Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 01.09.2000, Az.: 9 L 2619/00
Abschiebung; Abschiebungsschutz; Asyl; Asylantragsteller; Asylantragstellung; Asylbeantragung; Asylbewerber; Eltern; Gruppenverfolgung; Irak; Kind; Kollektivverfolgung; Kurde; Minderjähriger; Nachfluchtgrund; Nachfluchttatbestand; politische Verfolgung; Rückkehrgefährdung; Schutz; Sippenhaft; Verfolgung; Zentralirak
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 01.09.2000
- Aktenzeichen
- 9 L 2619/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 42003
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 22.06.2000 - AZ: 3 A 3427/99
Rechtsgrundlagen
- Art 16a Abs 1 GG
- § 51 Abs 1 AuslG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die hypothetische Annahme einer gemeinsamen Rückkehr von minderjährigen Kindern mit ihren - Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG genießenden - Eltern ist wirklichkeitsfremd und mit dem Erfordernis einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der Rückkehrsituation nicht vereinbar (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 21.9.1999 - 9 C 12.99 -, DVBl. 2000, 419 = BVerwGE 109, 305).
2. Trennungsbedingte mittelbare Gefahren sind als sog. inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse nicht im asylrechtlichen Verfahren vom Bundesamt, sondern von der Ausländerbehörde zu prüfen.
3. Allein wegen ihrer Asylantragstellung droht Minderjährigen aus dem Zentralirak auch nicht unter dem Blickwinkel der Sippenhaft politische Verfolgung.
Gründe
Die Klägerin zu 1. und ihre sieben minderjährigen Kinder, die zwischen 1987 und 1996 geborenen Kläger zu 2. bis 8., sind irakische Staatsangehörige kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit. Sie stammen aus einem Dorf in der Nähe von Faidah, das im Einflussbereich der irakischen Zentralregierung liegt. Der Familienvater und seine Ehefrau, die Klägerin zu 1., haben Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG erhalten.
Das Verwaltungsgericht hat auch den minderjährigen Kindern Abschiebungsschutz zuerkannt.
Auf den -- eingeschränkten -- Antrag des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hat der Senat hinsichtlich der Kläger zu 2. bis 8. die Berufung wegen Divergenz zu der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (u.a. zuletzt: Urteil vom 21.9.1999 -- 9 L 12.99 -- DVBl. 2000, 419 = BVerwGE 109, 305) zugelassen. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Kläger zu 2. bis 8. würden mit ihren Eltern in den Irak zurückkehren, sei wirklichkeitsfremd und stehe mit dem Erfordernis einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der Situation im -- hypothetischen -- Rückkehrfall nicht im Einklang. Den Eltern sei inzwischen rechtskräftig Abschiebungsschutz zugesprochen worden.
Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hat Erfolg.
Die Kläger zu 2. bis 8. können Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG nicht beanspruchen. Sie sind nicht als politisch Verfolgte aus dem Irak ausgereist. Individuelle Gründe für eine politische Verfolgung der nunmehr zwischen vier und dreizehn Jahre alten minderjährigen Kläger sind nicht vorgetragen worden und sind auch nicht den dem Senat vorliegenden Vorgängen zu entnehmen. Insbesondere ist weder näher dargetan noch ersichtlich, dass die Kläger zu 2. bis 8. wegen ihrer Religionszugehörigkeit in einem asylrechtlich relevanten Ausmaß benachteiligt worden sind. Sie sind vielmehr, nachdem bereits ihr Vater 1997 ausgereist ist, schlicht der Ausreise ihrer Mutter, der Klägerin zu 1., gefolgt. Diese hat sie "mitgenommen".
Im Rahmen des § 51 Abs. 1 AuslG erhebliche subjektive Nachfluchtgründe liegen für die Kläger zu 2. bis 8. ebenfalls nicht vor. Ihnen droht im Falle ihrer Rückkehr in den Irak insbesondere nicht deshalb politische Verfolgung seitens des irakischen Staates, weil sie durch ihre Mutter im Ausland um Asyl nachgesucht haben. Es ist auch bei aus dem Zentralirak stammenden Kindern nicht überwiegend wahrscheinlich, dass das irakische Regime diesen Umstand zum Anlass nehmen würde, sie einer schweren Bestrafung gemäß Art. 180 oder Art. 202 des Irakischen Strafgesetzbuches zu unterziehen oder in anderer asylerheblicher Weise in ihren Rechtsgütern zu beeinträchtigen. Da die Kläger zu 2. bis 8. bei der Stellung ihrer Asylanträge erst zwischen zwei und zwölf Jahre alt waren, spricht nach der derzeitigen Erkenntnislage nichts dafür, dass das irakische Regime bereits die Stellung der Asylanträge als eine eigenverantwortliche Willensäußerung der Kläger zu 2. bis 8. ansehen könnte (vgl. so die ständige Rechtsprechung des Senats sei Beschluss vom 28.7.1999 -- 9 L 505/99 --; ferner Beschlüsse vom 14.10.1999 -- 9 L 2840/99 -- und v. 19. 6. 2000 -- 9 L 4512/99 --). Das Deutsche Orient -- Institut hat in einem Gutachten vom 30. April 1999 zur Frage des Senats, ob die Gefahr einer politischen Verfolgung auch für einen im Zeitpunkt der Asylantragstellung noch Minderjährigen bestehe, dessen Antrag vom Vormund gestellt worden sei, ausgeführt:
"Allzu klar ist in diesem Falle, dass die Ausreise und der Asylantrag nicht auf dem eigenen Willen des Beigeladenen beruht, dass dieser vielmehr zunächst wohl dem väterlichen und schließlich dem Willen des bestellten Vormunds entspricht. In einem solchen Fall ist es aus unserer Sicht unrealistisch anzunehmen, dass der irakische Staat in der Asylbeantragung eine ernstzunehmende persönliche Willensäußerung des Beigeladenen sehen könnte. Wenn überhaupt, hätten möglicherweise die Verwandten im Irak, die den Jungen ins Ausland geschickt haben, irgendetwas zu befürchten."
Der sich auf ein eingeholtes Gutachten stützenden Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass den Klägern zu 2. bis 8. deswegen Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG zu gewähren sei, weil sie im Falle der Rückkehr in den Irak mit ihren Eltern mit politischer Verfolgung zu rechnen hätten, ist nicht zu folgen. Die für das Verwaltungsgericht maßgebliche Vorgabe, die Kläger zu 2. bis 8. würden "mit ihren Eltern" in den Irak zurückkehren, ist nicht haltbar. Sie steht im Widerspruch zu der Rechtsprechung des BVerwG, namentlich zu dem Urteil vom 21. September 1999 (-- 9 C 12.99 -- DVBl. 2000, 419 = InfAuslR 2000, 33 = NVwZ-Beilage 2000, 25 = BVerwGE 109, 305). Das BVerwG hat insoweit ausgeführt:
"Bei der dem Bundesamt obliegenden Entscheidung, ob der Abschiebung eines erfolglosen Asylbewerbers Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG entgegenstehen (§ 24 Abs. 2, § 31 Abs. 3 AsylVfG), hat das Bundesamt seiner Gefahrenprognose eine möglichst realitätsnahe, wenngleich notwendig hypothetische Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Insoweit gelten im Rahmen der Gefahrenprognose des § 53 AuslG die Grundsätze, die der erkennende Senat zur asylrechtlichen Verfolgungsprognose entwickelt hat (vgl. Urteil vom 8. September 1992 -- BVerwG 9 C 8.91 -- BVerwGE 90, 364 <367> (=InfAuslR, 1993, 28)), entsprechend. Das Berufungsgericht ist bei der auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) bezogenen Prüfung von der aus Rechtsgründen nicht zulässigen Hypothese ausgegangen, die Kläger würden zusammen mit ihren Eltern in den Iran zurückkehren. Einer solchen Annahme steht entgegen, daß den Eltern rechtskräftig Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt worden ist.
Zwar ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats, worauf sich auch das Berufungsgericht beruft, bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in den Heimatstaat drohen, regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr mit den Familienangehörigen auszugehen, falls er auch in der Bundesrepublik Deutschland mit ihnen als Familie zusammenlebt (Urteil des Senats vom 16. August 1993 -- BVerwG 9 C 7.93 -- Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 163 S. 389 <391 ff>; Urteil vom 8. September 1992 -- BVerwG 9 C 8.91 -- a.a.O., S. 368 ff. in Fortentwicklung des Urteils vom 6. März 1990 -- BVerwG 9 C 14.89 -- BVerwGE 85, 12). Nicht angenommen werden kann indessen eine gemeinsame Rückkehr mit Familienangehörigen, die -- anders als in den bisher entschiedenen Fällen -- aufgrund rechtskräftiger Feststellung zu § 51 Abs. 1 AuslG als politisch Verfolgte Abschiebungsschutz genießen. Es widerspräche dem damit zugleich verbindlich festgestellten Flüchtlingsstatus (§ 3, § 4 Satz 1 AsylVfG), auch bei einem solchen Sachverhalt die gemeinsame Rückkehr des erfolglosen Asylbewerbers mit seinen als politische Flüchtlinge anerkannten Angehörigen zu unterstellen. Dies wäre zudem wirklichkeitsfremd und stünde deshalb mit der Rechtsprechung zum Erfordernis einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der Situation im -- hypothetischen -- Rückkehrfall (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 1992, a.a.O., S. 369; Urteil vom 16. August 1993, a.a.O., S. 392) nicht in Einklang."
Mit diesen Ausführungen des BVerwG entfällt die vom Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegte -- hypothetische -- Fragestellung, mit welchen Gefahren die Kläger zu 2. bis 8. im Falle ihrer Rückkehr mit den Eltern in den Irak zu rechnen hätten. Diese Frage ist nicht im asylrechtlichen Bereich angesiedelt, sondern als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis (§ 55 Abs. 2 AuslG iVm Art. 6 GG -- vgl. dazu umfänglich die weiteren Ausführungen des BVerwG in seinem Urteil vom 21.9.1999, aaO.) von der Ausländerbehörde zu prüfen.
Den Klägern zu 2. bis 8. droht auch nicht wegen der Asylantragstellung und des Auslandsaufenthalts ihrer Eltern unter dem Blickwinkel der Sippenhaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung. Der Senat (vgl. z. B. Beschlüsse v. 12.1.2000 -- 9 L 4267/99 -- AuAS 2000, 91, v. 7. 3. 2000 -- 9 L 3919/99 -- und v. 19. Juni 2000 -- 9 L 4512/99 --) vertritt in inzwischen ebenfalls ständiger Rechtsprechung zur Sippenhaft die Ansicht, dass diese zwar in den Fällen einer hervorgehobenen oppositionellen Tätigkeit droht, nicht aber vom irakischen Staat auch schon allein wegen der Asylantragstellung oder des illegalen Auslandsaufenthalts eingesetzt wird, namentlich nicht gegen minderjährige Kinder. Diese Einschätzung deckt sich im Ergebnis mit der oben dargestellten Rechtsprechung des Senats zur asylrechtlichen Relevanz der Asylantragstellung von Minderjährigen. Hier liegen keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vor, von einer hervorgehobenen oppositionellen Tätigkeit der Eltern auszugehen. Die Klägerin zu 1. ist in diesem Sinne nicht politisch in Erscheinung getreten. Auch die Beihilfe des Vaters der Kläger zu 2. bis 8. zur Republikflucht eines Offiziers und seiner Familie kann nicht in die Kategorie einer hervorgehobenen Tätigkeit eingestuft werden.