine Einrichtung i.S.v. § 97 Abs. 2 BSHG gehandelt habe. Auch der Umstand, dass Frau D. während ihres Aufenthaltes in E. noch minderjährig war, schließe die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes dort nicht aus, denn Frau D. sei in einem Alter gewesen, in dem es nicht unüblich sei, dass sich Minderjährige vom Elternhaus abnabelten.

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Der Beigeladene, der keinen Antrag stellt, tritt dem klägerischen Vorbringen bei und macht geltend, während des Förderlehrganges im Christlichen Jugenddorf E. habe es eine intensive sozialpädagogische Betreuung für Frau D. gegeben.

16

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Klägers und des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Beratung gewesen.

Entscheidungsgründe

18

Die zulässige Klage, über die das Gericht im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

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Die gesetzlichen Voraussetzungen des allein als Anspruchsnorm in Betracht kommenden § 107 Abs. 1 BSHG liegen vor. Danach ist der Träger der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen i.S.v. § 97 Abs. 2 S. 1 zu erstatten, wenn eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts verzieht und diese Person innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf.

20

Frau D. ist in den Zuständigkeitsbereich des Klägers verzogen. Ein Umzug im Sinne von § 107 Abs. 1 BSHG ist dann anzunehmen, wenn der Umziehende die bisherige Unterkunft und den gewöhnlichen Aufenthalt aufgibt und einen Aufenthaltswechsel in der Absicht vornimmt, an den bisherigen Aufenthaltsort nicht mehr zurückzukehren (BVerwG, Urteil vom 18.3.1999 -5 C 11.98-, FEVS 49, 434, 441). Diese Voraussetzungen sind erfüllt, da Frau D., die seinerzeit schwanger war, zu den Eltern des Kindesvaters zog und dort verbleiben wollte. Sie bedurfte auch innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe zum Lebensunterhalt.

21

Der Beklagte ist auch der Träger der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes i.S.v. § 107 Abs. 1 BSHG.

22

Dies folgt indes nicht schon daraus, dass Frau D. durch ihren Internatsaufenthalt im CJD E. dort in Anwendung der gesetzlichen Regelung in § 109 BSHG einen gewöhnlichen Aufenthalt nicht begründet hätte. Denn die Anwendung dieser Bestimmung setzt voraus, dass Frau D. sich während ihres Aufenthaltes im CJD E. vom 01.09.2000 bis zum 20.08.2001 in einer Einrichtung i.S.v. § 97 Abs. 2 BSHG aufgehalten hat, weil als gewöhnlicher Aufenthalt i.S.d. Abschnitte 8 und 9 nach dieser Vorschrift u.a. nicht der Aufenthalt in einer Einrichtung der in § 97 Abs. 2 genannten Art gilt. Diese gesetzliche Fiktion kommt nur zum Tragen, wenn sich ein Hilfeempfänger in einer entsprechenden Einrichtung aufhält und dort eine der Einrichtung entsprechende Betreuung nach dem BSHG erfährt (Mergler/Zink, BSHG, § 109 Rnr. 11).

23

Diese Voraussetzungen sind für den Aufenthalt von Frau D. im Christlichen Jugenddorf E. während des Berufsvorbereitungsjahres in der Zeit vom 01.09.2000 bis zum 19.08.2001 nicht erfüllt.

24

Gemäß § 97 Abs. 4 BSHG sind Anstalten, Heime oder gleichartige Einrichtungen i.S.d. Abs. 2 alle Einrichtungen, die der Pflege, der Behandlung oder sonstigen in diesem Gesetz vorgesehenen Maßnahmen oder der Erziehung dienen. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

25

Die Maßnahme, in deren Rahmen Frau D. sich im CJD E. aufgehalten hat, ist keine der Pflege oder der Behandlung und auch keine sonstige im BSHG, insbesondere im Rahmen der § 39 ff., vorgesehene Maßnahme. Sie dient auch nicht der Erziehung, sondern ausschließlich der Förderung der Berufsausbildung i.S.d. 4. Kapitels, 5. Abschnitt des SGB III. Es handelt sich um eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme, die ausschließlich der Förderung der Berufsausbildung dient (§ 61 SGB III). Wie sich aus der Stellungnahme des Anstaltsträgers an den Beigeladenen vom 21.11.2003 und dem seiner Tätigkeit zu Grunde liegenden Vertrag mit der Bundesanstalt für Arbeit ergibt, geht es bei dieser Maßnahme ausschließlich darum, die Teilnehmer auf das Berufsleben vorzubereiten. Weder wird vom Anstaltsträger ein darüber hinausgehender Betreuungsbedarf gesehen noch - entgegen der Annahme des Beigeladenen - ein solcher gedeckt. Folgerichtig erfährt diese Maßnahme finanzielle Unterstützung allein durch die Arbeitsverwaltung.

26

Dennoch hat Frau D. im CJD E. einen gewöhnlichen Aufenthalt nicht begründet. Die Annahme eines solchen Aufenthalts scheitert daran, dass Frau D. während des gesamten Förderzeitraumes und ihres Aufenthaltes in E. noch minderjährig war.

27

Gemäß § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Wie sich aus der grundsätzlich unterschiedlichen Definition des Wohnsitzes in § 30 Abs. 3 S. 1 SGB I ergibt, besteht dieser gewöhnliche Aufenthalt unabhängig vom Wohnsitz und kann sich von diesem unterscheiden. Infolge dessen kommt es nicht darauf an, ob durch die Teilnahme an der Berufsvorbereitungsbildungsmaßnahme im Christlichen Jugenddorf E. ein Wohnsitz begründet wird.

28

Die Frage, ob und wo eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, ist für jede Person einzeln zu bestimmen; dies gilt auch für Kinder und Jugendliche, die einen von ihren Eltern oder einem Elternteil abweichenden gewöhnlichen Aufenthalt haben können. Es gilt jedoch der Grundsatz, dass ein minderjähriges Kind, wie damals Frau D., seinen gewöhnlichen Aufenthalt grundsätzlich bei dem Elternteil hat, der das Personensorgerecht ausübt und bei dem es sich tatsächlich aufhält. Denn es ist eine Regel für die nach § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I erforderliche eigenständige Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines minderjährigen Kindes, dass ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt Regel an dem Ort hat, an dem er seine Erziehung erhält, wobei es bei einer Unterbringung außerhalb der Familie darauf ankommt, ob sie nur vorübergehend oder auf Dauer erfolgen soll (BVerwG, Urt. v. 26.11.1981 - 5 C 56.80 -, BVerwGE 64, 224, 231; Urt. v. 15.05.1986 - 5 C 68.84 -, BVerwGE 74, 206, 211; Urt. v. 26.09.2002 - 5 C 46.01 -, FEVS 54, 198, 200 f.). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kommt insbesondere dann in Betracht, wenn eine Rückkehrmöglichkeit nicht besteht oder eine Rückführung nicht angestrebt wird (einen solchen Fall hat der VGH Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 14.2.1990 -6 S 1797/88-, FEVS 41, 119 behandelt).

29

Es besteht keine Veranlassung hier von der genannten Regel abzuweichen, denn der Aufenthalt im CJD E. war von seiner Intention her nur als vorübergehender zum Erwerb beruflicher Fertigkeiten dienender Aufenthalt gedacht. Es ist davon auszugehen, dass ursprünglich eine Rückkehr von Frau D., die erst im November 2001, also ca. drei Monate nach Lehrgangsende, volljährig geworden ist, zu ihrem personensorgeberechtigten Vater beabsichtigt war. Für diese Annahme spricht insbesondere, dass sich Frau D. noch im August während der Internatsferien bei ihrem Vater aufgehalten und vom dort zuständigen Sozialhilfeträger Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten hat. Dass sich die Dinge schließlich anders entwickelten, liegt nicht in dem Lehrgang beim CJD E., sondern in der Veränderung der persönlichen Situation von Frau D. begründet. Denn sie ist am 5. September 2001 Mutter geworden und schon vorher zu den Eltern des seinerzeit ebenfalls noch minderjährigen Kindesvaters in den Zuständigkeitsbereich des Klägers verzogen. Diese Entwicklung vermag nichts daran zu ändern, dass der Internatsaufenthalt ursprünglich nur als vorübergehende Abwesenheit vom personensorgeberechtigten Vater gedacht gewesen ist.

30

Da der Hauptantrag Erfolg hat, muss über den (unzulässigen) Hilfsantrag nicht entschieden werden.

31

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3, VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht aus Billigkeitsgründen erstattungsfähig, da er keinen Antrag gestellt und sich somit keinem eigenen Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat.

32

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.