Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 05.04.2000, Az.: 1 K 4846/98
Festsetzung eines Grundstücks ohne sorgfältige Bestandsaufnahme als private Grünfläche durch eine mehr als sieben Jahre nicht ausgeübte bauliche Nutzung; Festsetzung eines sich nach seiner Nutzungsstruktur von einem allgemeinen Wohngebiet nicht oder nur unwesentlich unterscheidenden Gebietes als besonderes Wohngebiet
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 05.04.2000
- Aktenzeichen
- 1 K 4846/98
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 32159
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2000:0405.1K4846.98.0A
Rechtsgrundlagen
- § 4 a BauNVO
- § 34 BauGB
- § 42 Abs. 3 BauGB
- § 28a NNatSchG
Fundstellen
- BauR 2000, 1445-1447 (Volltext mit amtl. LS)
- FStNds 2001, 83-84
- NuR 2000, 531-532
- RdL 2000, 167-168
- UPR 2001, 39
- ZfBR 2001, 54-55
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Eine mehr als 7 Jahre nicht ausgeübte bauliche Nutzung rechtfertigt es nicht, ein bisher bebaubares Grundstück ohne sorgfältige Bestandsaufnahme als private Grünfläche festzusetzen, weil es als "Trittsteinbiotop" zwischen zwei Landschaftsschutzgebieten dienen soll.
- 2.
Ein Gebiet, das sich nach seiner Nutzungsstruktur von einem allgemeinen Wohngebiet nicht oder nur unwesentlich unterscheidet, darf nicht als besonderes Wohngebiet festgesetzt werden.
- 3.
Gegen den Ausschluss aller sonstiger Nutzungen außer der Wohnnutzung in einem besonderen Wohngebiet bestehen durchgreifende Bedenken.
Gründe
Der Antragsteller, der Eigentümer des ca. 20 m x 35 m großen Flurstücks 1610/190 auf der Südseite der T.straße in O. ist, wandte sich gegen den Bebauungsplan M-390 D "H./R.", soweit er das Grundstück des Antragstellers als private Grünfläche festsetzt.
Wesentliches Ziel des Bebauungsplanes ist es, die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zur Veränderung im Gebiet mit privaten Dienstleistungen zu stoppen und dem Wohnen durch Einschränkungen der tertiären Nutzung den Vorrang zu geben. Der Bebauungsplan setzt die Grundstücke zwischen der T.straße und der Straße U. d. E. bis auf das Grundstück des Antragstellers als besonderes Wohngebiet (WB 3) mit zwei Vollgeschossen, einer GRZ von 0,3, einer GFZ von 0,6 und offener Bauweise fest; die bebaubaren Flächen sind zu den Straßen durch Baulinien und nach hinten durch Baugrenzen bestimmt. Im besonderen Wohngebiet WB 3 sind die gemäß § 4 a Abs. 2 Nr. 2 bis 5 BauNVO allgemein zulässigen Nutzungen sowie die Ausnahmen gemäß § 4 a Abs. 3 BauNVO nicht zulässig. Das Grundstück des Antragstellers ist als private Grünfläche festgesetzt. In der Begründung des Bebauungsplanes heißt es dazu unter Nr. 3.2.4:
Der Gehölzbestand auf dem Flurstück 1610/190 hat die Funktion eines Trittsteinbiotops zwischen den Landschaftsschutzgebieten E. H. und den D.
Nachdem die Antragsgegnerin dem Antragsteller unter Abweichung vom Bebauungsplan die Bebaubarkeit seines Grundstücks zugesagt hatte, haben die Beteiligten die Hauptsache für erledigt erklärt. Neben der deklaratorischen Einstellung des Verfahrens ist von Amts wegen über die Kosten des Verfahrens gemäß § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes sowie über den Streitwert durch Beschluss zu entscheiden.
Es entspricht der Billigkeit, der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, weil der Normenkontrollantrag voraussichtlich Erfolg gehabt hätte.
Die Antragsgegnerin hat bei der Abwägung die Belange des Antragstellers als Eigentümer nicht gebührend in Rechnung gestellt. Die Tatsache, dass konkrete Absichten einer baulichen Nutzung nicht erkennbar waren und sich die Natur auf dem Grundstück viele Jahre ungestört entwickelt hatte, rechtfertigt es nicht, die Belange des Eigentümers auszublenden. Ein Blick auf den Lageplan verdeutlicht, dass das Grundstück des Antragstellers vor der Beplanung Baulandqualität nach § 34 BauGB hatte. An der T.straße sind in dem Bereich des Bebauungsplanes neun Grundstücke bebaut und nur zwei mit einer Frontbreite von 17 bzw. 20 m unbebaut, ihre Eigenschaft als Baulücke nach § 34 BauGB ist offensichtlich. Da das Grundstück im Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses über den Bebauungsplan im Wesentlichen von Fichten bestanden war, hatte es auch nicht die Qualität eines Biotops nach § 28 a NNatSchG, so dass Bedenken gegen eine bauliche Nutzung insoweit ausscheiden. Die Entziehung der Baulandqualität kommt als massiver Eingriff in das Eigentum nur in Betracht, wenn gewichtige Belange des Gemeinwohls dies rechtfertigen. Die Tatsache, dass die bauliche Nutzbarkeit eines Grundstücks für längere Zeit nicht ausgenutzt worden ist, mindert die Eigentümerbelange nicht. Wird die zulässige Nutzung eines Grundstücks nach mehr als sieben Jahren ab Zulässigkeit durch einen Bebauungsplan aufgehoben oder geändert, reduziert sich die Entschädigung nach § 42 Abs. 3 BauGB auf Eingriffe in die ausgeübte Nutzung. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Schutzwürdigkeit des Eigentums in der Abwägung mindert. Wenn die Gemeinde einem Grundstück nach mehr als sieben Jahren nicht ausgeübter zulässiger baulicher Nutzung ohne weiteres die Baulandqualität entziehen könnte, würde der Eigentümer doppelt "bestraft": er könnte sich nicht gegen den Entzug der baulichen Nutzung wehren und würde nicht für die entzogene Baulandqualität entschädigt. Die Reduzierung der Entschädigung belegt gerade, dass das Eigentum und seine bauliche Nutzbarkeit bei der Abwägung mit dem ihm gebührenden Gewicht einzustellen ist. Das hat die Antragsgegnerin nicht getan.
Die naturschutzrechtlichen Belange, die die Antragsgegnerin für die Festsetzung als private Grünfläche ins Feld führt, rechtfertigen nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand die Entziehung der Baulandqualität nicht. Zwar mag es nicht ausgeschlossen sein, dass zur Vernetzung zweier Landschaftsschutzgebiete ein bislang unbebautes Grundstück als Trittsteinbiotop erforderlich sein kann. Das setzt dabei im Hinblick auf den massiven Eingriff in das private Eigentum in jedem Fall eine sorgfältige Bestandsaufnahme voraus, die auch die Untersuchung naheliegender Alternativen einschließt. Auch nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist offen geblieben, ob und inwieweit zur Vernetzung der nur 100 m weit auseinander liegenden Landschaftsschutzgebiete das Grundstück des Antragstellers als Trittsteinbiotop erforderlich ist. Das ist insbesondere deshalb zweifelhaft, weil die von der Antragsgegnerin genannten Fledermäuse in der Regel längere Strecken zwischen ihren Brut- und Jagdrevieren zurücklegen. Vor allem aber hat die Antragsgegnerin nicht geprüft, ob nicht eine Aufwertung der linearen Gehölzstrukturen auf dem Nachbargrundstück, einem 12 m breiten Wegegrundstück mit sehr eingeschränkter Verkehrsfunktion, die Vernetzung der Landschaftsschutzgebiete sicherstellen kann. Auf diese Frage sind die Vertreter der Naturschutzbehörde der Antragsgegnerin auch nach mehrfachen Nachfragen eine Antwort schuldig geblieben.
Nach dem gegenwärtigen Sachstand spricht alles dafür, dass die unzureichende Berücksichtigung der Baulandqualität auf der einen Seite und die Überbewertung naturschutzrechtlicher Belange auf der anderen Seite nicht nur einen Fehler im Abwägungsvorgang darstellt, sondern sich auch auf das Ergebnis auswirkt (§ 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB).
Der Bebauungsplan ist aber voraussichtlich auch deshalb unwirksam, weil die Festsetzung eines besonderen Wohngebietes mit der BauNVO unvereinbar ist. Die Festsetzung eines besonderen Wohngebietes (WB) setzt nach § 4 a Abs. 1 Satz 1 BauNVO ein überwiegend bebautes Gebiet voraus, dass auf Grund ausgeübter Wohnnutzung und vorhandener sonstiger in Abs. 2 genannter Anlagen eine besondere Eigenart aufweist und in dem unter Berücksichtigung dieser Eigenart die Wohnnutzung erhalten und fortentwickelt werden soll. Die Voraussetzung, dass das Gebiet eine besondere Eigenart aufweist, die durch eine Nutzungsmischung aus Wohnen und Anlagen im Sinne des § 4 a Abs. 2 BauNVO geprägt wird, ist nicht erfüllt, wenn die Wohnbebauung so dominiert, dass sich das Gebiet nach seiner Nutzungsstruktur von einem allgemeinen Wohngebiet nur unwesentlich unterscheidet (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.1.1992 - 4 B 228.91 -, Buchholz 406.12 § 4 a BauNVO Nr. 2). Die drei Häuser im Plangebiet südlich der Tirpitzstraße, die der Büronutzung bzw. freien Berufe dienen, verleihen dem Gebiet keine besondere Eigenart im Sinne des § 4 a Abs. 1 Satz 1 BauNVO. Gerade Büronutzung und Räume für freie Berufe weichen in ihrem städtebaulichen Gesicht nicht so deutlich von der Wohnnutzung ab, dass schon wenige Gebäude einem Gebiet eine besondere Eigenart verleihen. Auch wenn man über den Planbereich hinaus noch die nach Osten bis zur Lindenallee anschließende Bebauung einbezieht, die als "WA" im Nachbarbebauungsplan festgesetzt ist, ergibt sich nichts anderes. Eine Berücksichtigung des gesamten D. in diesem Zusammenhang würde weit über das "Baugebiet" hinausgreifen, das die städtebauliche Situation des Grundstücks des Antragstellers bestimmt.
Es kommt hinzu, dass die Festsetzung des WB 2 und WB 3 die Zweckbestimmung des besonderen Wohngebietes nicht wahrt. Anders als Gewerbe- und Industriegebiete nach § 1 Abs. 4 Satz 2 BauNVO können besondere Wohngebiete nur innerhalb des jeweiligen Baugebietes gegliedert werden. Das bedeutet, dass die allgemeine Zweckbestimmung nach § 4 a Abs. 1 Satz 2 BauNVO innerhalb des Baugebietes durch die Gliederung nicht verloren gehen darf. Auch wenn man die Grenzen des Baugebietes über das Plangebiet ausdehnt und das östlich angrenzende Gebiet bis zur Lindenallee mit einbezieht - nach Westen stellt die siebengeschossige Bebauung der EWE eine deutliche Zäsur dar, nach Süden und Norden schließen Landschaftsschutzgebiete an - spiegelt die Festsetzung WB 3 auch unter Berücksichtigung des angrenzenden allgemeinen Wohngebietes nicht annähernd die Bandbreite der Nutzungsmöglichkeiten nach § 4 a Abs. 2 und 3 BauNVO wider. Da das WB 3 jede andere Nutzung als das Wohnen stärker einschränkt als im reinen Wohngebiet, fehlt jede gewerbliche und "tertiäre Komponente", die für die Zweckbestimmung des besonderen Wohngebietes nach § 4 a Abs. 1 Satz 2 BauNVO bestimmend ist.
Schließlich bestehen aber auch durchgreifende Bedenken gegen den Ausschluss von Räumen für freie Berufe im WB 3. Mit dem Ausschluss der nach § 4 a Abs. 2 Nrn. 2 bis 5 BauNVO zulässigen und nach § 4 a Abs. 3 BauNVO ausnahmsweise zulässigen Nutzungen im WB 3 bleiben nur noch Wohngebäude nach § 4 a Abs. 2 Nr. 1 BauNVO zulässig. Mit dem weiteren Ausschluss von Räumen und Gebäuden für freie Berufe wird die Nutzung stärker eingeengt als im reinen Wohngebiet. Der Ausschluss von Nutzungen, die nach § 13 BauNVO zulässig sind, bedarf nach § 1 Abs. 5 BauNVO städtebaulicher Gründe. Allein das anerkennenswerte Bestreben, dem Wohnen dem Vorrang vor "tertiären Nutzungen" zu geben, rechtfertigt vor dem Hintergrund der durch § 3 BauNVO vorgezeichneten Nutzungsstruktur des reinen Wohngebietes nicht, andere Nutzungen als das Wohnen im besonderen Wohngebiet noch weitgehender auszuschließen als im reinen Wohngebiet. Mit dem Ausschluss von Räumen für freie Berufe wird nicht einem Vorrang des Wohnens das Wort geredet, sondern dem völligen Ausschluss jeglicher "Nicht-Wohnnutzung". Damit wird der Zweck des besonderen Wohngebietes einer "besonderen" Mischung anderer Nutzungen mit dem vorrangigen Wohnen verfehlt. Darüber hinaus spricht aber auch § 1 Abs. 5 BauNVO gegen eine stärkere Einschränkung der Nutzung als im WR, weil § 1 Abs. 5 BauNVO einen Ausschluss oder eine Einschränkung von Nutzungen gerade nicht im reinen Wohngebiet gestattet. Schließlich verfehlt der Ausschluss von Räumen für freie Berufe aber auch die Zweckbestimmung des Baugebietes, weil sich das WB 3 von der Zweckbestimmung des § 4 a Abs. 1 Satz 2 BauNVO durch diesen Ausschluss noch weiter entfernt als durch die Gliederung.