Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.09.2016, Az.: 13 ME 210/15

Alternativmedizin; Amygdalin; bittere Aprikosenkerne; Aprikosenkerne; Arzneimittel; bedenklich; Beta Glucosidase; Cyanid; Defekturarzneimittel; wissenschaftliche Erkenntnisse; Gemeinschaftskodex; Humanarzneimittel; Intoxikation; Kapseln; Krebserkrankung; Nutzen-Risiko-Abwägung; Rechtskraft; Änderung der Rechtslage; Rezepturarzneimittel; Änderung der Sachlage; Schädlichkeitsrisiken; ß-Glucosidase; Tropfen; Untersagungsverfügung; Vergiftung; Verkehrsverbot; Vertretbarkeit; Wirksamkeit; schädliche Wirkung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
29.09.2016
Aktenzeichen
13 ME 210/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 43328
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 25.11.2015 - AZ: 15 B 3811/15

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Nach § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG kann das Inverkehrbringen eines Arzneimittels untersagt werden, wenn der begründete Verdacht besteht, dass das Arzneimittel schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. Im Rahmen der Vertretbarkeitsprüfung sind seit der Novellierung zum 26.10.2012 (Gesetz v. 19.10.2012, BGBl. I S. 2192) in die dabei anzustellende Nutzen-Risiko-Abwägung nicht nur bei bestimmungsgemäßem Gebrauch zu befürchtende schädliche Wirkungen, sondern auch solche Schädlichkeitsrisiken einzubeziehen, die bei bestimmten Fehlanwendungen (Überdosierung, Fehlgebrauch, Missbrauch und Medikationsfehlern) drohen.

2. Angesichts der dadurch entstandenen erheblichen Weite der Eingriffsgrundlage sind jedoch bereits auf der Tatbestandsseite erhöhte Anforderungen an die Konkretheit der Anhaltspunkte für ein Risiko außerhalb des bestimmungsgemäßen Gebrauchs liegender Fehlanwendungen zu stellen. Bei Rezepturarzneimitteln i.S.d. § 21 Abs. 2 Nr. 1 AMG kommt es auf Fehlanwendungen an, die mit dem betreffenden Präparat drohen.

3. Ferner kommt in solchen Konstellationen auf der Rechtsfolgenseite dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Anwendung der Norm im Einzelfall besondere Bedeutung zu, vor allem im Hinblick auf die Erforderlichkeit eines Verkehrsverbots.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 15. Kammer - vom 25. November 2015 geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage 15 A 3810/15 des Antragstellers gegen Ziffer 1. des Bescheides der Antragsgegnerin vom 22. Juni 2015 wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 200.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller, approbierter Apotheker und Inhaber der „C. -Apotheke“ in A-Stadt, wendet sich gegen einen für sofort vollziehbar erklärten Bescheid der Antragsgegnerin, mit dem diese ihm das Inverkehrbringen amygdalinhaltiger (Defektur-) Arzneimittel zur oralen Anwendung untersagt hat. Es handelt sich dabei um die vom Antragsteller selbst hergestellten Präparate „Amygdalin 0,5 g Kapseln“ (60 Kapseln je Packung) und „Amygdalin 5% Tropfen“ (100 ml je Fläschchen). Zur Herstellung wird Amygdalin verwendet, welches durch Extraktion und Aufreinigung von Aprikosenkernen gewonnen wurde.

Aus Amygdalin, einem cyanogenen Glykosid, das in der Natur u.a. in bitteren Aprikosenkernen und Mandeln sowie weiteren Kernen, Maniok und Leinsamen vorkommt, entstehen bei Anwesenheit von Wasser und bestimmten Enzymen - insbesondere β-Glucosidase - in einem mehrstufigen Spalt- bzw. Zerfallsprozess zunächst Glucose und Cyanhydrin und aus letzterem sodann Benzaldehyd und Cyanwasserstoff (HCN, Blausäure), welcher u.a. in Cyanid-Ionen (CN-) dissoziiert. Freies Cyanid ist ein Zellgift. Es bindet an bestimmte Rezeptoren an und unterbricht somit die Zellatmung, was ab einem bestimmten Ausmaß zur inneren Erstickung (Apoptose) und damit zum Absterben von Zellen führt. Das äußert sich beim Menschen in Kopfschmerzen, Unwohlsein, Schwindel, Atemnot, Erbrechen, starken Krämpfen sowie Bewusstlosigkeit und führt schlimmstenfalls zum Tod. Durch Anwesenheit des im Körper gebildeten Enzyms Rhodanase kann Cyanid in gewissem Umfang allerdings gebunden und dabei in ungefährlicheres Thiocyanat (Rhodanid) umgewandelt werden, welches über die Harnwege ausgeschieden wird (sog. Cyanid-Metabolismus). Eine halbsynthetische, strukturell ähnliche Verbindung mit dem Handelsnamen „Laetrile“ wurde in den 1980er Jahren von der Food and Drug Administration (FDA) in den USA als Arzneimittel verboten. Laetrile und Amygdalin werden von ihren Befürwortern als Mittel zur Behandlung von Krebserkrankungen im Rahmen der alternativen Medizin angesehen. Die Wirksamkeitserwartung fußt auf der Annahme, dass Krebszellen, die vor allem Zucker (etwa Glucose) als Energielieferanten benötigen, mehr β-Glucosidase und weniger Rhodanase als gesunde Zellen enthalten. Durch das in Krebszellen im Gefolge der Glucose-Abspaltung aus Amygdalin freiwerdende Cyanid, das dort kaum in Thiocyanat gebunden werden könne, sollen diese kranken Zellen selektiv vernichtet werden können. Von anderen Anhängern der alternativen Medizin wird vertreten, Krebserkrankungen beruhten auf einem Mangel an Amygdalin - das sie als „Vitamin B 17“ bezeichnen - im menschlichen Körper. Sie empfehlen deshalb die regelmäßige Einnahme von amygdalinhaltigen Produkten (etwa: bitteren Aprikosenkernen) und Präparaten auch als Mittel zur Krebsprävention.

Mit Bescheid vom 6. Februar 2003 untersagte die damals noch existente und zuständige Bezirksregierung A-Stadt dem Vater des Antragstellers und damaligen Inhabers der C. -Apotheke, Herrn D., Rezepturarzneimittel mit den Bestandteilen Amygdalin, Mandelonitril und Mandelonitrilverbindungen in den Verkehr zu bringen, weil sie diese im Hinblick auf eine mögliche Cyanid-Vergiftung für bedenklich i.S.d. § 5 Abs. 2 AMG hielt. Dieses Verbot hob der seinerzeit für das Arzneimittelrecht zuständige 11. Senat des Nds. OVG im vom Antragsteller nach dem Tode seines Vaters fortgeführten Berufungsverfahren mit Urteil vom 31. Mai 2007 - 11 LB 350/05 - auf, weil es aufgrund eines unzutreffenden Sachverhalts und damit ermessensfehlerhaft erlassen worden sei. Das Urteil stützte sich auf ein Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Prof. Dr. E. vom 31. Januar 2007, das zur Qualität (Identität und Reinheit) sowie Stabilität des von dem Antragsteller verwendeten Amygdalins eingeholt worden war und auf einer infrarotspektroskopischen Analyse sowie einem in-vitro-Digestionsmodell basierte. Die von seinen Anhängern behauptete „selektive Wirksamkeit“ von Amygdalin sei zwar nicht belegt. Nach dem Gutachten könne eine Vergiftung durch Freisetzung von Cyanid-Ionen jedoch bei oraler Einnahme ausgeschlossen werden, sofern sichergestellt werde, dass nicht gleichzeitig im Magen-Darm-Trakt Amygdalin-spaltende Enzymaktivitäten vorhanden seien. Das Urteil ging davon aus, dass der Antragsteller hochgereinigtes Amygdalin in pharmazeutischer Qualität verwendet, bei der Abgabe auf Kontraindikationen hinweist und im Rahmen einer Beratung sonstige Verhaltensanweisungen gibt.

Veröffentlichungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte - BfArM - (Review vom 30. September 2014, in dem Amygdalin als bedenklich i.S.d. § 5 Abs. 2 AMG eingestuft wurde) und der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft - AkdÄ - (vom 12. Dezember 2014, mit Fallbericht über die lebensbedrohliche Cyanid-Intoxikation eines mit Amygdalin behandelten 4-jährigen Jungen) veranlassten die inzwischen zuständige Antragsgegnerin zur Einleitung eines neuen Verbotsverfahrens. Nach Anhörung des Antragstellers vom 18. Dezember 2014, auf welche die Stellungnahme der Dr. F. Sachverständigen-GmbH vom 23. Januar 2015 eingereicht worden war, mit der sich das BfArM mit Äußerung vom 12. Mai 2015 auseinandergesetzt hatte, untersagte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit der für sofort vollziehbar erklärten Ziffer 1. des Bescheides vom 22. Juni 2015 (zugestellt am 26. Juni 2015), amygdalinhaltige Arzneimittel zur oralen Anwendung in den Verkehr zu bringen, weil diese Arzneimittel bedenklich seien, da deren nunmehr durch die Veröffentlichungen bzw. Stellungnahmen des BfArM, der AkdÄ sowie des Bundesinstituts für Risikobewertung - BfR - (Auswertung einer Humanstudie vom 24. Februar 2015) ausreichend belegte Schädlichkeit ihren nicht vorhandenen Nutzen bei weitem überwiege; ein Verkehrsverbot erscheine auch verhältnismäßig. Das vom Antragsteller überdies hergestellte Präparat „Amygdalin 3 g/20 ml“ (10 Ampullen je Packung) zur parenteralen - intravenösen - Gabe (unter Umgehung des Darms) wurde ausdrücklich nicht von dem Verbot umfasst, weil ausreichende Belege für eine Schädlichkeit Amygdalins bei dieser Art der Aufnahme fehlten.

Hiergegen hat der Antragsteller am 24. Juli 2015 die Anfechtungsklage 15 A 3810/15 zum Verwaltungsgericht Hannover erhoben, über die noch nicht entschieden ist; in diesem Verfahren hat die Dr. F. Sachverständigen-GmbH unter dem 28. August 2015 eine ergänzende Stellungnahme abgegeben, auf welche das BfArM mit Äußerung vom 13. Oktober 2015 erwidert hat; die Dr. F. Sachverständigen-GmbH hat sich dazu nochmals unter dem 20. November 2015 geäußert; ferner hat sich der Antragsteller auf ein Rechtsgutachten des Fachanwalts für Medizinrecht Dr. G. vom 23. November 2015 bezogen. Zeitgleich mit der Klageerhebung hat der Antragsteller einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt, den das VG Hannover mit Beschluss vom 25. November 2015 (zugestellt am 9. Dezember 2015) abgelehnt hat. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei ordnungsgemäß begründet worden, und die Verbotsverfügung sei offensichtlich rechtmäßig. Das Urteil des 11. Senats des Nds. OVG vom 31. Mai 2007 (a.a.O.) stehe ihrem Erlass nicht entgegen, da zwischenzeitlich relevante Änderungen der Sachlage (in Form neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Grad der Schädlichkeit von Amygdalin unter Berücksichtigung der Aktivität bestimmter Darmbakterien) und der Rechtslage (in Gestalt einer Anpassung des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG an Unionsrecht) eingetreten seien. Diese Änderungen führten hier zur Eröffnung von Untersagungsermessen, welches durch die Antragsgegnerin auch ordnungsgemäß - insbesondere verhältnismäßig - ausgeübt worden sei.

Dagegen richtet sich die am 18. Dezember 2015 eingelegte und am Montag, dem 11. Januar 2016, umfassend begründete Beschwerde des Antragstellers, welcher die Antragsgegnerin entgegengetreten ist.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe I. des angefochtenen Beschlusses, auf die im Beschwerdeverfahren gewechselten Schriftsätze der Beteiligten sowie auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der Beiakten Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 25. November 2015 ist begründet. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht den Eilantrag des Antragstellers gegen das in Ziffer 1. des Bescheides der Antragsgegnerin vom 22. Juni 2015 verfügte Verkehrsverbot für oral anzuwendende Amygdalinpräparate des Antragstellers (Kapseln und Tropfen) abgelehnt. Denn diese Untersagungsverfügung ist zu suspendieren.

Ob die in Ziffer 2. des erwähnten Bescheides erfolgte Anordnung der sofortigen Vollziehung dieser Verfügung in formeller Hinsicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO gerecht wird, kann dahinstehen.

Denn die Untersagungsverfügung erweist sich unter Berücksichtigung der den Prüfungsumfang begrenzenden Darlegungen des Antragstellers (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) bei im Beschwerdeverfahren gebotener, aber auch ausreichender summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage als offensichtlich rechtswidrig, so dass an ihrer Vollziehung kein im Rahmen einer materiellen Abwägung mit dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegendes öffentliches Interesse bestehen kann. Auf § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG lässt sie sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts und der Antragsgegnerin nicht stützen.

Nach dieser Vorschrift kann die Antragsgegnerin - als die gemäß § 1 Nr. 2 lit. d) HKG-ZustVO vom 25. November 2004 (Nds. GVBl. S. 516) zuständige Behörde - nach pflichtgemäßem Ermessen u.a. das Inverkehrbringen eines Arzneimittels untersagen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass das Arzneimittel schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG setzt hinsichtlich schädlicher Wirkungen keinen naturwissenschaftlichen Kausalitätsnachweis voraus, andererseits reichen bloße Vermutungen über Besorgnisse aber auch nicht aus (vgl. 11. Senat des Nds. OVG, Urt. v. 31. Mai 2007, a.a.O., juris Rdnr. 70 m.w.N.). Die Vertretbarkeit ist anhand einer Nutzen-Risiko-Abwägung zu bestimmen. Dabei ist dem Verwaltungsgericht in dem Ansatz zu folgen, dass bei einem nicht belegten (therapeutischen) Nutzen eines Arzneimittels geringere Anforderungen an das Mindestmaß an Schädlichkeitsrisiken zu stellen sind, ab welchem ein Einschreiten aufgrund eines Schädlichkeitsverdachts zu rechtfertigen sein könnte („je-desto“-Abwägung), und dass in diesem Zusammenhang bei zu befürchteten gravierenden Folgen ein geringes Ausmaß an Wahrscheinlichkeit ausreichen kann (vgl. 11. Senat des Nds. OVG, a.a.O.).

Nach Auffassung des Senats sind jedoch bereits die Tatbestandsvoraussetzungen eines derartigen Einschreitens nicht erfüllt (1.); jedenfalls aber überschreitet die Verfügung im vorliegenden Einzelfall die durch §§ 40 VwVfG, 1 Abs. 1 NVwVfG, 114 Satz 1 VwGO gezogenen rechtlichen Grenzen der Ermessensausübung auf der Rechtsfolgenseite der Norm (2.).

1. Der Tatbestand der Norm kann nicht als erfüllt angesehen werden, weil dem die Rechtskraft des Urteils des 11. Senats des Nds. OVG vom 31. Mai 2007 - 11 LB 350/05 - nach wie vor entgegensteht (§ 121 Nr. 1 VwGO).

Mit dieser Entscheidung war ein (im Ergebnis) zwischen den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens streitiges Verkehrsverbot, das sich auf sämtliche amygdalinhaltigen Arzneimittel des Antragstellers - mithin auch auf diejenigen zur oralen Anwendung - bezogen hatte, rechtskräftig aufgehoben worden. Aus der Rechtskraft dieses Berufungsurteils folgt ein andauerndes Verbotsverfügungs-Wiederholungsverbot im Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten, das seine zeitliche Grenze nur in entscheidungserheblichen Veränderungen der Sach- und/oder Rechtslage findet (vgl. Kilian, in: Sodan/Ziekow [Hrsg.], VwGO, 4. Aufl 2014, § 121 Rdnrn. 73, 112, 115). Derartige vom Verwaltungsgericht angenommenen Veränderungen im Hinblick auf die nach § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG zu treffende Nutzen-Risiko-Abwägung, welche zu einer Durchbrechung der Rechtskraft in zeitlicher Hinsicht führen könnten, liegen hier nicht vor.

Die Rechtslage als solche hat sich im Vergleich zu derjenigen, die dem Urteil des 11. Senats des Nds. OVG vom 31. Mai 2007 zugrunde lag, zwar geändert (a)), jedoch wirkt sich diese Änderung hier nicht in entscheidungserheblicher Weise aus. Soweit sich alte und neue Rechtslage decken, ist eine entscheidungserhebliche Sachlagenänderung zu verneinen (b)). Soweit die neue Rechtslage über die alte hinausreichende Eingriffsmöglichkeiten enthält, fehlt es bereits an einem diese Tatbestandserweiterung ausfüllenden Sachverhalt (c)).

a) Der Senat folgt zunächst der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass auf der Tatbestandsseite des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG in der seit dem 26. Oktober 2012 geltenden Fassung bei der Abwägung zwischen Nutzen und Risiken eines Arzneimittels im Rahmen der Vertretbarkeitsprüfung nicht mehr nur Schädlichkeitsrisiken in den Blick zu nehmen sind, die bei bestimmungsgemäßer Anwendung des Medikaments bestehen, sondern jedenfalls auch solche schädlichen Wirkungen einzubeziehen sind, die bei bestimmten Fehlanwendungen - nämlich bei einer Überdosierung, einem Fehlgebrauch (insbesondere einer unzuträglichen Kombination mit anderen Arzneimitteln oder Lebensmitteln), einem Missbrauch oder bei Medikationsfehlern - drohen.

Diese zwischenzeitliche Veränderung des rechtlichen Maßstabes folgt entgegen der Beschwerde aus der Novellierung durch das Zweite Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 19. Oktober 2012 (BGBl. I S. 2192), mit dem m.W.v. 26. Oktober 2012 für Humanarzneimittel u.a. der Nebenwirkungsbegriff in § 4 Abs. 13 Satz 1 AMG neudefiniert und in § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG der frühere einschränkende Zusatz „bei bestimmungsgemäßem Gebrauch“ gestrichen worden ist. Damit ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, der tatbestandliche Einschreitensmaßstab des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG zeitlich nach dem Erlass des Urteils vom 31. Mai 2007 unter die „Bedenklichkeitsschwelle“ des § 5 Abs. 2 AMG abgesenkt worden, der nach wie vor auf den „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ abstellt. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 18. April 2012 (BT-Drs. 17/9341, S. 65) war mit der Gesetzesänderung eine Umsetzung von Art. 117 und Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel - Gemeinschaftskodex - (ABl. EG Nr. L 311 vom 28. November 2001, S. 67-128) in der Fassung der Richtlinie 2010/84/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2010 zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel hinsichtlich der Pharmakovigilanz - Änderungsrichtlinie - (ABl. EU Nr. L 348 vom 31. Dezember 2010, S. 74-99) beabsichtigt. Nach den (geänderten) Artikeln 1 Nr. 11 und 117 des Gemeinschaftskodexes - so die Gesetzesbegründung weiter - erfasse das verbesserte System der Pharmakovigilanz nunmehr auch die genannten Fehlanwendungen, so dass die zuständigen Behörden auch bei in diesen Fällen auftretenden schädlichen Wirkungen Maßnahmen ergreifen könnten, d.h. abstrakt-generell zu einem Einschreiten ermächtigt seien.

Zwar ist zu beachten, dass der Gemeinschaftskodex ausweislich seines Art. 3 Nr. 1 nicht für (individuelle) Rezepturarzneimittel wie die hier streitgegenständlichen Amygdalin-Präparate gilt. Diese sind als Defekturarzneimittel (sog. verlängerte Rezeptur, bezogen auf die Abgabe von bis zu 100 abgabefertigen Packungen am Tag) i.S.d. § 21 Abs. 2 Nr. 1 AMG kraft Gesetzes von der für Fertigarzneimittel geltenden Zulassungspflicht aus § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG befreit (vgl. 11. Senat des Nds. OVG, Urt. v. 31. Mai 2007, a.a.O., Rdnrn. 65 f.). Allerdings war der deutsche Gesetzgeber nicht daran gehindert, für Rezepturarzneimittel - hier in Bezug auf den bei § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG anzulegenden Maßstab - eigenständige Regelungen zu treffen, die den für Fertigarzneimittel geltenden in Zielrichtung und Gehalt entsprechen (vgl. 11. Senat des Nds. OVG, Urt. v. 31. Mai 2007, a.a.O., Rdnr. 64). So liegt es hier. § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG unterscheidet nicht zwischen Fertig- und Rezepturarzneimitteln. Die Gründe, die für die Novellierung im vom Gemeinschaftskodex harmonisierten Bereich maßgebend gewesen sind, sind damit auch für den Anwendungsbereich der „überschießenden“ mitgliedstaatlichen Regelung zu beachten. Das führt grundsätzlich zu der vom Verwaltungsgericht gefundenen Auslegung des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG n.F.

Auch der Senat geht davon aus, dass die Änderungsrichtlinie das in der Gesetzesbegründung beschriebene Ziel im Ergebnis vorgegeben hat. Zwar wird im 5. und 17. i.V.m. dem 19. und 21. Erwägungsgrund zu dieser Richtlinie vor allem die Zielrichtung betont, den Kreis der gegenüber der „Eudra-Vigilance-Datenbank“ meldepflichtigen Fälle von „vermuteten Nebenwirkungen“ auch auf solche schädlichen Wirkungen, die auf Fehlanwendungen beruhen können, zu erstrecken, um mehr nützliche Informationen zu dem Arzneimittel als bisher im Interesse der Arzneimittelüberwachung zusammentragen und auswerten zu können. Das alles dient dem im 2. und 32. Erwägungsgrund aufgestellten Hauptziel, im Interesse eines verbesserten harmonisierten Schutzes der öffentlichen Gesundheit Nebenwirkungen der in der Europäischen Union in Verkehr gebrachten Arzneimittel umfassender vermeiden, entdecken und beurteilen zu können, weil das vollständige Unbedenklichkeitsprofil eines Arzneimittels erst nach seinem Inverkehrbringen erkannt werden könne. Demgemäß ist der Nebenwirkungsbegriff nach Art. 1 Nr. 11 Gemeinschaftskodex „Nebenwirkung: eine Reaktion auf das Arzneimittel, die schädlich und unbeabsichtigt ist und bei Dosierungen auftritt, die normalerweise beim Menschen zur Prophylaxe, Diagnose oder Therapie von Krankheiten oder für die Wiederherstellung, Korrektur oder Änderung einer physiologischen Funktion verwendet werden“ erweitert worden in „Nebenwirkung: eine Reaktion auf das Arzneimittel, die schädlich und unbeabsichtigt ist“. Behördliche Folgemaßnahmen hinsichtlich der Verkehrsgenehmigung für das Arzneimittel, die aus der Auswertung der - erweiterten - Informationen resultieren, werden nur ansatzweise im 25., 26. und 28. Erwägungsgrund zur Änderungsrichtlinie erwähnt. Allerdings hat Art. 1 Nr. 23 lit. a) Änderungsrichtlinie explizit auch die Zielvorgabe aus Art. 117 Abs. 1 Gemeinschaftskodex, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, in bestimmten Fällen eine Möglichkeit zu einem Verkehrsverbot vorzusehen, geändert. In Variante lit. a) letzterer Vorschrift („wenn sich herausstellt, dass das betreffende Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädlich ist“) ist die Einschränkung „bei bestimmungsgemäßem Gebrauch“ entfallen (Hervorhebungen durch den Senat); ferner wurde Variante lit. c) geändert in „wenn das Nutzen-Risiko-Verhältnis ungünstig ist“.

Angesichts der dadurch entstandenen erheblichen Weite der Eingriffsgrundlage - insbesondere mit Blick darauf, dass § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG weiterhin zum Erlass sogar eines Vertriebs- oder Verkehrsverbots ermächtigt - sind jedoch nach Auffassung des Senats bereits auf der Tatbestandsseite erhöhte Anforderungen an die Konkretheit der Anhaltspunkte für ein bestehendes Risiko der erwähnten Fehlanwendungen zu stellen (dazu unten 1.c)); ferner kommt in solchen Konstellationen auf der Rechtsfolgenseite der Beachtung des rechtsstaatlich begründeten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Anwendung der Norm im Einzelfall besondere Bedeutung zu (dazu unten 2.); nicht in allen Fällen der befürchteten Fehlanwendung des Arzneimittels wird danach bereits ein Verkehrsverbot zu rechtfertigen sein. Nur auf diese Weise kann nach Ansicht des Senats den mit der Beschwerde im Rahmen eines argumentum ad absurdum erhobenen Befürchtungen begegnet werden, bei einer derart weitgefassten Eingriffsnorm könnte letztlich das Inverkehrbringen aller Arzneimittel - insbesondere solcher mit nur geringer Dosisbreite - verboten werden, was in der Tat ein offenbar sinnwidriges Ergebnis zeitigte.

Soweit die Beschwerde allerdings für die in Rede stehende Ermächtigung zum Erlass eines Verkehrsverbots aus § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG n.F. vertritt, hinsichtlich des Bezugspunkte des Schädlichkeitsmaßstabes sei eine inhaltliche Rechtsänderung nicht eingetreten, kann diesem Vorbringen nach alledem nicht gefolgt werden. Das vom Antragsteller als Beleg angeführte Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 29. Januar 2014 - 13 A 2730/12 - (juris Rdnr. 34) trägt nichts aus. Diese Entscheidung betraf die bereits zum 6. September 2005 - d.h. vor der hier zu beurteilenden Novellierung zum 26. Oktober 2012 - erfolgte Änderung der Rechtsgrundlage für die Versagung der Verlängerung einer erloschenen Zulassung von Arzneimitteln nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 31 Abs. 3 Satz 1 AMG, die früher ebenfalls auf den begründeten Verdacht einer nicht vertretbaren schädlicher Wirkung „bei bestimmungsgemäßem Gebrauch“ abgehoben hatte. Das Urteil steht allerdings im Kontext mit der nur bis zum 25. Oktober 2012 geltenden früheren Definition der Nebenwirkung aus § 4 Abs. 13 AMG a.F. und ist daher jedenfalls durch die oben dargestellte Novellierung im Jahre 2012 überholt.

b) Soweit sich alte und neue Rechtslage decken - d.h. soweit es um Risiken schädlicher Wirkungen bei bestimmungsgemäßem Gebrauch der amygdalinhaltigen Präparate des Antragstellers geht - ist eine entscheidungserhebliche Änderung der Sachlage, auf die der streitgegenständliche Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Juni 2015 ausdrücklich gestützt wurde, nach dem 31. Mai 2007 nicht eingetreten.

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts und der Antragsgegnerin bestehen noch immer keine belegten hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die bestimmungsgemäße Anwendung dieser Präparate mit dem begründeten Verdacht unvertretbarer schädlicher Wirkungen verbunden ist. Die insoweit anzustellende Nutzen-Risiko-Abwägung geht nach Ansicht des Senats derzeit nicht zu Lasten des Antragstellers aus.

aa) Vieles spricht zwar dafür, dass der Nutzen von oral anzuwendendem Amygdalin entgegen der Beschwerde nach wie vor nicht belegt ist.

Auf die ihm mitunter zugeschriebene prophylaktische Wirkung gegen Krebs beruft sich die Beschwerde nicht. Sie unterliegt schon deshalb Zweifeln, weil Amygdalin entgegen der Prämisse dieser Annahme bekanntermaßen keine für den menschlichen Körper essentielle Substanz darstellt und deshalb auch die Bezeichnung als „Vitamin B 17“ irreführend ist.

Der therapeutische Nutzen bei einer Anwendung gegen bestehende Krebserkrankungen am Menschen wird sogar in dem vom Antragsteller im Klageverfahren eingereichten Rechtsgutachten Dr. G‘ vom 23. November 2015 (Anlage K 17, Bl. 233 ff., insbes. Bl. 252 der GA Bd. II) als „nach den Maßstäben der evidenzbasierten Medizin nicht belegt“ bewertet. Ein solcher Nutzen ist hier entgegen der Beschwerde auch nicht bereits abweichend von dem Urteil des 11. Senats des Nds. OVG vom 31. Mai 2007 (a.a.O., Rdnr. 71) durch die lediglich in vitro an Blasenkrebszellen durchgeführte Studie von Wissenschaftlern der Universitätskliniken Frankfurt am Main und Göttingen vom 19. August 2014 (Makarević u.a., “Amygdalin Blocks Bladder Cancer Cell Growth In Vitro by Diminishing Cyclin A and cdk2“, PLoS ONE 9(8): e105590, doi: 10.1371/journal.pone.0105590) belegt. Die konkrete Auswertung der Studienergebnisse gelangt lediglich zu dem Schluss, dass Amygdalin - bei einer Langzeitanwendung von zwei Wochen stärker als bei einer Gabe über 24 Stunden - das Wachstum und die Vermehrung in drei untersuchten Tumorzelllinien - insbesondere das tumorbedingte Zellwandwachstum - gehemmt habe; die Übertragbarkeit dieser Beobachtungen auf gesunde Zellen sei offen (S. 5, 8). Es empfehle sich eine Untersuchung in vivo und danach in klinischen Studien, die ersichtlich noch nicht durchgeführt worden ist.

bb) Die Frage, ob Amygdalin einen therapeutischen Nutzen hat, kann jedoch dahinstehen. Denn jedenfalls wird hier - selbst wenn man davon ausginge, dass Amygdalin gar keinen Nutzen hat und eingedenk der eingangs genannten Besonderheiten - auch die Schwelle des geringeren Mindestmaßes an Schädlichkeitsrisiko, das nunmehr aufgrund einer veränderten Nutzen-Risiko-Abwägung zum Einschreiten ermächtigen könnte, bei einer bestimmungsgemäßen Anwendung des Arzneimittels entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin und des Verwaltungsgerichts noch immer nicht erreicht. Dies ist - wegen der auch vom Verwaltungsgericht zu Recht angenommenen Beweislast der Antragsgegnerin für einen möglichen Kausalzusammenhang zwischen Arzneimittelanwendung und unerwünschter Begleiterscheinung - jedenfalls bei summarischer Prüfung im Beschwerdeverfahren zugunsten des Antragstellers zu werten.

Im Vergleich zum dem Urteil vom 31. Mai 2007 zugrunde liegenden Sachverhalt liegen keine neuen (wissenschaftlichen) Erkenntnisse vor, aus denen nunmehr eine nicht mehr vertretbare Schädlichkeit abgeleitet werden könnte. Wird ausschließlich von dem Maßstab des „bestimmungsgemäßen Gebrauchs“ und damit von der Bedenklichkeitsgrenze i.S.d. § 5 Abs. 2 AMG ausgegangen, wie dies die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid vom 22. Juni 2015 getan hat, lässt sich ein Verdacht nicht vertretbarer Schädlichkeitswirkungen nicht mit einer Sachlagenänderung begründen. Durchgreifende neue - d.h. nach dem Urteil des 11. Senats des Nds. OVG vom 31. Mai 2007 (a.a.O.) gewonnene oder bekanntgewordene - Erkenntnisse, die nunmehr auf eine Toxizität von Amygdalin zur oralen Einnahme hindeuteten, liegen nicht vor.

(1) Unmittelbar bezogen das vom Antragsteller hergestellte Amygdalin, auf welches es wegen seiner Eigenschaft als Rezeptur- bzw. Defekturarzneimittel - anders als bei Fertigarzneimitteln - in erster Linie ankommt (vgl. 11. Senat des Nds. OVG, Urt. v. 31. Mai 2007, a.a.O., Rdnr. 77), gibt es neuere, nach dem 31. Mai 2007 gewonnene oder gezeigte Anzeichen für die befürchtete Toxizität nicht.

(a) Den im Klage- und Beschwerdeverfahren erhobenen Mutmaßungen der Antragsgegnerin zu einem gegenüber der Situation vom 31. Mai 2007 nachteilig veränderten Reinheitsgrad des zur Herstellung der Präparate verwendeten Amygdalins muss der Senat vorliegend nicht nachgehen. Der bloße Umstand eines Lieferantenwechsels im Jahre 2009 spricht nicht bereits gegen eine unverändert hohe Reinheit in pharmazeutischer Qualität. Der Antragsteller hat Analysezertifikate und Prüfberichte aus 2014 vorgelegt (Bl. 209 ff. der Beiakte 001), die einen hierfür ausreichenden Amygdalingehalt von >/=98 % und eine Abwesenheit freien Cyanids ausweisen. Die bloße Behauptung, der Antragsteller überprüfe den Reinheitsgrad vor Verarbeitung nicht selbst, erscheint spekulativ und vage. Im Übrigen legt die Antragsgegnerin selbst auf Seiten 8 und 12 ihres Bescheides vom 22. Juni 2015, auf denen sie eine „Sonderrolle“ des Amygdalins des Antragstellers verneint, bei der Anwendung der Rechtsgrundlage eine unveränderte pharmazeutische Qualität weiterhin zugrunde, d.h. geht nicht von einer Sachlagenänderung insoweit aus.

(b) Negative Erfahrungsberichte von gerade mit den Rezepturen des Antragstellers behandelten Patienten im Sinne dokumentierter Vergiftungen, deren Abwesenheit der 11. Senat des Nds. OVG in seinem Urteil vom 31. Mai 2007 (a.a.O., Rdnr. 97) eine wesentliche Bedeutung beigemessen hat, sind der Antragsgegnerin (auch) nach diesem Zeitpunkt nach eigenem Bekunden nicht bekannt geworden.

Soweit sie im Beschwerdeverfahren unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des BfArM vom 12. Mai 2015 (Anlage K 6, S. 16, Beiakte 002) behauptet, die Befürworter der alternativmedizinischen Behandlung mit Amygdalin (bestimmte Ärzte und Heilpraktiker) würden negative Erfahrungen bzw. Komplikationen aus einem Eigeninteresse heraus nicht melden, ist dies zum einen spekulativ, zum anderen erklärt diese Behauptung selbst bei Wahrunterstellung nicht, weshalb auch Dritte - Notärzte, Notfallaufnahmen der Krankenhäuser etc. - von derartigen Vorfällen bzw. beobachteten körperlichen Reaktionen aufgrund einer Behandlung mit dem Amygdalin des Antragstellers nicht berichtet haben. Der Senat geht im Beschwerdeverfahren - nicht zuletzt etwa mit Blick auf die umfassende Medienberichterstattung seit Juli 2016, durch die Todesfälle und lebensbedrohliche Zustände nach einer Behandlung mit der anderweitigen, ebenfalls alternativmedizinisch eingesetzten Substanz „3-Bromopyruvat“ in einem Krebszentrum in Brüggen/Nordrhein-Westfalen an die Öffentlichkeit gelangt sind (vgl. etwa Süddeutsche Zeitung Nr. 208 vom 8. September 2016, S. 2), davon aus, dass - wenn es entsprechende Vorfälle mit dem Amygdalin des Antragstellers gegeben hätte - diese weder der Antragsgegnerin noch der Öffentlichkeit verborgen geblieben wären.

Vor diesem Hintergrund kommt es auf die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob 500 bis 1.000 vom Antragsteller über mehrere Jahrzehnte hinweg versorgte Patienten sogar positive Erfahrungen mit den betreffenden Amygdalin-Präparaten gemacht haben, nicht mehr an. Deshalb bedarf auch die im Beschwerdeverfahren vorgelegte, angeblich von der ehemaligen Krankenschwester des Dr. H., Frau I., stammende Bestätigung vom 8. Januar 2016 (Bl. 381 f. der GA Bd. II) keiner Würdigung.

(c) Soweit das Verwaltungsgericht und die Antragsgegnerin maßgeblich auf die mit Amygdalin aus der Apotheke des Antragstellers durchgeführten Versuche im Rahmen der am 24. Februar 2015 veröffentlichten Humanstudie des BfR von Abraham u.a., “Bioavailibility of cyanide after consumption of a single meal of foods containing high levels of cyanogenic glycosides: a crossover study in humans“ (ArchToxicol [2016] 90:559-574, doi: 10.1007/s00204-015-1479-8) abstellen, rügt der Antragsteller mit seiner Beschwerde zu Recht, dass sich daraus keine neuen Erkenntnisse bzw. Belege für ein entscheidungserheblich höheres Schädlichkeitsrisiko dieses Medikaments bei bestimmungsgemäßer Anwendung ableiten lassen. Das gilt sowohl hinsichtlich der Kapseln mit einer Füllmenge von jeweils 500 mg Amygdalin als auch hinsichtlich der Tropfen, die 5 g Amygdalin je 100 ml Lösung enthalten.

(aa) Zuzugeben ist der Antragsgegnerin und dem Verwaltungsgericht, dass aus der Humanstudie des BfR zumindest (isoliert) die neue Erkenntnis folgt, dass bei oraler Einnahme reinen Amygdalins des Antragstellers auch ohne exogene Zugabe (zusätzliche Aufnahme) von β-Glucosidase-haltigen Stoffen dem Grunde nach - durch welchen endogenen Faktor auch immer verursacht - eine Abspaltung von Cyanid im menschlichen Körper erfolgen kann. Damit erscheint die Prämisse des im vorgängigen Berufungsverfahren 11 LB 350/05 gerichtlich bestellten Sachverständigen Prof. Dr. E., die seinem Gutachten vom 31. Januar 2007 (dort S. 25, Bl. 465 der hiesigen GA Bd. II) zugrunde lag - nämlich dass die von ihm angenommene Stabilität des oral anzuwendenden hochreinen Amygdalins des Antragstellers nur unter der Voraussetzung angenommen werden kann, dass keine Amygdalin-spaltende Enzymaktivität gleichzeitig im Magen-Darm-Trakt durch β-Glucosidase stattfindet - nunmehr unerfüllbar, weil es offenbar doch endogene Faktoren gibt, die im menschlichen Körper eine Spaltungsreaktion bewirken können. Die dieser Prämisse zugrunde liegende These Prof. Dr. E.s, dass die spaltende Aktivität (exogen) dadurch ganz ausgeschlossen werden kann, dass der Behandelte während einer Amygdalin-Behandlung auf die gleichzeitige Einnahme β-Glucosidase-haltiger Lebensmittel (z.B. bittere Aprikosenkerne, bittere Mandeln, Maniok, Leinsamen) und Präparate verzichtet, scheint danach widerlegt sein.

Die neue Erkenntnis materialisiert sich in der Beobachtung (Messung) ansteigender Blutcyanidwerte bei Testperson Nr. 5 (von insgesamt 12), welche (u.a.) einmal 120 mg und ein anderes Mal 387 mg reines Amygdalin aus einer vom Antragsteller stammenden Kapsel - auch ohne gleichzeitige Gabe β-Glucosidase-haltiger Aprikosenkerne - eingenommen hat (vgl. BfR-Humanstudie, a.a.O., S. 565 und Tabelle 2 auf S. 568 sowie Grafik 5 auf S. 569). Im ersten Fall wurde ein Cyanid-Höchstwert (Peak) von 3,4 μM (= μmol/l Blut), im zweiten Fall ein Peak von 29,2 μM erreicht (a.a.O.). Jedenfalls ein derartiges am Menschen bestimmtes Messergebnis stellt einen nach dem 31. Mai 2007 ermittelten und damit neuen Umstand dar.

Dahinstehen kann demgegenüber, ob diese Beobachtung tatsächlich auf die Aktivität bestimmter, in Vorkommen und Verteilungsgrad noch nicht restlos erforschter Darmbakterien, die β-Glucosidase in unbekannter Quantität und Häufigkeit ausschütten sollen, oder auf anderweitige endogene Faktoren im menschlichen Körper zurückgeht. Die Vermutung einer derartigen darmbakteriellen Aktivität allein wäre keine neue Erkenntnis, weil sie bereits in veröffentlichten Aufsätzen aus den 1980er Jahren beschrieben wird, die zur Zeit der Erstellung des Gutachtens Prof. Dr. E.s vom 31. Januar 2007 sowie des Urteils des 11. Senats des Nds. OVG vom 31. Mai 2007 vorlagen (vgl. nur Carter u.a., “Role of the Gastrointestinal Microflora in Amygdalin [Laetrile]-Induced Cyanide Toxicity”, Biochem Pharm 1980, 29:301-304, insbes. S. 303; Newton u.a., “Amygdalin Toxicity Studies in Rats Predict Chronic Cyanide Poisoning in Humans“, West J Med February 1981, 134:97-103, insbes. S. 102; diese Aufsätze werden in den den Beteiligten bekannten Veröffentlichungen des BfArM und der AkdÄ aus 2014 zitiert). Neu wäre aber - wenn denn die Darmbakterienaktivität dafür ursächlich wäre - jedenfalls die in der BfR-Humanstudie beobachtete Auswirkung einer derartigen Aktivität am menschlichen Körper, hier in Gestalt messbarer Blutcyanidwerte.

(bb) Jedoch geben die Resultate der Studie über das Ausmaß zu befürchtender schädlicher Wirkungen keinen hinreichenden Aufschluss. Maßgebend hierfür ist - nach hergebrachten paracelsistischen Grundsätzen („Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“, Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus [1493-1541], Septum Defensiones, 1538, Werke Bd. 2, Darmstadt 1965, S. 510) diejenige Dosis (Masse/Menge) und Häufigkeit, die einer bestimmungsgemäßen Anwendung dieses Präparats zugrunde liegt. Bei einer derartigen Dosierung der amygdalinhaltigen Kapseln und Tropfen des Antragstellers sind hier entgegen dem Verwaltungsgericht und der Antragsgegnerin keine unvertretbar hohen Mindest-Schädlichkeitsrisiken zu befürchten.

(aaa) Der Senat teilt die Überlegung, dass hinsichtlich der Kapseln auf die punktuelle Einzeldosis von 500 mg Amygdalin abzustellen ist, die mit einer ganzen Kapsel eingenommen würde und die für den Anwender naturgemäß nicht teilbar ist. Wegen des Cyanid-Metabolismus (der körpereigenen Entgiftung infolge der Rhodanase-Aktivität) verbietet sich bei summarischer Prüfung hingegen - wie auch das Verwaltungsgericht ausgeführt hat - die von der Antragsgegnerin im Bescheid vom 22. Juni 2015 vorgenommene Kumulation der Tagesdosis von 3 x 500 mg = 1.500 mg = 1,5 g Amygdalin, denn zwischen den normalerweise vorgesehenen drei Einnahmen jeweils einer Kapsel am Tag liegen mehrere Stunden. Es kommt mithin auf die prognostizierbaren Folgen der Einnahme einer Einzeldosis von 500 mg Amygdalin an.

Aus den Ergebnissen der BfR-Humanstudie kann nach Ansicht des Senats für eine auf diese Dosis bezogene negative Prognose nichts gewonnen werden. Nachdem die Testperson Nr. 5 eine Masse von 387 mg reinen Amygdalins (= weniger als einen Kapselinhalt) eingenommen hatte, wurden bei ihr Blutcyanidwerte von maximal 29,2 µM gemessen, ohne dass körperliche Anzeichen einer Cyanid-Intoxikation beobachtet werden konnten. Darauf gestützt lässt sich bereits nicht verlässlich abschätzen, welche Cyanid-Konzentration bei 500 mg Amygdalin erreicht würde. Ebenfalls kann nicht vorhergesagt werden, welche körperlichen Reaktionen sich dann zeigten.

Die Antragsgegnerin geht in ihrer Äußerung im Klageverfahren vom 12. Oktober 2015 (Bl. 164 der GA Bd. I) zugunsten des Antragstellers von einer linearen (und nicht etwa einer quadratischen oder exponentiellen) Funktion aus und gelangt für diesen Fall zu einem hochgerechneten Blutcyanidhöchstwert von 37,7 µM. Auf der Basis der von dem European Centre for Ecotoxicology and Toxicology of Chemicals/Joint Assessment of Commodity Chemicals - ECETOC/JACC - (ECETOC/JACC Report No. 53, “Cyanides of Hydrogen, Sodium and Potassium, and Acetone Cyanohydrin“, 2007: Vol. I, S. 188-340, insbes. S. 294, Tabelle 55) veröffentlichten Tabellenwerte ordnet sie sodann - ebenso wie das BfArM in seiner Stellungnahme vom 12. Mai 2015 (Anlage K 6, S. 7, Beiakte 002) - dem hochgerechneten Wert von 37,7 µM das Stadium des Übergangs von einer „milden“ Cyanidvergiftung (mit veränderten Vitalparametern) zu einer „moderaten“ Vergiftung (mit Bewusstseinsveränderungen) zu und sagt erhebliche Intoxikationsreaktionen voraus. Diese Argumentation vermag aus den mit der Beschwerde vorgebrachten Gründen nicht zu überzeugen.

Erstens stellt die von der Antragsgegnerin zugrunde gelegte Scala der ECETOC - einer seit 1978 bestehenden, industriefinanzierten Plattform für die Zusammenarbeit weltweit tätiger Fachleute aus Industrie, Wissenschaft und Behörden, vgl. die im Internet unter http://www.ecetoc.org/about-ecetoc/overview/ abrufbaren Informationen - kein offizielles Tabellenwerk dar, sondern wirkt in ihrer Absolutheit gegriffen und wenig diversifiziert und differenziert. Die sog. ˮsafe dose“ ist umstritten; sie liegt nach Ansicht der Antragsgegnerin bei </= 20 μM; nach Auffassung des Antragstellers bei </= 40 μM. Zu der Frage, wann welche körperlichen Reaktionen bei einer bestimmten Cyanidkonzentration im Blut voraussichtlich eintreten, scheint - anders, als es die Antragsgegnerin glauben machen will - gerade keine Einigkeit in der Wissenschaft zu herrschen (so auch selbst das BfArM unter Punkt 3.5 seiner von der Antragsgegnerin im Klageverfahren eingereichten Stellungnahme vom 13. Oktober 2015, Bl. 181 der GA Bd. I).

Zweitens wird sogar in der BfR-Humanstudie auf S. 567, 569 und 572 berichtet, dass die betreffende Testperson Nr. 5 selbst bei höheren maximalen Blutcyanidwerten als dem hier für eine Kapsel Amygdalin hochgerechneten (nämlich bei 42,3 µM nach der Einnahme von 100 g Leinsamen) keine klinischen Symptome einer Cyanid-Vergiftung gezeigt habe. Aufgrund dieses - wenngleich aufgrund der Einnahme eines anderen cyanogenen Glykosids (Linamarin) - erreichten Wertes kann jedenfalls nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass ein auf Amygdalin zurückgehender Peak von 37,7 µM schädliche Körperreaktionen verursachen wird.

Nimmt man drittens hinzu, dass körperliche Intoxikationsreaktionen auch nach der erfolgten Einnahme von 387 mg Amygdalin ausgeblieben sind, kann aufgrund des Versuchsgeschehens mit einer Testperson nicht annähernd verlässlich vorhergesagt werden, dass und welche körperlichen Auswirkungen der Inhalt einer vollen Kapsel (500 mg) hervorrufen würde. Aus der Abwesenheit körperlicher Reaktionen bei einer geringeren Dosis kann nicht überzeugend auf deren Auftreten bei einer höheren Dosis geschlossen werden. Soweit das Verwaltungsgericht erwägt, die anfänglichen Symptome einer Cyanidvergiftung (Kopfschmerzen, Schwindel) seien unspezifisch und könnten von ohnehin durch Krankheit oder vorgängige Therapie geschwächten Patienten mit ähnlichen Beschwerden, die von ihrer Grunderkrankung herrührten, verwechselt werden, mag diese Überlegung zwar zutreffen. Sie ändert aber an der beschriebenen fehlenden realistischen, nicht nur theoretischen Voraussagemöglichkeit der Folgen eines Kapselinhalts auf der Basis der BfR-Humanstudie nichts.

Viertens zweifeln sowohl die Urheber der BfR-Humanstudie als auch das Verwaltungsgericht selbst an der Generalisierbarkeit der bei lediglich einer Testperson erzielten Studienergebnisse (z.B. wegen der genetisch bedingt oder krankheitsbedingt von Mensch zu Mensch unterschiedlichen Darmflora, S. 571) und geben zu bedenken, dass die Ausschläge im Hinblick auf die Cyanid-Höchstwerte bei zusätzlicher β-Glucosidase-Aufnahme höher ausfielen als bei der Einnahme reinen Amygdalins und bloßem endogenem β-Glucosidase-Vorkommen (S. 573). Ferner machen sie auf große Unterschiede zwischen den bei den einzelnen Teilnehmern der Studie beobachteten Messwerten aufmerksam und wollen im Übrigen dem Einfluss des körpereigenen Enzyms Rhodanase und dem damit einhergehenden Entgiftungsprozess im menschlichen Körper - der sich u.a. an den binnen drei Stunden absinkenden Blutcyanidwerten in Grafik 5 auf S. 569 nachvollziehen lässt - weitere nicht näher quantifizierte konzentrationsmindernde Bedeutung beimessen. Deshalb unterliegt auch die aus der Studie - für Lebensmittel, die cyanogene Glykoside und zugleich β-Glucosidase enthalten - gewonnene Cyanid-Referenzdosis von 0,075 mg/kg Körpergewicht in ihrer Übertragbarkeit auf Amygdalin erheblichen Bedenken, wie auch das Verwaltungsgericht einräumt.

Nach alledem bestehen aufgrund der BfR-Humanstudie bezüglich der Kapseln zu wenige Anhaltspunkte dafür, dass auf deren Einnahme bereits bei bestimmungsgemäßer Anwendung realistischerweise ernsthafte körperliche Reaktionen folgen, mögen diese auch nicht gänzlich ausgeschlossen sein.

(bbb) Für die Tropfen, die im Rahmen der BfR-Humanstudie nicht verwendet wurden, liegen zwar keine Beobachtungsergebnisse vor. Zu Recht weist die Beschwerde aber darauf hin, dass die Ergebnisse der - mit dem kristallinen Amygdalin des Antragstellers aus einer Kapsel - durchgeführten Studie gerade darauf hindeuten, dass bei bestimmungsgemäßer Anwendung der Tropfen (einer 5%-igen Lösung kristallinen Amygdalins) keine schädlichen Wirkungen zu befürchten sind.

Auszugehen ist auch insoweit aus den bereits genannten Gründen vom Schädlichkeitspotential einer Einzeldosis, d.h. von 20 Tropfen, die üblicherweise dreimal am Tag mit zeitlichem Abstand eingenommen werden. Diese Einzelmenge entspricht einem Volumen von 1 ml Lösung, welches bei einer Konzentration in Höhe von 5% je 100 ml (= 5 g) 50 mg Amygdalin enthält.

Zu dieser Dosis kann aus der BfR-Humanstudie nichts Schädliches, sondern allenfalls das Gegenteil abgeleitet werden. Die Studie gelangte bei der Testperson Nr. 5 für 120 mg reines Amygdalin 60 min nach der Einnahme zu einem Blutcyanid-Peak von 3,4 μM, der sich jedenfalls im unstreitigen Bereich der sog. safe dose (nach Ansicht der Antragsgegnerin von </= 20 μM; nach Auffassung des Antragstellers von </= 40 μM) bewegt (vgl. S. 571, Grafik 5 auf S. 569 und Tabelle 2 auf S. 568). Für eine Masse von 50 mg Amygdalin, die mit der üblichen Einzeldosis von 20 Tropfen aufgenommen wird, ergäbe sich, selbst wenn - nunmehr zuungunsten des Antragstellers - mit der Antragsgegnerin von einem linearen Verlauf ausgegangen würde, ein voraussichtlicher noch geringerer Blutcyanid-Peak von 50/120 x 3,4 µM = 1,417 µM. dieser Wert liegt ebenfalls eindeutig im safe-dose-Bereich und unterschreitet sogar deutlich die Cyanid-Konzentrationen, die sich bei dieser Person nach dem Genuss von 100 g reiner Persipanpaste einstellten (2,3 µM; vgl. Grafik 5 auf S. 569 und Tabelle 2 auf S. 568), deren Genuss vom BfR im Gefolge der Humanstudie durch Mitteilung Nr. 006/2015 vom 3. März 2015 weiterhin für unbedenklich erklärt worden ist.

(cc) Angesichts dieses Befundes kann der weitere Einwand der Beschwerde gegen eine Schädlichkeit dahinstehen, das im Darm gebildete Cyanid verbleibe dort in ungefährlicher Weise oder habe zumindest eine antibiotische Wirkung und zersetze daher nach und nach die dortigen β-Glucosidase-produzierenden Bakterien, so dass von diesen letztlich keine spaltende Wirkung mehr ausgehen könne.

(d) Soweit die Antragsgegnerin schließlich behauptet, der Antragsteller gebe das von ihm hergestellte Amygdalin nicht stets nach eingehender Beratung ab und beliefere auch Heilpraktiker und Patienten ohne Rezept mit Amygdalin, ist dem Senat nicht erklärlich, inwieweit dies eine neue Sachlage im Hinblick auf ein erhöhtes Schädlichkeitsrisiko der betreffenden Präparate begründen soll. In dem Urteil des 11. Senats des Nds. OVG vom 31. Mai 2007 (a.a.O., Rdnr. 108) werden die gegenteiligen Umstände ersichtlich im Rahmen der Ermessensausübung thematisiert; sie sind für die Erfüllung des Tatbestandes nicht von Belang.

Im Übrigen hat die Antragsgegnerin für eine Belieferung mit Amygdalin ohne Beratung durch den Antragsteller nur einen (streitig gebliebenen) Vorfall, nämlich die Abgabe zum Zweck der Teilnahme an der erwähnten BfR-Humanstudie benennen können, die ersichtlich außerhalb eines Behandlungskontextes erfolgte und bei der ausreichende Vorsichtsmaßnahmen bereits von den Urhebern der Studie getroffen wurden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es der Studienleiter Dr. med. J. war, der sich selbst die Amygdalin-Kapseln verschrieben hat, was nahelegt, dass er die Testperson Nr. 5 gewesen ist, die Amygdalin eingenommen hat (vgl. Bl. 202 ff, insbesondere Bl. 204 der Beiakte 001).

Die Zielrichtung des Vorwurfs, der Antragsteller gebe Amygdalin auch ohne Vorlage einer ärztlichen Verschreibung ab, ist nicht verständlich. Es handelt sich nach dem übereinstimmenden Vorbringen der Beteiligten nicht um ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel (§ 48 AMG), sondern lediglich um ein apothekenpflichtiges Arzneimittel (§ 43 AMG).

(2) Soweit die Antragsgegnerin auf Erfahrungen verweist, die nach dem 31. Mai 2007 mit anderweitigem, nicht vom Antragsteller hergestelltem Amygdalin oder einem damit verwandten Präparat gemacht worden sind, scheidet bei summarischer Prüfung eine Übertragbarkeit neuerer Erkenntnisse auf das konkrete Rezepturarzneimittel des Antragstellers mangels Vergleichbarkeit der Inhaltsstoffe oder - mit Blick auf den hier angelegten Maßstab der bestimmungsgemäßen Anwendung - mangels Repräsentativität der jeweiligen Konstellation aus. Die Antragsgegnerin vermag insoweit lediglich auf Reviews, Fallbeispiele und Studien zu verweisen, aus denen ebenfalls keine neuen Anhaltspunkte für eine Schädlichkeit des Amygdalins des Antragstellers bei bestimmungsgemäßer Anwendung hervorgehen.

(a) Bei der von der Antragsgegnerin in erster Linie in Bezug genommenen Veröffentlichung des BfArM vom 30. September 2014 von Lilienthal, „Amygdalin - fehlende Wirksamkeit und schädliche Nebenwirkungen“, BfArM-/PEI-Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 3/2014, S. 7 ff., mit der Amygdalin von dort als „bedenklich“ i.S.d. § 5 Abs. 2 AMG eingestuft wurde, handelt es sich um einen bloßen Review, d.h. um eine Zusammenstellung von wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Fallbeispielen, die zum größten Teil aus der Zeit bis zum 31. Mai 2007 stammen und daher insoweit nicht neu i.S.e. Änderung der Sachlage sind. Das gilt auch für die sog. Moertel-Studie von 1981/82, die in dem rechtskräftigen Urteil des 11. Senats des Nds. OVG vom 31. Mai 2007 (a.a.O. Rdnr. 88) als vom Sachverhalt (Reinheitsgrad) her nicht einschlägig gewürdigt worden ist. Soweit die Antragsgegnerin unter Bezugnahme auf Punkt 3.13 der ergänzenden Stellungnahme des BfArM vom 13. Oktober 2015 (Bl. 193 f. der GA Bd. I) eine „Neubewertung“ der Ergebnisse dieser Studie fordert, kann dies nicht als neue Erkenntnis (Tatsache) qualifiziert werden.

Nur drei der auf S. 11, Tabelle 2 des BfArM-Reviews aus September 2014 (a.a.O.) aufgeführten Fallbeispiele aus der Eudra-Vigilance-Datenbank stammen aus der Zeit ab 2008. Sie erweisen sich bei näherer Betrachtung als nicht repräsentativ. Dem Fall aus 2008 ist keine Dosis und Darreichungsform zu entnehmen; im Übrigen wird als Begleitmedikation eine Gabe hochdosierten Vitamins C (Ascorbinsäure) beschrieben. Wie die Dr. F. Sachverständigen-GmbH in ihrer Stellungnahme vom 28. August 2015 (Anlage K 8, S. 7, Beiakte 002) unter Verweis auf eine Veröffentlichung von Basu, ˮHigh-dose ascorbic acid decreases detoxification of cyanide derived from amygdalin (laetrile): studies in guinea pigs“, Can J Physiol Pharmacol. November 1983, 61(11): 1426-1430, ausgeführt hat, soll hochdosiertes Vitamin C den Cyanid-Metabolismus im Körper stören und damit zur Ausprägung höherer Blutcyanidkonzentrationen führen können. Dieser Behauptung ist das BfArM in Punkt 3.9 seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13. Oktober 2015 (Bl. 186 f. der GA Bd. I), auf welche die Antragsgegnerin im Klageverfahren Bezug genommen hat, nicht entgegengetreten. Damit spricht bei summarischer Prüfung einiges dafür, dass der Umstand einer solchen Vitaminbehandlung im Fall aus 2008 eine Kontraindikation für die Gabe von Amygdalin dargestellt hat. In dem Fallbeispiel aus 2009 ging es um eine intravenöse Gabe, nicht um die hier in Rede stehende (per)orale. Der Fallbericht aus 2011 beschreibt zwar die Einnahme von 0,5 g Amygdalin, was einem Kapselinhalt entsprechen würde. Angaben zur Qualität des eingesetzten Amygdalins werden jedoch nicht gemacht. Ferner wird die gleichzeitige Gabe eines (Rosuva-)Statins (Medikaments gegen Fettstoffwechselstörungen) unbekannter Dosis beschrieben, so dass die gezeigten - milden - Nebenwirkungen (verminderter Bewusstseinsstatus, flache Atmung) nicht eindeutig der Amygdalinbehandlung zugeordnet werden können.

(b) Soweit von der Antragsgegnerin und dem Verwaltungsgericht weitere wissenschaftliche Veröffentlichungen nach dem 31. Mai 2007 ins Feld geführt werden, haben diese keine neuen Erkenntnisse hervorgebracht, sondern verstehen sich ebenfalls als Zusammenfassung und Wiederholung des bisherigen Forschungsstandes.

Der von der Antragsgegnerin zitierte Cochrane-Review von Milazzo u.a., “Laetrile treatment for cancer“, Cochrane Database of Systematic Reviews 2015, Issue 4, Art. No. CD005476, bezieht sich zwar entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht nur auf Laetrile, sondern auch auf Amygdalin, zeitigt jedoch keine neuen Erkenntnisse, etwa auf der Basis von Studien; er beschränkt sich vielmehr darauf zu betonen, für eine Wirksamkeit dieser Wirkstoffe gegen Krebs gebe es keinen Beweis, und wegen des Risikos einer Cyanid-Vergiftung sei von ihrer Anwendung abzuraten (a.a.O., S. 5).

Der von Lilienthal/BfArM (a.a.O.) zitierte Kurzaufsatz von Ginter/Simko, “False claims about so called vitamin B 17“, vom 20. Januar 2013, Bratisl Lek Listy 2013: 114(4), S. 241, räumt ein, zu Vitamin B 17 (Amygdalin) als alternatives Krebsmedikament bislang keine Studien und Veröffentlichungen herausgebracht zu haben, und gibt im Ergebnis nur eine Kurzzusammenfassung älterer, vor dem 31. Mai 2007 erschienener Aufsätze anderer Autoren zu diesem Thema.

Die ebenfalls von Lilienthal/BfArM (a.a.O.) zitierte Veröffentlichung von Shim u.a., “Metabolites of amygdalin under simulated human digestive fluids“ aus Dezember 2010, Int J Food Sci Nutr. 2010; 61(8):770-779, vollzieht anhand eines in-vitro-Digestionsmodells die Phasen der Umwandlung von Amygdalin in seine Metaboliten (insbesondere Prunasin, Mandelonitril und Hydroxy-Mandelonitril) sowie deren Spaltung bzw. Zerfall in verschiedenen oberen Abschnitten eines (simulierten) menschlichen Magen-Darm-Trakts nach. Dabei habe sich erwiesen, dass bereits bestimmte im oberen Verdauungstrakt ausgeschüttete Verdauungsenzyme „wie“ β-Glucosidase wirkten und Amygdalin in Glucose und Prunasin hydrolysierten (a.a.O., S. 773). Aufgrund der im Versuch gemachten Beobachtungen wird von den Autoren vermutet, dass das aus letzterem Stoff nach weiterer Glucose-Abspaltung im Dünndarm schließlich gebildete Hydroxy-Mandelonitril zunächst ungespalten von der Dünndarmschleimhaut aufgenommen wird und eine weitere Spaltung bzw. ein Zerfall in Benzaldehyd und Cyanid erst in tieferen Darmabschnitten, bedingt durch Aktivitäten der Darmflora, auftreten kann (a.a.O., S. 776). Dies alles stellt, wie oben angesichts der Veröffentlichungen von Carter und Newton aus den 1980er Jahren (jeweils a.a.O.) bereits ausgeführt, keine wesentlich neue Erkenntnis dar; allenfalls ist hierbei die Vermutung zum Einfluss einer darmbakteriellen Aktivität etwas detaillierter oder deutlicher lokalisiert beschrieben worden.

(c) Schließlich erweist sich der von der Antragsgegnerin und vom Verwaltungsgericht für maßgeblich erachtete Fall der Cyanidvergiftung eines vierjährigen, an Krebs erkrankten Jungen, welcher in dem Artikel der AkdÄ „Cyanid-Intoxikation nach oraler Amygdalin-Behandlung“ vom 12. Dezember 2014 (Deutsches Ärzteblatt 2014, Heft 50, S. A 2240) beschrieben wird, nach Ansicht des Senats nicht als repräsentativ. Aus diesem Vorfall lassen sich keine neuen Erkenntnisse i.S.e. allgemeinen Schädlichkeit des vom Antragsteller hergestellten Amygdalins bei bestimmungsgemäßer Anwendung ableiten.

Der Junge hatte einmalig 500 mg eines Amygdalin-Präparates eingenommen und 15 min später die Symptome einer Cyanid-Intoxikation gezeigt, die nach Gabe des Antidots Natriumthiosulfat abklangen. Wie das BfArM für die Antragsgegnerin in Punkt 3.4 seiner Stellungnahme vom 13. Oktober 2015 (Bl. 179 der GA Bd. I) erläutert hat, handelte es sich bei dem angewendeten Präparat um Novodalin, das zu 99,5% Amygdalin enthält. Vieles spricht dafür, dass die beschriebene Behandlung nicht den bestimmungsgemäßen Gebrauch wiedergibt; denn dieser hätte zwingend erfordert, auf eine zusätzliche Gabe der (neben weiterem Amygdalin) auch das Spaltenzym β-Glucosidase enthaltenden bitteren Aprikosenkerne zu verzichten. Das entspricht den Erkenntnissen, die bereits der Sachverständige Prof. Dr. E. in seinem im Berufungsverfahren 11 LB 350/05 erstatteten Gutachten vom 31. Januar 2007 gewonnen und niedergelegt hatte. Zwar hatte das BfArM in seiner Stellungnahme vom 13. Oktober 2015 (a.a.O.) eine derartige Gleichzeitigkeit der Einnahmen noch bezweifelt. In ihrer Beschwerdeerwiderung vom 9. Februar 2016 (Bl. 407 f. der GA Bd. II) hat die Antragsgegnerin jedoch ausdrücklich eingeräumt, dass sie die Fallbeschreibung im Deutschen Ärzteblatt 2014 - wie der Senat - dahin deutet, dass der Junge während der Einnahme von Amygdalin (ab dem 5. Tag der Behandlung) weiterhin - wie an den ersten vier Tagen seiner Behandlung - täglich ca. zehn bittere Aprikosenkerne gekaut habe. Die gleichzeitige Gabe bitterer Aprikosenkerne unter oraler Einnahme von Amygdalin lässt die Behandlung bei summarischer Prüfung nach alledem als fehlerhaft erscheinen und erklärt die in dem Bericht wiedergegebene Symptomatik wie auch die Besserung nach Gabe von Natriumthiosulfat und Bindung des Cyanids in Thiocyanat ohne Weiteres. Für eine alleinige Behandlung mit reinem Amygdalin des Antragstellers folgt daraus nichts. Das weitere streitige Vorbringen der Beteiligten zu diesem Vorfall (etwa der Versuch des Antragstellers, die Symptome lediglich auf eine auch mitgeteilte bakterielle Infektion des Jungen zurückzuführen, und der dagegen erhobene Einwand der Antragsgegnerin, die Wirksamkeit des Antidots Natriumthiosulfat in dem betreffenden Fall lasse sich bei dieser Deutung nicht erklären) kann mangels Erheblichkeit dahinstehen.

Nach alledem ist eine entscheidungserhebliche Sachlagenänderung bezogen auf einen bestimmungsgemäßen Gebrauch zu verneinen.

c) Soweit aufgrund der geänderten Rechtslage nunmehr in die Nutzen-Risiko-Abwägung auf der Tatbestandsseite des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG auch darüber hinausgehende Risiken schädlicher Wirkungen bei bestimmten Fehlanwendungen einzubeziehen sind (vgl. oben 1.a)), fehlt diesem „überschießenden“ Tatbestand im vorliegenden Fall die Entscheidungserheblichkeit. Zu Recht rügt die Beschwerde, das Verwaltungsgericht habe nicht im Einzelnen nachvollziehbar begründet, inwieweit hier Fehlanwendungen, die den erweiterten Tatbestand ausfüllen könnten, konkret zu befürchten seien.

Im Falle von Rezeptur- bzw. Defekturarzneimitteln wie dem hier streitgegenständlichen kommt es nach Ansicht des Senats auf Anhaltspunkte für schädliche Wirkungen zeitigende Fehlanwendungen mit dem konkreten Präparat an. Wie bei einem bestimmungsgemäßen Gebrauch auch reichen bloße theoretische Vermutungen über Besorgnisse für einen begründeten Verdacht nicht aus. Nach diesem Wahrscheinlichkeitsmaßstab sind hier bereits zureichend konkrete Anhaltspunkte zu verneinen, so dass sich die Rechtsänderung bereits auf der Tatbestandsseite nicht auswirkt und daher ebenfalls nicht geeignet ist, die Rechtskraft des Urteils vom 31. Mai 2007 in zeitlicher Hinsicht zu durchbrechen.

aa) Das Verwaltungsgericht hat entgegen der Beschwerde offenbar nur gewisse „naheliegende“ bzw. „vorhersehbare“ Fehlanwendungen (Überdosierung und Fehlgebrauch) in den Blick genommen.

Unklar bleibt jedoch auch bei dieser Beschränkung, von welcher Dosis und welchen Folgen es im Hinblick auf eine Überdosierung ausgehen will (jeweils Tagesdosis, in einem Zug genommen; Inhalt einer ganzen Flasche Tropfen; 10 Kapseln auf einmal; kurzfristige Einnahme des Inhalts einer ganzen Packung mit 60 Kapseln?) und welche Anhaltspunkte belegen sollen, dass ein solches Szenario bei den Patienten des Antragstellers drohte. Hierzu macht auch die Antragsgegnerin keine Angaben.

Zu einem Fehlgebrauch erwähnt das Verwaltungsgericht zunächst das Beispiel einer Kombination der Amygdalin-Behandlung mit einem Kauen bitterer Aprikosenkerne und Bittermandeln und betont, dabei sei das Risiko einer schweren Cyanidvergiftung nicht auszuschließen. Schließlich hält es einen (auf Unkenntnis der Zusammenhänge beruhenden?) gleichzeitigen Genuss von Maniok und Leinsamen während einer Einnahme von Amygdalin für möglich. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass Patienten des Antragstellers in dieser Weise (ersichtlich gefährliche und nicht zielführende Kombination mit β-Glucosidase-haltigen Lebensmitteln) vorgegangen seien oder dies in Zukunft zu befürchten stehe, werden nicht dargebracht. Im Übrigen wirkt der Antragsteller einem Fehlgebrauch bereits aktiv entgegen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass er unter dem 16. November 2015 (Anlage K 22, Bl. 279 der GA Bd. II) eine eidesstattliche Versicherung des Inhalts abgegeben hat, er rate seinen Patienten bei der Abgabe des Amygdalins (jedenfalls) von einem Genuss von Aprikosen- und Bittermandelkernen während der Behandlung ab und erläutere dies in der Regel mit der wenig sinnvollen, möglicherweise gefährlichen Spaltwirkung β-Glucosidase-haltiger Stoffe. Anlass, an der Glaubhaftigkeit dieser Versicherung zu zweifeln, hat der Senat nicht. Die Antragsgegnerin geht in ihrer Beschwerdeerwiderung vom 9. Februar 2016 (Bl. 407 f. der GA Bd. II) - ebenso wie im Übrigen das BfArM in Punkt 3.8 seiner Stellungnahme vom 13. Oktober 2015 (Bl. 186 der GA Bd. I) - auch lediglich abstrakt davon aus, dass ein solcher Fehlgebrauch vorkommen könne, weil er noch „(weit) verbreitet“ sei; und bringt als Beleg das bereits eingehend gewürdigte Fallbeispiel des 4-jährigen intoxikierten Jungen an. Abgesehen davon, dass dieser nicht mit dem Amygdalin des Antragstellers, sondern mit Novodalin eines anderen Herstellers behandelt wurde, handelt es sich bei all diesen Überlegungen letztlich um nicht zureichende theoretisch abgeleitete Vermutungen über mögliche Besorgnisse, nicht um einen begründeten Verdacht, wie er von § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG aber selbst in der neuen, weiten Fassung nach wie vor vorausgesetzt wird.

bb) Inwieweit eine konkrete Gefahr des Missbrauchs von amygdalinhaltigen Kapseln oder Tropfen des Antragstellers bei dessen Patienten bestehen soll, wird - wie die Beschwerde zu Recht rügt - nicht begründet. Die Befürchtung, dass Patienten in suizidaler Absicht etwa mehrere Kapseln auf einmal zu sich nehmen, ist ebenfalls lediglich theoretisch-abstrakter Natur. Dass es im Hinblick auf Amygdalin-Präparate des Antragstellers zu Medikationsfehlern durch verschreibende Ärzte gekommen wäre oder absehbar kommen könne, wird weder von der Antragsgegnerin noch vom Verwaltungsgericht behauptet.

Nach alledem ist § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG (n.F.) tatbestandlich nicht erfüllt.

2. Selbst man jedoch mit dem Verwaltungsgericht den Tatbestand dieser Norm wegen einer rechtskraftdurchbrechenden entscheidungserheblichen Rechtsänderung im Hinblick auf ein unvertretbares Risiko schädlicher Wirkungen einer zu befürchtenden „vorhersehbaren“ Fehlanwendung (Überdosierung oder Fehlgebrauch) der oralen Amygdalin-Präparate des Antragstellers für verwirklicht hielte, stieße die im Einzelfall getroffene Untersagungsverfügung vom 22. Juni 2015 auf der Rechtsfolgenseite hier auf rechtliche Grenzen aus §§ 40 VwVfG, 1 Abs. 1 NVwVfG, 114 Satz 1 VwGO, wie die Beschwerde zu Recht rügt. Denn diese Verfügung müsste dann entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts jedenfalls als ermessensfehlerhaft qualifiziert werden.

a) Weil die Antragsgegnerin im streitgegenständlichen Bescheid derartige Szenarien selbst nicht erwogen hat, sondern lediglich von dem Bedenklichkeitsmaßstab des § 5 Abs. 2 AMG und damit von den Folgen eines bestimmungsgemäßen Gebrauchs ausgegangen ist und somit der ihrer Ermessensentscheidung vom 22. Juni 2015 zugrunde gelegte Sachverhalt unvollständig wäre, läge bereits die Annahme eines Ermessensfehlgebrauchs nahe. Ob sie diesen Fehler durch Nachschieben von Ermessenserwägungen im Klage-, Eil- oder Beschwerdeverfahren nach § 114 Satz 2 VwGO beseitigt hat, kann jedoch dahinstehen.

b) Denn ungeachtet dessen wäre in jedem Fall eine (konkrete) Ermessensüberschreitung in Gestalt einer Unverhältnismäßigkeit der durch Verfügung gesetzten Rechtsfolge (ein Ermessensübermaß) zu bejahen.

Dabei können die Angriffe der Beschwerde gegen die Geeignetheit eines Verkehrsverbots, die sich auf - streitig gebliebene - Äußerungen der Antragsgegnerin gegenüber Patienten des Antragstellers gründen, mit denen diese auf alternative Bezugsquellen minderer Qualität verwiesen habe, dahinstehen.

Denn die Untersagungsverfügung wäre jedenfalls nicht erforderlich. Gerade bei außerhalb des bestimmungsgemäßen Gebrauchs liegenden (unterstellt drohenden) Vorfällen wie der Überdosierung und dem Fehlgebrauch wäre aus Gründen der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall (vgl. bereits oben 1.a)) besonders zu prüfen, ob mildere, gleichwirksame Mittel als ein Verkehrsverbot des Arzneimittels zur Verfügung stehen. Als ein solches kommt hier entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin die Auferlegung von Etikettierungs-, Warn- oder sonstigen Informations- und Beratungspflichten in Betracht, um etwaig befürchteten Fehlanwendungen der genannten Art entgegenzuwirken (vgl. zu derartigen zusätzlichen Informationen gegenüber Ärzten und Verbrauchern Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht, Stand: 130. EL Juni 2015, AMG § 69 Rdnr. 31). Das gilt etwa für die bislang vermisste Angabe einer maximalen Einzeldosis oder einer Tageshöchstdosis, insbesondere aber auch für die Bedenken des Verwaltungsgerichts, neben Aprikosen- und Bittermandelkernen enthielten weitere Lebensmittel wie Maniok und Leinsamen β-Glucosidase, auf die sich die übliche Warnung des Antragstellers bislang nicht beziehe. Darauf gestützt könnte dem Antragsteller jedoch allenfalls (ggf. nach anderen arzneimittelrechtlichen Vorschriften, etwa § 69 Abs. 1 Satz 1 AMG) aufgegeben werden, bei der Abgabe von Amygdalin vom gleichzeitigen Genuss auch dieser weiteren Lebensmittel abzuraten; wobei offenbleiben kann, ob die zusätzlich zu gebenden Informationen angesichts der Regelungen in §§ 11, 11a AMG rechtlich bindend auch als Warnhinweise zum Gegenstand von Packungsbeilage und Fachinformation gemacht werden könnten (vgl. hierzu Kloesel/Cyran, a.a.O.). Eine Untersagungsverfügung ließe sich mit den beschriebenen, hier unterstellten Befürchtungen jedenfalls nicht rechtfertigen.

Der Stichhaltigkeit des mit der Beschwerde geltend gemachten Arguments, eine übergangsweise Versorgungsentscheidung nach § 69 Abs. 5 AMG stelle ebenfalls ein milderes Mittel zu einem Verkehrsverbot dar, muss der Senat mangels Erheblichkeit nicht mehr nachgehen. Desgleichen kann die mit der Beschwerde angegriffene Erwägung der Antragsgegnerin und des Verwaltungsgerichts dahinstehen, die verbliebene Verfügbarkeit von amygdalinhaltigen Präparaten zur parenteralen Anwendung stelle - auch unter Berücksichtigung einer niedrigeren Erhaltungsdosierung - eine angemessene Behandlungsalternative weiterhin sicher.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nr. 4 i.V.m. Nr. 25.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NordÖR 2014, 11 = NVwZ-Beilage 2013, 57). Danach wäre hinsichtlich des in Rede stehenden Verkehrsverbots im Hauptsacheverfahren der Jahresbetrag der erwarteten wirtschaftlichen Auswirkung zugrunde zu legen. Der Antragsteller hat die insoweit maßgebliche Gewinnerwartung mit 400.000 Euro angegeben. Dieser Wert ist gemäß Nr. 1.5 Satz 1des Streitwertkatalogs 2013 wegen der Vorläufigkeit der Regelung zu halbieren. Der Senat gibt seine langjährige Rechtsprechung, dass in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine Reduktion des Streitwerts für das Hauptsacheverfahren nicht in Betracht komme (vgl. zuletzt Beschl. v. 28. Juni 2016 - 13 OA 125/16 - und v. 11. Mai 2016 - 13 OA 95/16 -, jeweils S. 2 f. des Beschlussabdrucks), ausdrücklich auf.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).