Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.12.2020, Az.: 13 LA 469/20

Antrag auf mündliche Verhandlung; Entscheidung durch Urteil; Gerichtsbescheid; Unzulässigkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
09.12.2020
Aktenzeichen
13 LA 469/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71893
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 21.09.2020 - AZ: 7 A 130/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Beantragt ein Prozessbeteiligter gegen einen Gerichtsbescheid gemäß § 84 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 VwGO mündliche Verhandlung, hat das Verwaltungsgericht auch dann durch Urteil unter Beachtung der Verfahrensvorschriften in § 101 Abs. 1 und 2 VwGO zu entscheiden, wenn der Antrag auf mündliche Verhandlung unzulässig ist.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Einzelrichter der 7. Kammer - vom 21. September 2020 aufgehoben.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Nachdem das Verwaltungsgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 8. Mai 2020 abgewiesen hatte, hat es den Antrag des Klägers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss vom 21. September 2020 verworfen und in der dem Beschluss beigefügten Rechtsmittelbelehrung auf die Statthaftigkeit eines Antrags auf Zulassung der Berufung hingewiesen.

Gegen diesen Beschluss des Verwaltungsgerichts hat der Kläger einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, mit dem er auch geltend macht, das Verwaltungsgericht habe seinen Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung nicht als unzulässig verwerfen dürfen.

II.

1. Der Senat deutet den vom anwaltlich vertretenen Kläger gestellten Antrag auf Zulassung der Berufung ausnahmsweise (vgl. zum grundsätzlichen Ausschluss der gerichtlichen Umdeutung einer anwaltlichen Prozesserklärung: BVerwG, Beschl. v. 9.2.2005
- BVerwG 6 B 75.04 -, juris Rn. 12; Senatsbeschl. v. 30.4.2020 - 13 MN 125/20 -, juris Rn. 5 jeweils m.w.N.) unter Berücksichtigung seines wohlverstandenen Interesses, zügig effektiven Rechtsschutz in Form einer erstinstanzlichen Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung erlangen zu können, in eine statthafte Beschwerde nach § 146 Abs. 1 VwGO um (vgl. zur Statthaftigkeit einer solchen Beschwerde: Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 84 Rn. 21). Diese Beschwerde ist auch zulässig, da für ihre Einlegung wegen der insoweit unrichtigen Rechtsmittelbelehrung in der erstinstanzlichen Entscheidung gemäß § 58 Abs. 2 VwGO eine Jahresfrist gilt.

Aufgrund der vom Senat vorgenommenen Umdeutung bedarf es hier keiner Entscheidung mehr, ob nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung, wonach ein Beteiligter durch ein unrichtiges Verfahren des Gerichts keine Nachteile in seinen prozessualen Rechten erleiden und das Rechtsmittel nicht verlieren darf, das ihm bei Entscheidung in korrekter Form eröffnet ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.4.1985 - BVerwG 9 C 48.84 -, BVerwGE 71, 213, 215 - juris Rn. 14 m.w.N.), neben der Beschwerde auch ein Antrag auf Zulassung der Berufung gegen den erstinstanzlichen Beschluss statthaft wäre (vgl. hierzu Kraft, in: Eyermann, a.a.O., § 107 Rn. 7).

2. Die danach gegebene Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 21. September 2020 hat Erfolg.

a. Nachdem der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts vom 8. Mai 2020 gemäß § 84 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 VwGO mündliche Verhandlung beantragt hatte, durfte das Verwaltungsgericht nur durch Urteil unter Beachtung der Verfahrensvorschriften in § 101 Abs. 1 und 2 VwGO entscheiden. Eine Entscheidung durch Beschluss (und ohne mündliche Verhandlung) war hingegen mangels prozessrechtlicher Grundlage hierfür ausgeschlossen.

Gemäß § 107 VwGO wird über die Klage, soweit nichts anderes bestimmt ist (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Kraft, in: Eyermann, a.a.O., § 107 Rn. 3 ff.), durch Urteil entschieden. Eine solche Entscheidung über die Klage ergeht auch dann, wenn ein Prozessbeteiligter gemäß § 84 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 VwGO bei dem Verwaltungsgericht gegen einen Gerichtsbescheid mündliche Verhandlung beantragt. Auf einen solchen Antrag ist stets zu entscheiden, ob der Gerichtsbescheid wegen einer rechtzeitig beantragten mündlichen Verhandlung gemäß § 84 Abs. 3 Halbsatz 2 VwGO als nicht ergangen gilt und das Verfahren fortzuführen ist oder verneinendenfalls, ob das Klageverfahren durch den ergangenen, gemäß § 84 Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO als Urteil wirkenden Gerichtsbescheid beendet worden ist. Beide Alternativen sind Bestandteil der Entscheidung über die Klage, die nach § 107 VwGO, soweit nichts anderes bestimmt ist, durch Urteil ergehen muss. Dieser Befund findet Bestätigung in § 84 Abs. 4 VwGO, der für den Fall, dass eine mündliche Verhandlung überhaupt beantragt wird, von einer Entscheidung durch Urteil ausgeht und lediglich Vereinfachungen für dessen Abfassung vorsieht. In gleicher Weise ist bei Streitigkeiten über die Wirksamkeit einer erklärten Klagerücknahme nach § 92 Abs. 1 VwGO oder über den Eintritt der gesetzlichen Klagerücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO zwingend durch Urteil zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.7.1998 - 1 BvR 666/98 -, juris Rn. 8; Rennert, in: Eyermann, a.a.O., § 92 Rn. 26; Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 92 Rn. 28 jeweils m.w.N.).

Die danach vorgegebene Entscheidungsform eines Urteils zwingt zur Beachtung der Verfahrensvorschriften in § 101 Abs. 1 und 2 VwGO und das Verwaltungsgericht entscheidet, soweit die Beteiligten nicht mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind, auf Grund mündlicher Verhandlung. § 101 Abs. 3 VwGO findet, da eine Entscheidung durch Urteil zu erfolgen hat, keine Anwendung.

b. Eine abweichende Verfahrensweise erachtet der Senat auch dann für ausgeschlossen, wenn der Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 84 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 VwGO, etwa wegen Versäumung der Monatsfrist des § 84 Abs. 2 VwGO, unzulässig ist (a.A. Schübel-Pfister, in: Eyermann, a.a.O., § 84 Rn. 21; vgl. zum Streitstand: Kopp/Schenke, a.a.O., § 84 Rn. 39 m.w.N.).

Gerade in jüngeren erstinstanzlichen Entscheidungen wird § 125 Abs. 2 VwGO entsprechend auf diese Fälle angewandt und durch Beschluss entschieden, wobei die Rechtsmittelbelehrung auf die Berufungszulassung verweist (siehe etwa VG Göttingen, Beschl. v. 26.6.2019 - 1 A 577/18 -, juris Rn. 4 m.w.N.). Für eine entsprechende Anwendung der für das Berufungsverfahren geltenden Norm wird der Beschleunigungs- und Entlastungszweck des § 84 VwGO herangezogen. Der Antrag auf mündliche Verhandlung stehe als außerordentlicher Rechtsbehelf dem Antrag auf Zulassung der Berufung gleich, so dass die dortige Regelung herangezogen werden könne. Die Sachentscheidung sei bereits mit dem Gerichtsbescheid getroffen (so auch OVG Hamburg, Beschl. v. 1.12.1997 - Bs IV 135/97 -, juris Rn. 4).

Der Senat teilt diese Auffassung nicht und erachtet eine entsprechende Anwendung des § 125 Abs. 2 VwGO für ausgeschlossen.

(1) Es fehlt schon an der für eine analoge Anwendung erforderlichen planwidrigen Regelungslücke (vgl. zu diesem Erfordernis für die richterliche Rechtsfortbildung: BVerfG, Urt. v. 11.7.2012 - 1 BvR 3142/07 u.a. -, BVerfGE 132, 99, 127 f. m.w.N.). § 84 VwGO enthält zwar keine ausdrückliche Regelung dazu, ob im Falle eines nicht rechtzeitigen Antrags auf mündliche Verhandlung durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden ist. Einer solchen besonderen Regelung bedarf es jedoch nicht, da die allgemeinen prozessualen Bestimmungen auch diese Fallgestaltung erfassen und die gebotene Verfahrensweise festlegen (siehe hierzu oben II.2.a.).

(2) Die analoge Anwendung von § 125 Abs. 2 VwGO ist auch nicht sachgerecht.

Die Verwaltungsgerichtsordnung sieht keine Konstellation vor, in der vor Entscheidung in einem Klageverfahren die Durchführung zumindest einer mündlichen Verhandlung verwehrt werden kann. Die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung erweist sich im System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes nach der Ausgestaltung des Prozessrechts als gesetzlicher Regelfall und Kernstück (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.5.2015 - BVerwG 2 B 4.15 -, juris Rn. 5; Urt. v. 14.3.2002 - BVerwG 1 C 15.01 -, juris Rn. 6 ff. m.w.N.). So besteht auch im Falle einer nach Ablauf der Klagefrist erhobenen Anfechtungsklage ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung. Sogar eine Klage ohne Nennung eines Klagebegehrens darf nicht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss verworfen werden. Durch eine analoge Anwendung von § 125 Abs. 2 VwGO auf für unzulässig erachtete Anträge auf mündliche Verhandlung gemäß § 84 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 VwGO würde dem Kläger aber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verwehrt.

Darüber hinaus liegt eine Heranziehung der für das Rechtsmittelverfahren geltenden Bestimmung in § 125 Abs. 2 VwGO auch deshalb fern, weil der Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 84 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 VwGO kein Rechtsmittel ist und einem solchen auch nicht gleichgesetzt werden kann. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat hierzu in seinem Beschluss vom 24. Februar 1981 - 11 C 5005/79 -, DÖV 1981, 639, zutreffend ausgeführt: "Der Antrag auf mündliche Verhandlung ist einem Rechtsmittel nicht gleichzusetzen, schon weil es am Devolutiveffekt fehlt. Er zielt lediglich darauf ab, das Verfahren in der Instanz fortzusetzen. Auf ihn kann deshalb, ebenso wie in den Fällen, in denen Streit darüber besteht, ob das Verfahren durch eine Parteihandlung (z.B. Klagerücknahme oder Vergleich) wirksam beendigt wurde, nur in der Form entschieden werden, in der das Verfahren regelmäßig abgeschlossen wird. Dieses Ergebnis erfolgt auch aus dem der Regelung des § 84 VwGO zugrundeliegenden Sinn. Die Vorschrift gibt dem Gericht die Möglichkeit, im Interesse der Verfahrenswirtschaftlichkeit bei bestimmten Fallgestaltungen, zügig, vereinfacht und unter Vermeidung unnötiger Kosten das Verfahren abzuschließen. Widersetzt sich der Betroffene dem, so soll ihm unter Erhaltung der Instanz und seiner Verfahrensposition nicht die Möglichkeit genommen werden, über sein Begehren eine mündliche Verhandlung herbeizuführen, unbeschadet der Möglichkeit des § 101 Abs. 2 VwGO. Könnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf mündliche Verhandlung durch Beschluss ablehnen, so würde dem Kläger die mündliche Verhandlung genommen und überdies in der nicht zutreffenden Besetzung entschieden." Dem schließt sich der Senat an.

3. Der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts ist aufgrund der erfolgreichen Beschwerde des Klägers aufzuheben. Hierdurch wird das Verfahren in den Stand zurückversetzt, der dem Verwaltungsgericht eine formgerechte Entscheidung durch Urteil erlaubt (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 24.2.1981 - 11 C 5005/79 -, DÖV 1981, 639).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt zwingend aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Anordnung, Gerichtskosten nicht zu erheben, beruht auf § 21 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).